Die Recherchen
von Nora Wohlfarth
Stand März 2022, also kurz vor Ende des Projekts, wurden Recherchen für insgesamt 188 Personen durchgeführt. 129 dieser Anfragen haben uns über die baden-württembergische Anlaufstelle der Stiftung Anerkennung und Hilfe erreicht. 15 weitere kamen von der Anlaufstelle in Hessen, von denen auch – bis auf eine Ausnahme – alle elf Anfragen kamen, die uns bereits vor Projektbeginn am 1.1.2019 erreichten.
Der Ablauf der Recherchen
Bei der Durchführung der Recherchen hat die Projektstelle eng mit der baden-württembergischen Anlaufstelle der Stiftung zusammengearbeitet. Die Betroffenen haben sich, wie man an der Verteilung der Herkunft der Anfragenden sieht, in aller Regel zuerst dorthin gewendet. Nur 25 Personen haben direkt mit uns Kontakt aufgenommen, weitere knapp 20 haben unser Angebot mit Unterstützung von Angehörigen, gesetzlicher Betreuerinnen oder Betreuer sowie mit Hilfe anderer Beratungsstellen in Anspruch genommen.
Die Anlaufstelle hat uns die für die Recherche notwendigen Informationen sowie eine Recherchevollmacht mit Namen, Geburtsdatum und -namen, Wohnort vor der Unterbringung sowie eine Einverständniserklärung zur Datenverarbeitung der jeweiligen Betroffenen übermittelt. Übermittelt wurden von der Anlaufstelle außerdem – soweit vorhanden – Informationen über die Einrichtungen, in denen die Person untergebracht war, der Zeitraum und eventuelle weitere Recherchewünsche. Interesse an einer zusätzlichen Recherche nach Akten hatten 59 Personen, in 33 dieser Fälle konnten wir eine Akte ermitteln. In den meisten Fällen handelte es sich um Akten aus den jeweiligen Einrichtungen. Mehr zu den Arten der Akten finden Sie in dem Text über die archivischen Aspekte des Projekts.
Wir haben in all den Fällen die Recherche übernommen, bei denen die Antrags-stellerinnen und Antragsstellern mit ihrer Anmeldung in der Anlauf¬stelle noch keine nicht bereits Nachweise vorlegen konnten und/oder bei denen diese eine Recherche nach Akten wünschten. Die Anlaufstelle hat nach aktuellem Stand 1679 Anfragen [1] bekommen, damit gingen knapp 11% der Anfragen für die Recherche an das Landesarchiv.
Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen, für die wir recherchiert haben, hat Mittel der Stiftung Anerkennung und Hilfe beantragt. Wie auch der Fonds Heimerziehung hat die Stiftung an Betroffene, die in Einrichtungen der Jugendhilfe (Fonds Heimerziehung) und der Behindertenhilfe (Stiftung Anerkennung und Hilfe) Leid erfahren, eine finanzielle Anerkennungsleistung gezahlt. In 140 Fällen konnten wir die dafür notwendigen Nachweise recherchieren. In einigen der übrigen Fälle konnten die Recherchen zum Zeitpunkt der Abfrage von der Anlaufstelle noch nicht bearbeitet werden oder sie liegen aktuell der Geschäftsstelle der Stiftung zur Prüfung vor. Manchmal konnte trotz unserer Recherchen keine Stiftungsleistungen gezahlt werden. Vorausgegangen waren dann manchmal erfolglose Recherchen, die den Aufenthalt in einer Einrichtung nicht nachweisen konnten oder auch erfolgreiche Recherchen, die aber Nachweise für Einrichtungen erbrachten, die nicht stiftungsrelevant sind, zum Beispiel Einrichtungen der Jugendhilfe. In wiederum anderen Fällen waren die Betroffenen zu einem Zeitraum in der Einrichtung, der außerhalb des Auftrags der Stiftung lag, also nach 1975 in der BRD und nach 1990 in der ehemaligen DDR. In diesen Fällen konnten die betroffenen Person jedoch in einigen Fällen durch Glaubhaftmachung Stiftungsleisten erhalten.
Die Recherchen waren von sehr unterschiedlicher Komplexität. In einigen Fällen war der Nachweis durch Meldedaten aus dem zuständigen Archiv oder Meldeamt zu erbringen oder beispielsweise durch einen Aktenauszug, wie beispielsweise aus den im Generallandesarchiv archivierten Schülerakten der ehemaligen „Taubstummenanstalt Neckargemünd.“ In anderen Fällen waren die Recherchen erheblich umfangreicher, wenn beispielsweise der Ort (oder die Orte) der Unterbringung und der Name der Einrichtung(en) nicht bekannt war. Aufgrund von Erinnerungslücken, die nicht zuletzt auch eine Folge der Traumatisierung in den Einrichtungen sein können, war manchmal regelrecht Detektivarbeit zu leisten. Die Kommunikation verlief teilweise über die Anlaufstelle, teilweise über Personen, die die Betroffenen bei der Antragsstellung unterstützten und nur selten mit den Betroffenen selbst. Auch dies konnte die Recherchen verlängern.
