Wenn jemand eine „Reise“ macht…

von Marina Friedt

Etwa zwölf Millionen Kinder wurden von 1945 bis Anfang der 90er-Jahre zur Erholung und Entlastung der Eltern verschickt. Viele von ihnen haben keine Kuren, sondern Torturen erlebt. Seit 2019 gibt es deutschlandweit die Initiative Verschickungskinder, die durch die Betroffene Anja Röhl ins Leben gerufen wurde. Diese Initiative hat viele von uns veranlasst, sich den eigenen Erinnerungen zu stellen. Die Initiative Verschickungsheime hat bereits 1.143 Heimorte in Deutschland ausgemacht, händisch aus dem Folberth-Buch ausgezählt.[1] Inzwischen gibt es fast für jede Region Heimortgruppen, die weitere Heime finden und an der Aufarbeitung der Erlebnisse und somit der Gesundung der beeinträchtigten Seelen arbeiten. Allein auf Langeoog gab es 13 Heime (Stand November 2023). Für die Verschickungskinder der Langeoog-Gruppe organisierte ich 2022 eine Reise zur Aufarbeitung der Geschehnisse von damals. Dieser Text soll eine hilfreiche Handreichung für andere Gruppen sein, die solch eine Reise angehen möchten.

1. Die Ansprache

Von Anfang an ist es wichtig, einen konstruktiven Umgang zu wählen. Denn die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner vor Ort haben ja meist gar nichts mit der Geschichte zu tun. Wichtig ist auch klarzustellen, dass es der Besuchergruppe nicht um juristische Aufarbeitung geht, ganz abgesehen davon, dass viele Übergriffe verjährt sind. Im Vordergrund steht die Aufklärung, vornehmlich für die Betroffenen selber. Aber es geht auch darum, der Öffentlichkeit vor Ort und auch überregional deutlich zu machen, was Kindern im Namen der „Gesundheitsförderung“ passieren konnte.

2. Gemeinsam machen

Gemeinsam sind wir stark! Lange hielten viele Verschickungskinder das, was ihnen jeweils widerfahren ist, für ein zufälliges Einzelschicksal. Durch die Initiative ist mittlerweile deutlich geworden, dass es ein regelrechtes Wirtschaftssystem war und Millionen von Kindern verschickt wurden. Sicher ist einiges dem Umgang mit Kindern der damaligen Zeit geschuldet, doch alles lässt sich damit nicht erklären. Und der Blick auf die Bedürfnisse und Nöte von Kindern ist in Deutschland mittlerweile ein anderer geworden. Das kann aber nicht vergessen machen, wie es in vielen Kinderheimen gewesen ist. Die Reise soll dazu dienen, im respektvollen Umgang miteinander das Gespräch zu finden mit den heute zuständigen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern in den Heimen vor Ort.

3. Vorab-Recherche / Türöffner nutzen

Elementar ist eine gute Recherche vorab. Wer ist die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister vor Ort, wie heißen die Leiterinnen und Leiter der jeweiligen Heime. Falls einzelne Verschickungskinder schon erfolglos den Kontakt zu ihrem ehemaligen Verschickungsheim gesucht haben, gilt es hier, in Vertretung der Gruppe zu agieren (z.B. als Heimortkoordination oder Landeskoordination) und eventuell zuerst den Kontakt zu politischen Vertreterinnen und Vertretern vor Ort, allen voran den Bürgermeisterinnen oder Bürgermeistern oder anderen bedeutsamen Personen zu suchen, die es freundlich als Türöffner zu nutzen gilt. Alle Kontakte, die uns ein Stück weiterbringen, sind wertvoll.

4. Die Organisation

In Absprache mit der potenziellen Reisegruppe gilt es dann die in Frage kommenden Heimleiterinnen und Heimleiter anzusprechen – am besten mit einem Appell zur Unterstützung der politischen Vertreterinnen oder Vertreter vor Ort im Rücken (siehe 3.) – das öffnet eventuell Türen! Die Kunst der Koordination besteht darin, die Termine mit den Heimen und den potenziell interessierten Betroffenen abzustimmen. Hilfreich kann auch der Kontakt zu Mitarbeitenden von Stadtarchiven und Heimatmuseen sein, die die Historie im Blick haben. Empfehlung: maximal zwei Heime pro Tag und immer mindestens zwei Betroffene vor Ort – natürlich immer abhängig von den Wegen vor Ort.

5. Seelsorge sicherstellen

Niemand sollte allein unterwegs sein! Am besten ist es, wenn mindestens zwei Betroffene den Besuch gemeinsam antreten. Optimal ist es, wenn die Reise vor Ort von einer psychologischen Begleitung betreut wird. Wenn die Einrichtungen das nicht vorhalten, bietet sich auch die Anfrage der jeweiligen Pfarrgemeinden an. Falls zur Unterstützung Partnerinnen oder Partner mitreisen, ist es elementar, in der Gruppe abzustimmen, inwieweit diese sich einbringen können und sollen.

6. Die Deklaration

Wir Langeoog-Verschickungskinder haben bei unserem ersten gemeinsamen Langeoog-Besuch klargestellt, dass es uns vor allem um die persönliche Aufarbeitung und Aufklärung geht. Zur nachhaltigen Dokumentation haben wir in jedem Heim unsere vorab untereinander abgestimmte Erklärung an die aktuelle Heimleitung überreicht und die Übergabe fotografisch dokumentiert. Ganz wichtig war: Dankbar zu sein für den Austausch, der für alle Beteiligten nicht einfach ist!

7. Der Abschluss: Frieden finden

Am Ende sollten möglichst alle zufrieden nach Hause reisen können. Die eine oder der andere hat ihr oder sein Heim wiedergefunden, findet dadurch innere Genugtuung und kann eventuell mit dem angetanen Unrecht besser umgehen oder das Kapitel ganz abschließen. In jedem Fall haben alle Mitreisenden erlebt, dass sie nicht allein mit ihren belastenden Erfahrungen sind und eine Gemeinschaft entdeckt, die – durch gemeinsames Leid verbunden –, positiv in die Zukunft blickt und auch anderen helfen kann.

Zur Autorin: Marina Friedt, freie Journalistin und Autorin, wurde als Elfjährige 1975 für sechs Wochen nach Langeoog ins „Haus Sonnenschein“ verschickt.

Anmerkungen

[1] Folberth, Kinderheime.

Literatur

  • Folberth, Sepp, Kinderheime Kinderheilstätten in der westdeutschen Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, München 1964.

 

Zitierhinweis: Marina Friedt, Wenn jemand eine „Reise“ macht…, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.