Wachsaal
von Anne-Marie Salome Brenner
Psychiatrie 1974
Geschlossene Wachstation
Häufige Gruppenführungen für Ärzte und Studenten zeigten ihnen, was eine moderne Psychiatrie von heute alles leisten konnte. Die Station galt als nahezu ausbruchsicher.
Es war eine reine Frauenstation.
Die Wände waren bis etwa einen Meter über den Boden komplett verglast. Panzerglas, wie gemunkelt wurde. Um herauszukommen, mussten zwei Türen aufgeschlossen werden.
Zuerst wurde ihr alles abgenommen, was sie mitbrachte und kontrolliert. Dann wurde entschieden, ob sie etwas behalten durfte. Sie konfiszierten einen Band Rilke-Gedichte und witterten Depressionsgefahr. Zum Glück konnte sie einige davon auswendig.
Sie war gerade einmal sechzehn Jahre alt.
Danach nähten sie Nummern in all ihre Kleidungsstücke (sie hatte die 473). Das machten die Krankenschwestern so ganz nebenbei, während sie die Frauen bewachten. Dazu saßen sie hinter einer Theke, von der aus sie die ganze Station überwachen konnten.
Es gab zwei Wachsäle zu jeweils acht Betten, zwei Isolierzimmer und ein Zweibettzimmer für Langzeitpatientinnen. Nicht gerade selten passierte es, dass die Patientinnen als Insassinnen bezeichnet wurden und das Krankenpersonal als Wärterinnen und Wärter. Das schien niemanden zu stören. Dann gab es noch einen großen Aufenthalts- und Speiseraum, in dem die Patientinnen tagsüber beaufsichtigt wurden.
Fast alle Frauen wurden mit starken Medikamenten sediert. Etliche bekamen auch in regelmäßigen Abständen Elektroschocks, nach denen sie ziemlich mitgenommen wirkten. Auch sie war meistens sediert. Wenn sie sich weigerte, die Medikamente zu nehmen, bekam sie diese gespritzt.
Diese Nacht aber war es ihr gelungen, die Nachtmedikation in ein Papiertaschentuch wieder auszuspucken und in der Toilette verschwinden zu lassen. Es war üblich, dass alle schon um sieben Uhr am Abend ins Bett verbracht wurden, damit das Personal in Ruhe Übergabe machen konnte. Später gab es nur noch zwei Nachtwachen, die die ganze Station, die in Dämmerlicht getaucht war, von ihrer Theke aus überwachten.
Da lag sie nun und war so wach wie schon lange nicht mehr. Wach im Wachsaal, das ging gar nicht! Die meisten Frauen schliefen schon, einzig eine junge Heroinabhängige auf Entzug geisterte noch durch die Station. Sie hatten sie neulich erwischt, wie sie auf dem Klo versuchte, sich Kaffee zu spritzen. Immer, wenn eine länger als fünf Minuten auf dem Klo war, schauten sie nach. Das war mehr als peinlich.
Sie aber lag wach im Wachsaal und schielte nach der Theke. Sie hielt die Augen halb geschlossen. Ob die wohl schon was bemerkt hatten? Es war ein ziemlich bulliger Pfleger und eine sehr strenge Schwester mit einem Knoten im Haar. Sie hatte große Angst vor ihnen. Sie bereute es schon, ihre Medikamente weggeschmissen zu haben. Es hieß, dass sie zu ihrem normalen Gehalt eine Gefahrenzulage erhielten. Aber wofür? Fast alle Patientinnen waren dermaßen sediert, dass sie unmöglich gefährlich werden konnten. Außerdem gab es kein einziges Alpenveilchen hier, nur einen riesigen Gummibaum. Der musste nachts von einer Pflanzenlampe angestrahlt werden, damit er überhaupt dort ohne Tageslicht leben konnte. Den konnte man unmöglich werfen. Sie wäre so gerne aufgestanden und hätte Gedichte gelesen. Sie versuchte, die wenigen, die sie auswendig konnte, zu repetieren:
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.…
Den Rilke hatten sie ihr definitiv weggenommen. Ach und die Lasker-Schüler.
Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.
Ja und natürlich das blaue Klavier.
Ich habe zuhause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.
Es steht im Dunkel der Kellertür
seitdem die Welt verrohte. …
Wie sehr sie ihr dickes und schweres Gedichtbuch vermisste! Hier gab es nichts dergleichen. Nur seichte und immerfröhliche Literatur und einige fast harmlose Krimis. Sie seufzte ganz leise, damit‘s keiner merkte. Dabei fiel ihr noch die Droste-Hülshoff ein.
Am Turme.
…
Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
Wie gerne wäre sie am Wasser. Am richtigen Meer. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie sie als Kind zum erstenmal dort war. Das Meer war eine große Eröffnung. Wonach sie sich immer gesehnt hatte und das sie doch schon längst kannte. Das Meer war ein Versprechen. Das Versprechen, dass das Leben mehr sei, als ein bloßes Dasein und Überleben. Es war Leben! Auch wenn sie hier ein paar Jahre vor sich hinvegetieren musste. Das Versprechen war gegeben. Es war eingebrannt in die Sehnsuchtslinie, die sich orange am Horizont andeutete. Da wo Himmel und Erde sich berührten.
Sie betrat noch einmal die dunklen Klippen ihres ersten Meeres. Es war Ebbe, das Meer hatte sich zurückgezogen. In einer Klippe war noch eine größere Pfütze mit einem kleinen Fisch darin. Der war dort eingesperrt, bis die Flut wiederkam. Sie schritt über die Klippen über die angeschwemmten Muscheln ein wenig ins Wasser. Kleine Wellen umspielten ihre Füße, das fühlte sich an wie ein Streicheln. Sie bemühte sich sehr, nicht auf einen der zahlreichen Seeigel zu treten. Der Wind kam von hinten und zerwühlte ihre Haare. Längst war die Sonne blutend im Wasser versunken. Von der benachbarten Stadt und von den Inseln flammten nach und nach die elektrischen Lichter auf. Sie aber war weiter in der Dämmerung unterwegs und entdeckte noch mehrere eingeschlossene Fische in den Klippen. Später, als Malerin, würde sie große Leinwände vorbereiten und diese betreten, damit das Meer wieder kam. Das Wasser würde ihre Füße umspülen, die Sonnenstrahlen sich im Wasser spiegeln, die Wellen heranrollen. Und wie in Bachmanns Undine wäre das Meer
ein machtvoller Seufzer, es schlug, schlug und rannte und rollte gegen die Erde an, dass seine Lefzen trieften von weißem Schaum.
Das dämmrige Licht der Wachstation brannte die ganze lange Nacht. Sie aber schritt weiter über die Klippen. Mochte kommen, was da wolle. Mochte sie noch einige traurige Jahre auf dieser verdammten Station dahinvegetieren.
Das Versprechen war gegeben! Jetzt war Ebbe. Aber die Flut wird kommen. Sie wird alle in den Klippen gefangenen Fische wieder befreien. Das Versprechen war gegeben. Die Flut würde kommen.
Sie käme wieder frei.
Weitere Gedichte und Bilder von Anne-Marie Salome Brenner finden Sie in ihrem Buch:
Anne-Marie Salome Brenner, menschenorts. Malerei und Dichtung, 1997.
Zitierhinweis: Annemarie Brenner, Wachsaal, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.