NS-Akteure und Kinderkurheime

von Anton Maegerle

Im Jahr 2020 informierte Report Mainz über drei Fälle hochrangiger NS-Akteure, die Kurheime leiteten und dort die Verantwortung für zehntausende Kinder trugen. Im Fokus der investigativen Recherchen des Teams (bei denen der Autor dieses Aufsatzes tätig war) standen die aus NS-Zusammenhängen bekannten Täter Werner Scheu, Albert Viethen und Hugo Kraas.

Der verurteilte Kriegsverbrecher und Holocaust-Täter Werner Scheu (1910–1989) leitete in den 50er-Jahren das Kinderkurheim Möwennest auf der Nordseeinsel Borkum. Scheu, Mitglied der NSDAP und der Waffen-SS, war 1941 als Offizier an der Erschießung von 220 litauischen Jüdinnen und Juden beteiligt. Er selbst tötete mehrere und wurde deshalb später zu lebenslanger Haft verurteilt. In seinem Heim wurden Kinder drangsaliert und gequält. Eine Betroffene, die in Scheus Heim zur Kur war, erinnerte sich im Gespräch mit Report Mainz, zur Strafe in der Nacht stundenlang barfuß auf dem kalten Fußboden gestanden zu haben.

Im bayerischen Berchtesgaden war Albert Viethen (1897–1978) ärztlicher Leiter des Kinderkurheims Schönsicht. Darüber hinaus arbeitete er in weiteren Kinderkurheimen. In der NS-Zeit war Viethen Mitglied in rund einem Dutzend NS-Organisationen – von der NSDAP über den NS-Ärztebund bis zur SS. Außerdem war Viethen bis 1945 Lehrstuhlinhaber für Kinderheilkunde an der Universität Erlangen und dort an „Euthanasie“-Verbrechen beteiligt. Aus seiner Klinik wurden während der NS-Zeit rund 20 Kinder in eine Tötungsanstalt überwiesen. Sieben wurden daraufhin dort nachweislich ermordet. Auch im Kinderkurheim Schönsicht wurden Kinder gequält, berichteten Betroffene im Gespräch mit Report Mainz. 1963 wurde der einstige SS-Obersturmführer Viethen wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Er kam davon, weil er von den Mordaktionen später nichts gewusst haben wollte. Historiker werten das als unglaubwürdige Ausrede.

In St. Peter-Ording führte Hugo Kraas (1911–1980) von 1969 bis zu seinem Tod das Kinderkurheim Seeschloß mit 60 Betten (inoffiziell, da seine Frau Sünne als Inhaberin geführt wurde). Kraas, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS, war einer der ranghöchsten Generäle der Waffen-SS und ebenfalls Mitglied in der NSDAP. Während des Krieges kämpfte der aus der katholischen Kirche ausgetretene und dann gottgläubige Kraas im Dauereinsatz nahezu auf allen Schlachtfeldern Europas. Gottgläubigkeit war ein religiöses und gleichzeitig nationalsozialistisches Bekenntnis. Kraas war als SS-Untersturmbannführer der Leibstandarte Adolf Hitler mit einer Panzerjägerkompanie am Überfall auf Polen beteiligt, kämpfte auf dem Balkan und in der Sowjetunion und übernahm 1942 ein Panzergrenadier-Regiment, das er zum Angriff auf Charkow (in der heutigen Ukraine) führte. Kraas war nicht nur Träger mehrerer SS-Auszeichnungen, darunter dem Ehrendegen RFSS und dem Totenkopfring, sondern wurde auch mit anderen höchsten Auszeichnungen förmlich überhäuft: Er erhielt das Deutsche Kreuz in Gold und das, Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Der Höhepunkt fand am 24. Januar 1944 statt: Hitler überreichte Kraas auf dem Obersalzberg persönlich das Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Zu den „Verleihungsgründen“ wurde damals ausgeführt, dass das von Kraas geführte Regiment unter anderem 91 Feindpanzer (davon 29 im Nahkampf), 63 Panzerabwehrkanonen, 15 Geschütze, 3 Flugzeuge und 36 LKW erbeutete sowie 900 Gefangene machte. Mit Hitler und dem Propagandaminister Joseph Goebbels war Kraas persönlich bekannt: Hitler gratulierte ihm beispielsweise in einem persönlichen Brief zur Hochzeit. Kraas blieb bis zu seinem Tod ein überzeugter Nationalsozialist. So nahm er etwa 1966 an der Beerdigung des SS-Oberst-Gruppenführers Sepp Dietrich teil, einem verurteilten Kriegsverbrecher. Dietrich war im NS-Staat von 1942 bis 1945 der höchste Generalsrang der Schutzstaffel unter dem Reichsführer SS. Auf der Beerdigung präsentierte sich Kraas mit Ritterkreuz und weiteren NS-Orden. Er war letzter Kommandeur der 12. SS-Panzer-Division Hitlerjugend und in der Nachkriegszeit Mitglied in der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS (HIAG), die zeitweise vom Verfassungsschutz als rechtsextrem bewertet und beobachtet wurde. In den 50er-Jahren war Kraas zeitweilig Geschäftsführer des von Alt-Nazis unterwanderten Bezirksverbands der FDP Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Den Tod von Kraas vermeldete die antisemitische und Holocaust-leugnende Zeitschrift Die Bauernschaft von Thies Christophersen, vormals SS-Sonderführer bei Auschwitz.

