Die Treppe
von Willy Dorn
Es war der 6. Mai 1965, einen Tag vor dem gemeinsamen Geburtstag unserer Eltern, die mit exakt zehn Jahren Unterschied den 50. bzw. den 60. Geburtstag feiern wollten. Ich saß in der Schule, als die Tür des Klassenzimmers aufging und der Schulleiter mit mir fremden Erwachsenen hereinkam und mich aufforderte, meine Sachen zusammenzupacken und mitzukommen. Dies geschah ebenfalls mit meinen beiden Brüdern und mit meinen beiden Schwestern. Wir wurden nach Hause begleitet, was nicht weit von der Schule entfernt lag. Daheim angekommen, sah ich ein Polizeiauto und zwei weitere Fahrzeuge vor der Tür stehen. Mutter Anna heulte und Vater Dorn tobte in seinem billigen Wermut-Rausch. Meine ältere Schwester wusste von der bevorstehenden Aktion und war entwischt. Erst jetzt erfuhren die restlichen fünf Geschwister, dass ein Familiengericht in Ulm eine Fürsorgeerziehung angeordnet hatte und wir Kinder in ein Kinderheim überstellt werden sollten. Mutter Anna wurde angehalten, uns Kinder in frische Kleider zu stecken und ich erinnere mich noch sehr genau, dass ich mich schämte, als sie in dem riesigen Haufen verschmutzter Wäsche neben dem zugesetzten Plumpsklo wühlte, um etwas Brauchbares herauszusuchen. Es gab keinen großen Abschied und wir wurden in zwei verschiedene Autos gedrängt. Meine Brüder in einen beigefarbenen VW-Käfer, der vor uns fuhr und meine Schwestern und ich in das nachfolgende Fahrzeug. Nach einer gewissen Zeit bog unser Auto nach rechts ab, während der andere Wagen geradeaus weiterfuhr. Auf meine Frage, wohin das Auto mit meinen Brüdern fuhr, bekam ich keine Antwort. Ich habe sie erst fast fünf Jahre später wiedergesehen, am 13. März 1970 anlässlich ihrer Konfirmation im Sonderschulheim Wilhelmspflege in Stuttgart-Plieningen.
Unsere Fahrt ging zunächst nach Wilhelmsdorf bei Ravensburg, wo wir in den Zieglerschen Anstalten ein fürchterliches Mittagessen vorgesetzt bekamen. Mir fiel auf, dass viele Menschen dort mehr oder weniger geistig behindert zu sein schienen. Meine Angst wurde immer größer, als das Auto nun ohne eine meiner Schwestern die Fahrt fortsetzte. Auch sie habe ich einige Jahre nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Schließlich kamen wir in Eglofstal an und wurden getrennt in einen großen Waschraum geführt, wo ich von einer mit „Tante Erika“ anzuredenden Frau aufgefordert wurde, alle meine Kleider auszuziehen und in eine mit Wasser gefüllte Badewanne zu steigen. Diese Frau schrubbte mich von Kopf bis Fuß sehr gründlich ab, half mir beim Abtrocknen und hieß mich an, in die bereitgelegten neuen Kleider zu schlüpfen. Danach wurde ich dem Heimleiter vorgestellt. Schon bei dieser ersten Begegnung spürte ich einen bedrohlichen Unterton in seiner Stimme. Ich wurde von ihm gefragt, ob mir bewusst sei, warum ich hierher gebracht wurde und welch großes Glück ich doch hätte, diesem Schweinestall bei meinen Eltern entkommen zu sein. Bereits in dieser ersten Stunde setzte es Ohrfeigen mit der Begründung, mich so besser in meine neue Umgebung einfügen zu können.
Die ersten eineinhalb Jahre bekamen meine Schwester und ich keine Post von Zuhause, obwohl zumindest ich regelmäßig an unsere Eltern geschrieben hatte. Noch gut kann ich mich an meine Enttäuschung erinnern und auch an die traurigen Gedanken, dass uns die Eltern aufgegeben und vergessen hatten. Viele Jahre später wurde mir meine persönliche Heimakte zugänglich gemacht. Darin fand ich unter anderem sämtliche Briefe und Postkarten von Vater Dorn an uns beide. Die Post von zuhause war krakelig in Sütterlinschrift abgefasst und von der Heimleitung absichtlich zurückgehalten und in meiner Heimakte mit entsprechenden Übersetzungsversuchen abgeheftet worden. Auch meine Briefe von damals an die Eltern fand ich in der Heimakte wieder.
Stellvertretend für die alltägliche Willkür und den ausgeprägten Sadismus, dem wir Heimkinder von damals im Kinderheim Eglofstal schutzlos ausgeliefert waren, möchte ich die beiden Erzieher „Onkel Wolfgang“ und „Onkel Hubert“ beschreiben.
