Die rechtliche Situation von Jugendlichen mit Behinderungen und geistigen Krankheiten: Einleitung und Fragestellung

von Christoph Beckmann

Ausschnitt aus dem Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961, §78 [Quelle: Bundesgesetzblatt online s. Bildnachweis]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Ausschnitt aus dem Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961, §78 [Quelle: Bundesgesetzblatt online s. Bildnachweis]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Jugendliche mit Behinderungen bilden die Schnittmenge zweier größeren Gruppen, deren rechtliche Situation in unterschiedlichen Gesetzen geregelt wird. Sie sind auf der einen Seite Menschen mit Behinderungen und auf der anderen Seite Jugendliche. Für beide Gruppen gibt und gab es Gesetze, die den staatlichen Umgang mit dieser Gruppe regeln und diverse Formen von Maßnahmen, Förderungen und Unterbringungen vorsehen. Doch keines der entsprechenden Gesetze wurde primär für Jugendliche mit Behinderungen geschrieben. Sie fallen unter die verschiedenen Gesetze, wegen einer Eigenschaft, die nur einen Teilaspekt ihrer besonderen Situation als Jugendliche mit Behinderungen beschreibt.

Es stellt sich die Frage, ob diese spezielle Gruppe in diesen Gesetzen überhaupt berücksichtigt wurde und inwiefern diese Gesetze auf die besondere Situation von Jugendlichen mit Behinderungen eingehen. Welche Bestimmungen finden sich in den Gesetzen der Behindertenhilfe für Jugendliche? Welche Passagen des Jugendwohlfahrtsgesetzes beschäftigen sich mit der besonderen Situation von Jugendlichen mit Behinderungen? Finden sich überhaupt entsprechende Bestimmungen oder wird auf diese besondere Gruppe gar nicht eingegangen? Ist sie, so könnte man überspitzt sagen, rechtlich überhaupt nicht vorgesehen? Diese Fragen sind besonders wichtig, da den beiden rechtlichen Sphären eine unterschiedliche Betrachtungsweise auf die in ihnen behandelten Menschen inhärent ist.

Die klassischen Gesetze der Behindertenhilfe betrachten sie nach ihrer Behinderung. Sie ist der qualifizierende Faktor, durch die sie überhaupt unter die Gesetze fallen und bestimmt daher auch den Umgang mit ihnen. Anders gesagt: Wer keine Behinderung hat, ist nicht (primär) Gegenstand dieser Gesetze und welche Behinderung vorliegt bestimmt, welche Teile des Gesetzes Anwendung finden. Aspekte wie medizinische Behandlung, Unterstützung im Alltag und Integration in die Gesellschaft entspringen diesem Ansatz.

Die Gesetze der Jugendhilfe, primär das Jugendwohlfahrtsgesetz, betrachten sie in erster Linie als Jugendliche, als Minderjährige. Erst durch diese Eigenschaft können sie überhaupt unter das Gesetz fallen. Auch dies bestimmt wieder den rechtlichen und auf diesem Recht aufbauenden praktischen Umgang mit ihnen. Als deutlicher Unterschied zu den Gesetzen der Behindertenhilfe steht bei diesen Gesetzen das Ziel der Erziehung im Vordergrund, ein Ziel, das mit einer grundsätzlichen anderen Betrachtung der betreffenden Personen, unterschiedlichen Ausbildungen der im entsprechenden Bereich Beschäftigten und einer völlig anderen Ausrichtung der jeweiligen Einrichtungen verbunden ist. Insofern ist die Frage, ob und in welcher Form die besondere Gruppe der Jugendlichen mit Behinderungen in den Gesetzen vorkommt, von großem Interesse.

Wird ein Lebensbereich von verschiedenen Rechtsbereichen geregelt, für deren Überwachung unterschiedliche Institutionen zuständig sind, so sind prinzipiell eine Reihe von Szenarien denkbar:

1. Die verschiedenen Institutionen könnten ihre Aufgaben in diesem Bereich wahrnahmen, ohne in Konflikt zu geraten.

2. Der Lebensbereich könnte weitgehend von einer Institution „übernommen“ werden, während die andere Institution sich weitgehend zurückhält.

