Geschlecht und Heimerziehung
von Jeannette Windheuser
Für die Situation in der Heimerziehung der Nachkriegszeit und die folgenden Jahrzehnte in der Bundesrepublik spielte der Faktor Geschlecht eine wesentliche Rolle. Der gesellschaftliche Blick auf die Jugendprobleme ab Ende der 1940er Jahre war geprägt von einer geschlechtsspezifischen Annahme sexueller Verwahrlosung von Mädchen und krimineller Verwahrlosung von Jungen. In diesen Vorstellungen lässt sich eine gewisse Kontinuität mit nationalsozialistischen rassistischen Maßstäben nachzeichnen, insofern besonders im Kontakt mit ‚Besatzungssoldaten‘ eine sexuelle Gefahr für deutsche Mädchen gesehen wurde und (vermeintliche und tatsächliche) Kriminalität unter Jungen mit deren ‚Minderwertigkeit‘ assoziiert wurde.
Neben diesen ‚Indikationen‘ für eine Heimeinweisung, die vornehmlich Kinder und Jugendliche aus der Arbeiterklasse betraf, ist auch die besondere Lage von Frauen in der Nachkriegszeit relevant. Im Krieg hatten Frauen die Erfahrung gemacht, alleine Verantwortung für die Familie und für das Familieneinkommen übernehmen zu müssen. In der Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik kam es jedoch zu einer erneuten Etablierung eines patriarchalen Familienbildes. Insbesondere alleinerziehende Mütter erinnerten aufgrund des offensichtlichen Verlusts ihres Partners an den vom nationalsozialistischen Deutschland zu verantwortenden Krieg und über die für sie meist notwendige Berufstätigkeit daran, dass das Versprechen des sogenannten Wirtschaftswunders nicht für alle eingelöst wurde. Häufig wurden Alleinerziehende wie auch uneheliche Mütter zur Zielscheibe ‚fürsorglicher‘ Denunziationen: Kinder wurden gegen den Willen ihrer Mütter in Heimen untergebracht, minder-jährige Mütter wurden getrennt von ihren Neugeborenen zwangsweise in Heime eingewiesen. Es scheint, als seien Frauen, die unabhängig von Männern (lohn-)arbeiteten und Kinder bekamen bzw. großzogen, ein Störfaktor in dem idealisierten Bild der Kleinfamilie gewesen.
Auffallend sind auch die geschlechtsspezifischen Maßnahmen der Heimerziehung. Sie betreffen den Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität, die Bestrafungspraktiken und die von den Zöglingen zu verrichtenden Zwangsarbeiten: Ein besonderes Merkmal bei der Aufnahme weiblicher Zöglinge waren zwangsweise gynäkologische Untersuchungen und solche auf Geschlechtskrankheiten. In diesem Kontext wird teils auch von Zwangssterilisationen berichtet. Sexualität galt dabei für Mädchen als Gefahr, vor der diese mittels Heimunterbringung geschützt werden sollten. Bei Jungen wurde hingegen die Gefahr ‚homosexueller Verführung‘ in der geschlechtergetrennten Unterbringung gesehen. Hervorzuheben sind geschlechtsspezifische Strafpraktiken wie beispielsweise aggressive ‚Waschungen‘ der weiblichen Genitale, die die ‚Unreinheit‘ der Mädchen und jungen Frauen gleichermaßen herausstellen wie beseitigen sollten.
Die beschriebenen Annahmen über die ‚Verwahrlosung‘ von Mädchen und Jungen gehen im Nachkriegsdeutschland mit Zuschreibungen von moralischer Verfehlung und gesell-schaftsgefährdendem (kriminellem) Verhalten einher. Im krassen Widerspruch erscheint dazu der verleugnende Umgang mit der Verantwortung der Erwachsenen für die Gewalt während des Nationalsozialismus und die Rechtfertigung der bzw. unhinterfragte Gewalt gegen die nachwachsende Generation in den totalen Institutionen in der Bundesrepublik (aber auch in der Deutschen Demokratischen Republik). Naheliegend ist eine Interpretation, wonach die Heimkinder/-jugendlichen zur Projektionsfläche für die verdrängte Geschichte und erwachsenen Gewaltausbrüche wurden. Die verbreitete Gewalt in der Heimerziehung stand und steht zudem im Widerspruch zu den Wert- und Moralvorstellungen der Zeit. Wie spätestens mit der seit 2010 geleisteten Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch in pädagogischen Institutionen bekannt ist, war sexuelle Gewalt weit verbreitet. Insbesondere für die konfessionell (und auch katholisch) dominierte Heimlandschaft in der jungen Bundesrepublik stellt sich umso mehr die Frage, wie diese Divergenz zwischen religiöser Ethik und praktischem Handeln zustande kam.
