Kindertransport in die Kinderkur

von Gudrun Silberzahn-Jandt

Die Reisen in die verschiedenen Kinderkur- oder Kindererholungsheime waren für die Kinder körperlich und psychisch sehr anstrengend, denn die Abfahrt bedeutete die Abwesenheit von zuhause für lange Zeit. Meist fand die Fahrt mit der Bahn statt, für Kinder aus Berlin aber mit Reisebussen und dauerte oft mehr als 12 Stunden. Es bedeutete häufig auch eine Nachtfahrt mit wenig Komfort. Viele Forschungsfragen sind dazu (Stand Oktober 2023) noch offen: Wie funktionierte das Zusammenspiel zwischen der Deutschen Bahn und den bis 1964 dezentral in den Bundesländern tätigen Kinderfahrtmeldestellen? Wie wurden Fahrpläne und Preise für die Sonderzüge verhandelt? Wie erfolgte die Zusammenarbeit mit den Entsendestellen vor Ort wie den Krankenkassen, Sozialämtern, Firmen sowie kirchlichen und anderen gemeinnützigen Organisationen?

Die Reise der Kinder begann bereits zuhause mit den Vorbereitungen des Packens, dem vorschriftsmäßigen Beschriften aller Kleidungsstücke und der Aufgabe des Koffers einige Tage vor dem Beginn der Kurmaßnahme. Für die Fahrt sollte ein Rucksack benutzt werden. Darin sollte außer dem Proviant noch ein Schlafanzug und etwas Waschzeug mitgegeben werden[1], falls das große Gepäck verspätet eintrifft oder es zum Auspacken zu spät ist. Wenn von dem Heim erlaubt, teilweise sogar ausdrücklich gewünscht, durfte hier auch die Lieblingspuppe oder das Kuscheltier dabei sein.

Für die Begleitung der Kinder wurde entweder Betreuungspersonal eingesetzt, das ausschließlich die Aufgabe hatte, Kinder sicher zu den Einrichtungen zu bringen und von dort wieder abzuholen. Oder – und dies war seltener – nahmen diejenigen die Aufgabe wahr, die als Gruppenleitungen die Verantwortung auch für den Kuraufenthalt an sich hatten. Die Entsendestellen waren verantwortlich für die Auswahl und Qualifizierung dieser Betreuungspersonen. Die Betreuerinnen und Betreuer hatten Armbinden zu tragen mit dem Stempel der Entsendestellen. Bei Nachtfahrten mussten sie Nachtwachen halten, stets jedes Kind zur Toilette begleiten, nie Kinder Fenster öffnen oder schließen lassen, auch nicht Gepäck selber aus der Ablage holen lassen. Als Grundsatz war in einem Merkblatt formuliert: „Vergeßt nie, daß Kinder unberechenbar sind!“[2] Details zum Ablauf erhielten die Eltern vorab in Elternbriefen und zusätzlich bei kurz zuvor stattfindenden Informationsveranstaltungen. Für eine Stuttgarter Gruppe von Kindern, die zu einer Kur nach Langeoog reisen sollte, sah der geplante, in dem Informationsblatt für die Eltern festgehaltene Ablauf folgendermaßen aus: Dienstag, den 5. August 1958 abends: „Die Kinder treffen sich um 19:45 Uhr in der großen Halle des Stuttgarter Hauptbahnhofs vor dem Eingang zu Gleis 11 am Ausstellungsstand der Firma Uhren-Kienzle. Dort steht ein Bube mit einem Schild und Aufschrift: Paulusgemeinde Langeoog, die Kinder werden hier von ihren Helferinnen und Helfern übernommen. Die Ankunft in Bremen erfolgt um 8:01 Uhr. Von dort geht es mit einem Omnibus nach Bensersiel und dann mit dem Schiff weiter nach Langeoog. Die Kinder sind gegen 15 Uhr am Ziel, also 19 Stunden unterwegs. Dementsprechend bitten wir sie mit der Reiseverpflegung und Getränken zu versehen. In Bremen wird morgens ein Frühstück gereicht.“ [3]

Bei den Zügen handelte es sich auf der Hauptstrecke meist um Sonderzüge, die auch Einstiege an anderen Orten ermöglichten. Es waren aber weder Schlaf- noch Liegewagen, sondern - wenn möglich - seit Mitte der 60er-Jahre lediglich Wagen mit ausziehbaren Sitzen. Meist nahmen die Kinder und Jugendliche diese eher unkomfortable und anstrengende Art des Reisens ohne Murren hin. Nur selten sind Beschwerden und Vorfälle wie der im September 1964 belegt: Bei der Rückfahrt am Bahnhof in St. Peter Ording verweigerten die Transportbegleiter und Jugendlichen zunächst den Einstieg, als sie wahrnahmen, dass es sich um einfache Wagen für die Nachtfahrt handelte. Nach einer kurzen Diskussion ließen sie sich überzeugen, fuhren mit, aber machten in Sprechchören wie „Viehtransport“ und Plakaten mit der Aufschrift „Kinder sind keine Kühe – Sind wir Tiere – Viehtransport“ auf die miserablen Bedingungen für die anstehende 15-stündige Fahrt aufmerksam. Zudem informierten die Hausleitungen die Bildzeitung, die am Hauptbahnhof Hamburg, wo weitere 111 Kinder zusteigen sollten, mit einem Reporter wartete. Es schritt dann die Bahnpolizei ein und sorgte für Ruhe. Die Transportbegleiter wurden für das Geschehen verantwortlich gemacht und mussten sich bei der Bahn entschuldigen.[4] Hinweise für Verbesserungen bei den langen Zugfahrten lassen sich jedoch trotz dieses Vorfalls nicht finden.

Für Kinder aus Berlin wurde in der Regel eine Fahrt mit dem Bus organisiert, die aber ebenso anstrengend war und viel Disziplin erforderte. So war ein Toilettengang nur an Raststätten möglich, und ein Umhergehen war untersagt. Bei einem möglicherweise schon bei den Fahrten aufkommendem ersten Anflug von Heimweh fühlten sich viele Kinder schon an diesem Punkt der Kur alleingelassen.

Zur Autorin: Dr. rer. soc. Gudrun Silberzahn-Jandt ist Referentin beim Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V. und freiberufliche Kulturwissenschaftlerin. Hier mit Forschungsschwerpunkten zu den Verbrechen der „Euthanasiemorde“ während der Zeit des Nationalsozialismus und dem Alltag von Heim- und Verschickungskindern.

Anmerkungen

[1] Altregistratur Diakonisches Werk Württemberg DWW 21 2.1.4.

[2] Altregistratur Diakonisches Werk Württemberg DWW 15 2.1.4.

[3] Landeskirchliches Archiv Stuttgart L1 2070, Brief an die Eltern.

[4] Landeskirchliches Archiv Stuttgart L1 2070.

Literatur

  • Schmuhl, Hans-Walter, Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Hamburg 2023.

Zitierhinweis: Gudrun Silberzahn-Jandt, Kindertransport in die Kinderkur, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.