3. Es könnte zu einer Konkurrenz der Institutionen über die Zuständigkeit kommen.

4. Keine der relevanten Institutionen fühlt sich wirklich zuständig, sodass faktisch keine Überwachung stattfindet.

Diese Varianten bilden Idealtypen, denen in der Realität vor allem Mischformen und weniger eindeutige Verhältnisse gegenüberstehen. Auch können sich die Verhältnisse zwischen den Institutionen in Bezug auf einzelne Teilbereiche, Situationen und Einrichtungen deutlich unterscheiden und verändern. Es ist daher wichtig, sich die konkreten Verhältnisse an einigen unterschiedlichen Beispielen anzusehen. Auch den damaligen Akteuren war bewusst, dass das Zusammenspiel zwischen Jugendwohlfahrt und Behindertenhilfe in der Praxis teilweise nicht ganz reibungslos verlief, gerade wenn Aufgaben nicht klar voneinander abgegrenzt wurden. So urteilte etwa der baden-württembergische Landkreistag, dieses Verhältnis könne „nicht immer als glücklich angesehen werden.“[1]

Die reale Situation und Anwendung der Gesetze kann von dem, was bei Lektüre derselben zu erwarten wäre, stark abweichen. Das gilt natürlich besonders, wenn, wie beschrieben, die Gesetze aus unterschiedlichen Rechtsbereichen stammen.

Eine Tatsache eint jedoch die Jugendwohlfahrtsgesetze mit den Psychiatriegesetzen: Beide Arten von Gesetzen sehen Möglichkeiten vor, Menschen unter bestimmten Umständen in speziell für diese Gruppe vorgesehenen Institutionen unterzubringen. Diese Unterbringung kann dabei sowohl entsprechend des als auch, unter besonderen Voraussetzungen, gegen den Willen der betreffenden Person oder ihrer gesetzlichen Vertreter erfolgen. Diese Maßnahmen stellen signifikante Eingriffe in die persönliche bzw. elterliche Freiheit dar, weshalb sie, auch das ist beiden Bereichen gemeinsam, einer richterlichen Entscheidung bedürfen. Auch hinsichtlich dieser Möglichkeiten sollen insbesondere die Gesetze der Jugendwohlfahrt und die Psychiatriegesetzgebung verglichen werden.

Wichtig ist dabei, dass die Unterbringung von den Betroffenen häufig auch dann als Zwangsmaßnahme empfunden wurde, wenn es sich formal nicht um eine solche handelte. Das gilt insbesondere für Jugendliche, deren eigener Willen ja ohnehin nicht maßgeblich für die Unterbringung war, sondern nur der ihrer gesetzlichen Vertreter. Die juristische Situation konnte dabei von dem, wie diese wahrgenommen wurde, bedeutend abweichen.

Daneben steht der rechtlichen Lage auch der praktische Umgang mit Jugendlichen mit Behinderungen gegenüber. Neben der Anwendung der Gesetze auf einzelne Personen ist dabei auch die Aufsicht über die Einrichtungen der Behindertenhilfe von besonderem Interesse, in denen (auch) Minderjährige untergebracht wurden, sowie von Einrichtungen der Jugendhilfe, in denen (auch) Menschen mit Behinderungen untergebracht wurden. Welche Gesetze, eventuell abweichend von dem, was auf Basis der Gesetze eigentlich zu erwarten wäre, hierbei angewandt werden, lässt wiederum Rückschlüsse darauf zu, aus welchem Blickwinkel die die Gesetze anwendenden Institutionen auf die ihnen anvertrauten Personen und Einrichtungen blickten. Im Folgenden soll allerdings zunächst die gesetzliche Grundlage des Umgangs mit behinderten Jugendlichen betrachtet werden, getrennt nach den Gesetzen für Jugendliche und Menschen mit Behinderungen.

Gesetze und Verordnungen: Übersicht und Vorbemerkungen

Doch um welche Gesetze geht es genau? Im Folgenden sollen einige der wichtigsten Gesetze der Behindertenhilfe und der Jugendhilfe vorgestellt werden.

Der staatliche Umgang mit Jugendlichen und ihre Unterbringung in entsprechenden Einrichtungen wird vom Jugendwohlfahrtsgesetz (1961)[2] sowie dem vorhergehenden Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922)[3] bestimmt. Wichtige Gesetze der Behindertenhilfe waren das Bundessozialhilfegesetz (1961)[4], das Schwerbehindertengesetz (1974)[5] und die Psychiatriegesetze. Letztere waren Landesgesetze, wobei für Baden-Württemberg besonders das Gesetz von 1955[6] wichtig ist, welches in der Geschichte der deutschen Psychiatriegesetze eine besondere Stellung einnimmt: Es war das erste Gesetz einer neuen Generation von Psychiatriegesetzen und hatte weiterhin einige Besonderheiten, die bei der späteren Betrachtung vorgestellt werden sollen.

Diese Aufzählung ist nicht erschöpfend, bietet jedoch einen guten Überblick über den Umgang mit Jugendlichen mit Behinderungen in beiden Rechtsbereichen. Außen vor gelassen werden hier weitgehend Ausführungsbestimmungen, wie sie sich in den entsprechenden Verordnungen finden lassen. Diese miteinzubeziehen würde zum einen den Rahmen dieses Textes sprengen und ist zum anderen für die Frage, in welcher Form Jugendliche mit Behinderungen in den entsprechenden Gesetzen vorkommen, auch nicht hilfreich. Sie werden nur dann erwähnt, wenn sie für einzelne hier betrachtete Aspekte besonders wichtig sind.

