Ein paar Fragen zur Arbeit der Anlauf- und Beratungsstelle des Fonds Heimerziehung in Stuttgart
Von Irmgard Fischer-Orthwein (Fragen von Nora Wohlfarth)
Hintergrund
In den 2000er Jahren begann eine öffentliche Diskussion um Leid und Missstände in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in der Nachkriegszeit. Ehemalige Heimkinder richteten eine Petition an den Deutschen Bundestag, in deren Folge ein Runder Tisch eingerichtet wurde. Zu den Empfehlungen des Runden Tisches gehörte auch die Errichtung von Beratungsstellen, um Betroffene bei der Stellung von Anträgen an den Fonds Heimerziehung zu unterstützen.
Lieblosigkeit, Demütigungen, Fremdbestimmung, Isolation und Prügel, unzureichende Förderung und Gesundheitsfürsorge bestimmten in der Vergangenheit oft den Alltag in den Heimen. Die körperlichen und psychischen Gewalterfahrungen in den Heimen sowie Versäumnisse und Fehler auch von Jugendhilfebehörden beeinflussten das Leben der Betroffenen oft über Jahrzehnte hinweg mit massiven Spätfolgen. Um ihnen zu helfen, hatten der Bund, die Länder und die Kirchen gemeinsam Verantwortung übernommen und zwei Fonds eingerichtet: Den Fonds "Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975" und den Fonds "Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990". Aus dem Fonds West erhielten die anspruchsberechtigten Betroffenen der baden-württembergischen Anlauf- und Beratungsstelle 23,3 Millionen Euro für den materiellen Hilfebedarf und als Rentenersatzleistung.
Drei Jahre nach dem Ende der Arbeit blickt die Leiterin der Anlaufstelle auf die Arbeit zurück.
Was war die Aufgabe der Anlauf- und Beratungsstelle?
In allen Bundesländern gab es von 2012 bis 2018 Anlauf und Beratungsstellen – so auch in Baden-Württemberg – mit der Aufgabe, den Betroffenen bei der Aufarbeitung ihrer Heimvergangenheit zu helfen und die Folgen des Leids und Unrechts nach Möglichkeit abzumildern, zum Beispiel durch die materiellen Leistungen des Fonds Heimerziehung.
Wie hat sich die Arbeit der baden-württembergischen Anlauf- und Beratungsstelle entwickelt?
Aufgrund der unerwartet großen Anzahl an Anmeldungen gab es von Beginn an Wartezeiten auf das persönliche Erstberatungsgespräch, was viele Betroffene emotional belastete. Nur Schritt für Schritt konnten die Fachkräfte aufgestockt werden. Das Problem verschärfte sich durch den zunehmenden Bearbeitungsstau bei der Geschäftsstelle des Fonds in Köln. Dadurch zog sich die Abwicklung der materiellen Fondsleistungen teilweise über einen längeren Zeitraum hin. Hilfreich war die Projektstelle des Landesarchivs. Diese recherchierte für die Betroffenen die Nachweise zu den Heimzeiten. Auf Wunsch suchte sie zusätzlich nach Akten oder Familienangehörigen.
In der Anfangszeit waren viele Betroffene skeptisch gegenüber einigen Aspekten des Fonds. Manche hatten falsche Erwartungen, weil die Medien teilweise von Entschädigungen berichteten. Dadurch wurde bei einigen Betroffenen Erwartungen von hohen und individuell bemessenen Entschädigungssummen geweckt. Entschädigungszahlungen hätten allerdings aus juristischen Gründen zwingende Beweise des erlittenen Leids und Unrechts erfordert. Der Fonds war demgegenüber deutlich niedrigschwelliger als pauschale Anerkennungsleistung in Höhe von 10.000 Euro für den materiellen Hilfebedarf konzipiert. Die Erwartungen an eine „Entschädigung“ konnte er nicht leisten. Im Laufe der Zeit waren die Betroffenen besser informiert und die Wartezeiten wurden auf Wunsch für Akten- und biografische Recherchen genutzt. Der Ablauf der Anmeldefrist zum 31.12.2014 war für die Personen besonders bitter, die zu spät vom Fonds Heimerziehung erfahren hatten.
Was haben Sie gelernt?
- Sexualisierte Gewalt war für viele Heimkinder schlimme Realität: Fast 1/3 der Betroffenen berichteten im Zuge der Beratung über erlittene sexualisierte Gewalt im Kinder- oder Jugendheim.
- Es hätten durchaus mehr Personen die Fondsleistungen in Anspruch nehmen können, was die Anzahl der verspäteten Meldungen eindeutig belegt. Trotz intensiver Öffentlichkeitsarbeit haben die Medien leider viele Betroffene nicht oder nicht rechtzeitig erreicht.
- Die Mischung aus persönlichem Gespräch, Anerkennung des Leids, materieller Hilfe, praktischer Unterstützung und Aktensuche hat sich als besonders wirksam erwiesen.
- Die Aktenaufbewahrungsfristen sollten überprüft werden, der Kinderschutz und Therapieplätze sollten weiter ausgebaut werden.
Diese – und viele weitere Erkenntnisse sind im Abschlussbericht der Anlauf- und Beratungsstelle unter folgendem Link zu finden: Abschlussbericht der Anlauf- und Beratungsstelle Heimerziehung Baden-Württemberg (ABH) (kvjs.de).
Einige Betroffene waren übrigens nicht nur in Heimen der Jugendhilfe, sondern zeitweise auch in der Psychiatrie oder zusätzlich in einem Heim der Behindertenhilfe. Da sie bereits Fondsleistungen in Anspruch genommen hatten, sind deren Erfahrungen wahrscheinlich nicht in die Aufarbeitungen im Rahmen der Stiftung Anerkennung und Hilfe eingeflossen.
Wie bewerten Sie die Arbeit der Anlaufstelle hier und den Aufarbeitungsprozess? Wie blicken Sie zurück auf diese Arbeit?
Auch wenn immer wieder bemängelt wurde, dass man mit den begrenzten Mitteln der Fondsleistungen in vielen Fällen nicht wieder gutmachen kann, was geschehen ist, stellen wir nach sieben Jahren Beratungsarbeit fest:
- Das Leid der Betroffenen wurde anerkannt.
- Die Leistungen des Fonds wurden von den Betroffenen größtenteils gut aufgenommen und positiv bewertet.
- Durch die Beratungsgespräche und die Fondsleistungen konnten viele ihre Lebenssituation in verschiedenen Bereichen verbessern, sich stabilisieren und ihre Heimvergangenheit teilweise aufarbeiten.
Irmgard Fischer-Orthwein baute die Anlauf- und Beratungsstelle Heimerziehung Baden-Württemberg auf und leitete sie von 2012 bis 2018.
Literatur:
- Mehr als Geld und gute Worte…
- Abschlussbericht Runder Tisch Heimerziehung
Zitierhinweis: Irmgard Fischer-Orthwein, Ein paar Fragen zur Arbeit der Anlauf- und Beratungsstelle des Fonds Heimerziehung in Stuttgart, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.
Weitere Beiträge zum Thema:
- „Leid und Unrecht“ - Das Bundesprojekt der Stiftung Anerkennung und Hilfe
- Bericht aus Informations- und Beratungsstelle
- Bericht der Projektstelle LABW 1
- Spurensuche eines Betroffenen