Eine besondere Herausforderung stellten die Recherchen in der ehemaligen DDR dar. Zum einen unterscheiden sich Behördenstruktur und Einweisungspraxis und damit auch die Überlieferungslage von Baden-Württemberg bzw. BRD, zum anderen kamen zu der üblichen Recherche auch Fragen zu möglichen Stasi-Zusammenhängen hinzu. Letztere konnten im Rahmen des Dokumentationsprojekts Zwangsunterbringung nicht bearbeitet werden.
Anders als im Projekt Heimerziehung standen die Einrichtungen bei der Nachweiserbringung in diesem Projekt mehr im Fokus. Während die Inanspruchnahme von Mitteln aus dem Fonds Heimerziehung entscheidend davon abhing, ob die Einweisung im Rahmen der Jugendhilfe erfolgte, ist für die Antragstellung bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe zentral, ob es sich bei der Einrichtung damals um eine Einrichtung der Behindertenhilfe handelte. Viele Einrichtungen waren damals allerdings nicht wie heute eindeutig der Behindertenhilfe oder der Jugendhilfe zuzuordnen, so dass die Nachweiserbringung manchmal mit der Frage zusammenhing, ob im gleichen Zeitraum weitere Kinder mit Behinderung untergebracht waren. Diese Recherchen waren sehr zeitaufwändig.
Die Zahl der Recherchen
Die Entwicklung der Anfragen war in ihrer Menge mit dem Projekt Heimerziehung nicht zu vergleichen. Die Anzahl der bei uns eingehenden Neuanfragen bewegte sich pro Monat bis auf wenige Ausnahmen im einstelligen Bereich. Ausnahmen gab es zum Beginn des Projekts im Frühjahr 2019 sowie kurz vor Ende des Zeitraums, in dem sich Betroffene bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe melden konnten, im Sommer 2021. Die beiden Mitarbeiterinnen der Projektstelle haben in der Regel etwa 5 bis 15 Anfragen parallel bearbeitet.
Zugleich erreichten uns weiterhin Anfragen ehemaliger HeimkinderSeit Beginn des Dokumentationsprojekts im Januar 2019 haben sich 105 ehemalige Heimkinder beim Landesarchiv gemeldet und um eine Recherche gebeten, von diesen Recherchen sind 93 zum aktuellen Zeitpunkt abgeschlossen, in 41 dieser Fälle konnten Akten ermittelt werden.
Das Projekt Heimerziehung ist in vielerlei Hinsicht eine wichtige Blaupause für das Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung gewesen und seine Ergebnisse und Erfahrungen sind auch notwendig, um die Recherchen des Nachfolgeprojekts einzuordnen: Denn im Rahmen des Projekts Heimerziehung wurden mindestens 115 Recherchen für Menschen durchgeführt, die in stiftungsrelevanten Einrichtungen waren, die also Mittel aus der Stiftung Anerkennung und Hilfe bekommen hätten. Von diesen haben 85 Personen Leistungen aus dem Fonds Heimerziehung erhalten. [2] Diese Personen konnten daraufhin keine Leistungen mehr aus der Stiftung Anerkennung und Hilfe in Anspruch nehmen und haben sich dementsprechend nicht gemeldet. Wie viele von denjenigen, die keine Leistungen aus dem Fonds Heimerziehung erhalten haben, sich bei der Stiftung gemeldet haben, ist uns nicht bekannt. Das ist für die Bewertung der Anmeldezahlen bei der Stiftung durchaus wichtig, da sich deutlich weniger Menschen als erwartet bei der Stiftung und damit auch bei uns, gemeldet haben. Eine Machbarkeitsstudie hatte abgeschätzt, dass knapp 100.000 Personen in BRD und DDR für eine Anmeldung bei einem noch einzurichtenden Hilfesystem in Frage kämen. [3] Damit sind die unter 2000 Meldungen für Baden-Württemberg recht wenig.