 

Anmerkungen

[1] Schreiben des Landkreistages Baden-Württembergs an die Landratsämter vom 23.6.1962, EA 2_007 Bue 437a.

[2] Gesetz für die Jugendwohlfahrt (JWG), vom 11. August 1961.

[3] Reichsgesetz für die Jugendwohlfahrt (RJWG), vom 9. Juli 1922.

[4] Bundessozialhilfegesetz (BSHG), vom 30. Juni 1961..

[5] Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz – SchwbG), vom 29. April 1974.

[6] Gesetz über die Unterbringung von Geisteskranken und Suchtkranken (Psychiatriegesetz), vom 16. Mai 1955.

 

Quellen

  • Gesetz für die Jugendwohlfahrt (JWG), vom 11. August 1961.
  • Reichsgesetz für die Jugendwohlfahrt (RJWG), vom 9. Juli 1922.
  • Bundessozialhilfegesetz (BSHG), vom 30. Juni 1961.
  • Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz – SchwbG), vom 29. April 1974.
  • Gesetz über die Unterbringung von Geisteskranken und Suchtkranken (Psychiatriegesetz), vom 16. Mai 1955.

 

Literatur

  • Bösl, Elsbeth, Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009.
  • Bradl, Christian, Anfange der Anstaltsfürsorge für Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte des Behindertenbetreuungswesens am Beispiel des Rheinlands im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1991.
  • Brink, Cornelia, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 – 1980, Göttingen 2010.
  • Bruns, Georg, Ordnungsmacht Psychiatrie? Psychiatrische Zwangseinweisung als soziale Kontrolle, Opladen 1993.
  • Fangerau, Heinar/Topp, Sascha/Schepker, Klaus (Hrsg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, Berlin/Heidelberg 2017.
  • Fangerau, Heinar/Dreier-Horning, Anke/Hess, Volker/Laudien, Karsten/Rotzoll, Maike, Leid und Unrecht. Kinder und Jugendliche in der Behindertenhilfe und Psychiatrie der BRD und DDR 1949 bis 1990, Köln 2021.
  • Henkelmann, Andreas, Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945 – 1972), Essen 2011.
  • Hoffstadt, Anke, Gehörlosigkeit als „Behinderung“. Menschen in den Gehörlosenschulen des Landschaftsverbandes Rheinland nach 1945, Berlin 2018.
  • Kaminsky, Uwe, Schläge im Namen des Herren. Öffentliche Debatte und historische Annäherung, in: Mutter Kirche – Vater Staat? Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945, hrsg. von Wilhelm Darmberg, Münster 2010, S. 5-27.
  • Kaminsky, Uwe/Klöcker, Katharina, Medikamente und Heimerziehung am Beispiel des Franz-Sales-Hauses. Historische Klärungen – ethische Perspektiven, Münster 2020.
  • Peukert, Detlev, Grenzen der Sozialdisziplinierung: Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986.
  • Pfordten, Dietmar von der/Wapler, Friederike, Expertise zu Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Gutachten im Auftrag des „Runden Tisch Heimerziehung“, Göttingen 2010.
  • Pilz, Nastasja, Wo Vorwürfe von Staatsversagen zutreffen. Ein Blick in die Quellen der baden-württembergischen Heimaufsicht 1919-1975, in: Aufarbeiten im Archiv. Beiträge zur Heimerziehung in der Baden-Württembergischen Nachkriegszeit, Stuttgart 2018, S. 88-111.
  • Potrykus, Gerhard, Jugendwohlfahrtsgesetz. nebst den Ausführungsgesetzen und Ausführungsvorschriften der deutschen Länder, München 1953.
  • Potrykus, Gerhard, Jugendwohlfahrtsgesetz. nebst den Ausführungsgesetzen und Ausführungsvorschriften der deutschen Länder, München² 1972.
  • Schmuhl, Hans-Walter/Winkler, Ulrike, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Bielefeld 2010.
  • Zöllner, Ulrike, Die Stimme der Betroffenen. Ehemalige Heimkinder in Baden-Württemberg,, in: Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975, hrsg. von Nastasja Pilz, Nadine Seidu, Christian Keitel, Stuttgart 2015, S. 16-23.

 

Bildnachweis

Zitierhinweis: Christoph Beckmann, Die rechtliche Situation von Jugendlichen mit Behinderungen und geistigen Krankheiten: Einleitung und Fragestellung, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.

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