Onkel Wolfgang war groß, schlank und hatte wenig Haare auf seinem Kopf. Dieser aber leuchtete oftmals in dunkelroten Choleriker-Farben. Bei Onkel Wolfgang rutschte sehr schnell und oft die Hand aus und seine Ohrfeigen klingelten immer lange nach. Es konnten kleine, nichtige Gründe sein, die seiner Meinung nach eine schallende Ohrfeige rechtfertigten. Bereits vor dem Frühstück hatte jedes Kind den ihm zugeteilten Hausdienst zu erledigen, zudem musste das eigene Bett gemacht und der Kleiderschrank „wehrdienstmäßig“ aufgeräumt sein. Meist kurz vor dem Frühstück beliebte es Onkel Wolfgang, stichprobenweise die Kleiderschränke zu kontrollieren. Wenn dann nicht alle Kleidungsstücke jeweils exakt übereinander gefaltet lagen, räumte er mit einem Armwischer den kompletten Kleiderschrank aus und statt Frühstück hatte man den Kleiderberg wieder ordentlich einzuräumen. Bis auf den heutigen Tag haftet mir dieser „militärische Schliff“ an. Mein Kleiderschrank ist so „vorbildlich“ durchgestylt, dass sich meine verschiedenen Frauenbekanntschaften regelmäßig darüber amüsiert hatten. Ebenso belustigend fanden sie meine Art, die Wäsche aufzuhängen. Ich kann einfach nicht anders, als meine Socken paarweise auf die Wäscheleine zu hängen. Drill in Tateinheit mit Ohrfeigen führte zumindest bei mir zu einem grandiosen Erfolg!
Onkel Hubert war eher klein, aber sehr drahtig, mit einem stechenden Blick, der noch von einer starken Brille verstärkt wurde. Irgendwann einmal wurde nachts in den Vorratskeller eingebrochen und diverse Lebensmittel und Süßigkeiten entwendet. Onkel Hubert kam anderntags mit einem Seil in den Aufenthaltsraum der mittleren Jungengruppe, zu der auch ich gehörte, und wir mussten uns in einer Reihe aufstellen. Er erklärte uns den Tatbestand und forderte die „Schuldigen“ auf, vorzutreten. Natürlich war sich keiner von uns irgendeiner Schuld bewusst. Mit den Worten: „Ich werde den oder die Schuldigen ganz sicher finden“ schwang Onkel Hubert das mitgebrachte Seil über den Metallbolzen eines hochstehenden Fensterkreuzes, griff sich wahllos aus unserer Reihe jemanden heraus und band dessen Hände mit dem einen Ende des Seils auf dem Rücken zusammen. Dann zog er an dem anderen Ende des Seils, bis sich die gefesselten Arme nach oben drehten und der jeweilige Junge unter Schmerzen den Diebstahl gestand. Diesen Vorgang wiederholte er noch ein paar Mal, bis er mit der Anzahl der „Schuldigen“ zufrieden war. Auch ich gehörte dazu und die Strafe war, dass wir Extradienste zu machen hatten, sechs lange Wochen kein Abendessen bekamen und jeglicher Nachtisch während dieser Zeit für uns gestrichen wurde. Schon wenige Tage später stellte sich heraus, dass der Kellereinbruch von drei oder vier der großen Jungs verübt worden war. Man hatte unter anderem Reste von Schokoladenpapier und leere Obstkonserven bei ihnen gefunden. Unsere ungerechten Strafen wurden aber nicht aufgehoben, mit der unglaublich perversen Begründung, wir hätten nicht die Wahrheit gesagt, sondern den Erzieher Onkel Hubert belogen.
Ein bei allen Kindern gleichermaßen gefürchteter Hausdienst war das Reinigen der hölzernen Treppe. Diese war ein breiter Aufgang mit sehr ausgetretenen Stufen. Das Treppengeländer bestand aus einem mehrfach profilierten Handlauf und klobigen, unterschiedlich verzierten Sprossen. Die Einteilung zu diesem Hausdienst war bereits eine von den Erziehern beabsichtigte Strafe. Und es konnte durchaus passieren, dass man am Ende des zweiwöchigen Dienstplans, wenn man von ganzem Herzen froh war, dieser Treppe, mit all ihren, in unendlichen Staubnischen schlummernden und lauernden Schikanen, entkommen zu sein, gleich nochmal diesen Hausdienst für zwei weitere qualvolle Wochen aufgebrummt bekam. Als Kind war es unmöglich, diese verfluchte Treppe für einen Erzieher zufriedenstellend sauber zu halten. Schon die verschiedenen Reinigungsgänge waren der absolute Horror. Staubwischen in allen Winkeln und Ecken, dann nass aufwischen, ohne auf den rustikal geschnitzten Pfosten zwischen Handlauf und Stufen Wasserspuren zu hinterlassen. An den Wochenenden musste diese Treppe zudem geschrubbt und dann gewachst werden, von Hand versteht sich, um dann noch in einer schweißtreibenden Abschlussarbeit mit schweren Metallblockern mühevoll auf Hochglanz poliert zu werden. Wie habe ich diesen Treppen-Hausdienst gehasst, weil dieser nicht selten zu Ende geführt werden musste, während alle anderen Kinder bereits beim Frühstück im Speisesaal saßen. Mit knurrendem Magen war anschließend der Schulgang angesagt. Bei meiner erst kürzlich vorgenommenen Begehung des alten Kinderheimes in Eglofstal fielen mir die ausgefransten Kerben beiderseits der Treppenstufen sofort ins Auge und ich erinnerte mich augenblicklich an die ohnmächtige Wut, mit der ich als Kind ein jedes Mal den schweren Blocker gegen die Stufenseiten rechts und links gedonnert hatte.
Zitierhinweis: Willy Dorn, Die Treppe, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 22.03.2022.