Die vergleichsweise geringe Zahl der Meldungen – direkt bei der Anlaufstelle und auch beim Landesarchiv – dürfte allerdings noch weitere Gründe haben. Diejenigen Betroffenen, die in stiftungsrelevanten Einrichtungen waren, sind entweder Menschen mit Behinderung oder Menschen, denen eine Behinderung zugeschrieben wurde. Sie haben also im ersten Fall noch heute häufig Unterstützungsbedarf im Alltag, zum Beispiel bei Anträgen. Im zweiten Fall haben sie in der Regel bereits als Kind erfahren müssen, dass sie in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft leben. Wir wissen, dass auch für ehemalige Heimkinder der Heimaufenthalt oft schambehaftet war, dies dürfte also für eine Kindheit in einer „Anstalt“ umso mehr der Fall. Dasselbe gilt für Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. Selbst wenn Betroffene heute nicht durch psychische Krankheiten von der Antragsstellung abgehalten werden, sind psychische Krankheiten und Klinikaufenthalte bis heute – wenn auch weniger als damals – stigmatisiert.
So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass sich nicht mehr Menschen beim Landesarchiv meldeten. In den drei Jahren gab es 32 direkte Kontakte zu den Betroffenen bei den Recherchen. Prozentual deutlich mehr als im Projekt Heimerziehung, wo allerdings eine höhere Quote der Anfragen bei der Anlaufstelle an uns weitergeleitet wurde. [4]
Rückschlüsse aus den Recherchen
Bei der Dokumentation der Recherchen wurden auch einige Angaben über die Personen selber erfasst, sofern sie uns vorliegen. Von den Anfragenden waren 98 Männer und 90 Frauen. Von 140 der Personen ist uns bekannt, was die damalige Diagnose, bzw. die Zuschreibung war. In vielen Fällen wissen wir das nicht und in vielen Fällen sind die zeitgenössischen Zuschreibungen auch mit Vorsicht zu genießen.
Eine Gruppe von Menschen war bei unseren Recherchen deutlich überrepräsentiert: Die Gehörlosen. Von den 188 Menschen, für die wir recherchiert haben, waren 109 gehörlos oder schwerhörig, 13 hatten eine geistige Behinderung, zwei Personen eine körperliche Behinderung, zehn eine psychische Erkrankung und zwei eine Sehbehinderung. Bei den übrigen ist uns keine Diagnose oder Zuschreibung bekannt. Mit Blick auf die Frage nach der Stigmatisierung scheint die große Zahl der Meldungen von Gehörlosen dafür zu sprechen, dass der Aufenthalt in einem Internat einer Gehörlosenschule weniger schambehaftet war als ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik oder Einrichtung der Behindertenhilfe.
Die Länge der Heimaufenthalte ging von wenigen Wochen bis hin zu vielen Jahren und sogar Jahrzehnten. Denn viele Betroffene sind auch nach dem 18. Lebensjahr in Einrichtungen geblieben oder mussten bleiben und manche leben bis heute in den Einrichtungen, in denen sie schon als Kinder untergebracht waren.
Anmerkungen
[1] Auskunft der Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung Anerkennung und Hilfe Baden-Württemberg. Stand März 2022.
[2] Die Zahl ist deshalb nicht ganz genau, da es bei Fällen Einrichtungen nicht ganz klar ist, ob es sich damals im Sinne der Stiftung Anerkennung und Hilfe um eine Einrichtung der Behindertenhilfe handelte. Diese Frage spielte in der damaligen Recherche keine Rolle, daher sind nur diejenigen Einrichtungen mitgezählt, von denen bekannt ist, dass sie stiftungsrelevant wären. Die Zahl der Betroffenen, für die das gilt, ist für ganz Baden-Württemberg höher, dies sind nur diejenigen, für die das Landesarchiv recherchiert hat.
[3] Jungmann 2016. Die Machbarkeitsstudie kam auf 97.000 Personen, aufgrund einer Schätzung der Anzahl der Einrichtungen, der dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen, der dortigen Versorgungs- und Lebenssituation und der Anzahl derjenigen, die in den Einrichtungen Leid und Unrecht erfahren haben.
[4] Zum Abschluss des Projekts Heimerziehung Ende 2018 hatten sich 13% (228) der insgesamt fast 1800 Betroffenen direkt bei der Projektstelle gemeldet. Seitdem erreichen uns immer noch viele dieser Anfragen. Pilz 2018, S. 9.
Literatur
- Jungmann, J.,Ermittlung der Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die in den Jahren 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland sowie in den Jahren 1949 bis 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe bzw. Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben: Machbarkeitsstudie. (Forschungsbericht / Bundesministerium für Arbeit und Soziales, FB466). Berlin 2016, URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-46998-8 (aufgerufen am 16.11.2022).
- Pilz, Nastasja, Das Projekt Heimerziehung in der Rückschau – Einordnung und Bilanz, in: Aufarbeiten im Archiv. Beiträge zur Heimerziehung in der baden-württembergischen Nachkriegszeit, hg. von Christian Keitel, Nastasja Pilz und Nora Wohlfarth, Stuttgart 2018, S. 6 – 27.
Zitierhinweis: Nora Wohlfarth, Die Recherchen, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 16.11.2022