Die größtenteils unbezahlte (Kinder-)Arbeit in den Heimen trat vornehmlich in Kombination mit mangelnder Bildungsförderung auf. Für Jungen war sie häufig mit militärischem Drill und dem Ziel einer (männlichen) Disziplinierung verbunden. Haushälterische Tätigkeiten und mangelnde Berufsausbildung prägten die Zwangsarbeit von Mädchen in der gesamten Bundesrepublik. Auch aus dem baden-württembergischen Mädchenerziehungsheim Oberurbach im Remstal sind solche Erfahrungen bekannt. Insgesamt deuten die Widersprüche zwischen der Verantwortung der Erwachsenen, den Zuschreibungen an die nachwachsende Generation und die praktizierte Gewalt darauf hin, dass Kinder und Jugendliche geschlechtsspezifisch und stellvertretend für die Verfehlungen und Unzulänglichkeiten der Erwachsenen herhalten mussten. Weibliche Sexualität von Jugendlichen wurde zur Gefahr für die Gesellschaft erklärt, während das gebrochene Tabu von sexueller Gewalt im Generationenverhältnis verschwiegen wurde. Männliche ‚Halbstarke‘ wurden ebenso kriminalisiert wie männliche Homosexualität, während die durch Erwachsene verantwortete Gewalt und die doppelte Sexualmoral der Zeit unbearbeitet blieben.
Die Ende der 1960er Jahre entstandene sogenannte Heimkampagne zielte auf die Be-freiung der Heimzöglinge aus den beschriebenen Verhältnissen. Der Geschlechterfrage im Heim wurde dabei jedoch keine spezifische Aufmerksamkeit geschenkt. Da die ‚sexuelle Revolution‘ einer der Motoren der Proteste dieser Zeit war und die zu dieser Zeit bereits geäußerte frauenbewegte Kritik daran kaum rezipiert wurde, deutet einiges darauf hin, dass die Liberalisierung der Sexualität zu dieser Zeit zwar neue Freiheiten mit sich brachte, zugleich aber die Möglichkeit versperrte, sexuelle Gewalt (im Geschlechterverhältnis) genauer in den Blick zu nehmen. Dennoch veränderten die sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre langfristig die Strukturen der Heimerziehung. Spätestens mit der feministischen Mäd-chenhauskampagne ab den 1980er Jahren fand der Anspruch auf Geschlechtergerechtigkeit zumindest teilweise Eingang in die Heimerziehung.
Literatur
- Frings, Bernhard/Kaminsky, Uwe, Gehorsam – Ordnung – Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945-1975, Münster 2012.
- Gehltomholt, Eva/Hering, Sabine, „Das verwahrloste Mädchen“ – Diagnostik und Fürsorge in der Jugendhilfe zwischen Kriegsende und Reform (1945-1965), Opladen 2006.
- Kuhlmann, Carola, „So erzieht man keinen Menschen!“. Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, Wiesbaden 2008.
- Swiderek, Thomas, Freizeitgestaltung, Freundschaften und der Umgang mit Sexualität in der Heimerziehung, in: LVR (Hrsg.), Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972), Essen 2011, S. 381-406.
- Wensierski, Peter, Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München 2006. - Windheuser, Jeannette, Geschlecht und Heimerziehung. Eine erziehungswissenschaftliche und feministische Dekonstruktion (1900 bis heute), Bielefeld 2018.
Zitierhinweis: Jeannette Windheuser, Geschlecht und Heimerziehung, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.