1997 starb Kraasʼ Ehefrau Sünne. „Die Familie nimmt Abschied“ war in der Todesanzeige in den Kieler Nachrichten zu lesen. Sünne und Hugo Kraas sind auf dem Friedhof in Haddeby bei Schleswig beerdigt. Ihren Grabstein schmücken die Lebens- und die Todesrune. Die Lebensrune wurde in der NS-Zeit als Zeichen des Lebensborn e.V. genutzt, einem Verein zur „Zucht der arischen Elite“. Sie war auch Abzeichen im Sanitätsdienst der SA sowie des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps und des Deutschen Frauenwerks.

Mehrere Mitglieder der Familie Kraas sind aus rechtsextremen Zusammenhängen hinlänglich bekannt. Der zeitweilig nach Argentinien ausgewanderte Rolf Dieter Böhm, ein Schwiegersohn von Kraas, war Betreiber des Thulehof in Sandwehle bei St. Peter-Ording. Der Thulehof galt als Stützpunkt der Hitler-treuen NSDAP/AO (NSDAP-Aufbau- und Auslandsorganisation). Die neonazistische Organisation mit Hauptsitz in den USA wurde 1972 durch den Neonazi Gary Lauck gegründet. Das Familienmitglied Sunnihilt Wellmer gehörte in führender Funktion der Vereinigung Ur-Europa, gemeinnützige Gesellschaft für europäische Urgeschichte e.V. an. Bei Ur-Europa wird dem Forschungsgeschwurbel von Herman Wirth gehuldigt. Wirth, „geistiger Vater des SS-Ahnenerbes“, glaubte an die Existenz einer höherwertigen, nordisch-germanischen Rasse. Er war „der Überzeugung, dass die Arier von den Hyperboräern abstammen, die von ihrer Urheimat, dem arktischen Ultima Thule in alle Welt ausgeströmt seien“, so die rechtsextreme Zeitschrift Compact. Dabei, so die „Erkenntnisse“ von Wirth, „hätten sie auch Indien besiedelt, um die ansässige farbige Bevölkerung zu unterwerfen und mit dem Kastensystem die ‚Rassereinheit‘ zu garantieren.“ An Vortragsveranstaltungen von Ur-Europa nahmen szenebekannte Rechtsextremisten wie Andreas Thierry oder Roland Wuttke teil. 1994 war Sunnihilt Wellmer Kreistagskandidatin der rechtsextremen Republikaner in Schleswig-Holstein. Thorolf Wellmer ist der älteste Enkelsohn von Kraas. Wellmer berichtete 2006 in der Waffen-SS-treuen Zeitschrift Der Freiwillige über seinen „altehrwürdigen Großvater“. Sein anderer Großvater, Jakob Wellmer, war Kriegsberichter in der Kriegsmarine-Propagandakompanie Potsdam. „Ich bin stolz und hochgemut angesichts von Euch außerordentlichen Großvätern“ bekannte Wellmer im Freiwilligen.

Nach dem Bericht von Report Mainz geriet eine einstige Ortsgröße von St. Peter-Ording in den Blick der Öffentlichkeit: Dr. Richard Felten. Der Allgemeinmediziner, SS-Untersturmführer und NSDAP-Mitglied wurde 1943 Bürgermeister von St. Peter-Ording. 1949 wurde Felten wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt: Ihm wurde vorgeworfen, an einer Einweisung in ein Konzentrationslager beteiligt gewesen zu sein. Die Anklage wurde jedoch fallen gelassen. Felten leitete von 1913 bis 1955 das Kurheim Goldene Schlüssel in St. Peter-Ording, in das auch Kinder mit Atemwegserkrankungen aus Baden-Württemberg verschickt wurden. Im Jahr 1955 übergab Felten die Einrichtung an das Deutsche Rote Kreuz, das seitdem die Klinik betreibt. 1967 wurde der im Folgejahr verstorbene Felten zum ersten Ehrenbürger von St. Peter-Ording ernannt.

In einer einstimmigen Entscheidung beschloss die Gemeindevertretung von St. Peter-Ording am 29. Januar 2024 die Umbenennung des Dr.-Felten-Wegs sowie die Aberkennung der Ehrenbürgerschaft für Felten. Der Gemeinderat stützte sich bei seiner Entscheidung auf ein Gutachten von Dr. Helge-Fabien Hertz von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Demnach habe Felten „den Nationalsozialismus offen begrüßt und in verantwortlicher Position aktiv zu dessen Etablierung in St. Peter-Ording beigetragen.“

Langjähriger Vorsitzender des Vereins Hamburger Kinderheim Köhlbrand in Ording e.V. war Gerhard Kreyenberg (1899–1996). Der Verein führte das gleichnamige Kinderheim in St. Peter-Ording. Kreyenberg war Mitglied von NSDAP und SA, Psychiater und in der NS-Zeit stellvertretender Direktor der Alsterdorfer Anstalten in Hamburg. Diese gilt als eine der ältesten Einrichtungen der stationären Versorgung von Menschen mit geistigen Behinderungen in Deutschland. Im Zuge der „Euthanasie“-Maßnahmen autorisierte Kreyenberg Verlegungen von Insassen der Alsterdorfer Anstalten in andere Einrichtungen, wo diese größtenteils durch Verhungernlassen oder das Verabreichen von Medikamenten starben. Als Beisitzer am Hamburger Erbgesundheitsgericht befürwortete Kreyenberg, seit 1934 Gaustellenleiter des Rassenpolitischen Amts der NSDAP, Zwangssterilisationen von sogenannten „Schwachsinnigen“ nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, auch in den Alsterdorfer Anstalten. Als Autor wollte er die angebliche Erblichkeit von „Schwachsinn“ belegen.

Quellen und Literatur

Zitierhinweis: Anton Maegerle, NS-Akteure und Kinderkurheime, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.