Ein Sonntag

von Helen E. Mayer

 

Die Kirchenglocken läuten. Wir sitzen noch an den langen weißen Tischen im Esszimmer. Den Kopf über die gefalteten Hände gebeugt, murmeln wir im Chor: „Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns beschereeet hast“.

Noch heute höre ich unsere hellen leiernden Kinderstimmen mit dem abgehackten Rhythmus und dem lustvollen Verweilen auf der letzten Silbe, die das Ende des Gebets und die Erlaubnis ankündigt, sich wieder bewegen und über das Essen stürzen zu können.

Nach dem Frühstück der gleiche Vorgang. „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewigliiiich.“

Zehn Jahre habe ich diese Tischgebete täglich dreimal gesprochen. Zehntausendneunhundertfünfzig Mal - und kein einziges Mal den Sinn dieser Worte erfasst. Kein mild lächelnder Jesus saß mit mir am Tisch. Das Essen schmeckte nicht gerade gesegnet und ich konnte keine göttliche Güte im Esszimmer ausmachen. Auch nicht bei der Andacht, die Tante D. sonntags nach dem Dankgebet hielt. Dabei zitierte sie eine Bibelstelle entsprechend des kirchlichen Jahreskalenders, sprach vom „Lieben Gott“ und von gutem, christlichem Tun. Ihr Tonfall klang belehrend und eindringlich. Wir rutschten auf unseren Stühlen herum und stöhnten. Manchmal bemühte ich mich ihr zuzuhören, aber ihre Worte klangen wie eine fremde Sprache in meinen Ohren, ich verstand einfach nicht, wovon die Rede war.

Nach dem Frühstück rennen wir in unserem Sonntagsstaat - die Mädchen in grauen steifen Kleidchen, die Jungen in dunkelblauen Hosen und weißen Hemden - in den Kieselhof und stürzen ein Steintreppchen hinauf. Die schwarzgekleideten Kirchenbesucher, Männer, Frauen und Kinder aus den umliegenden Dörfern, stehen vor der weit geöffneten Kirchentür, halten ein Schwätzchen, nicken den Ankömmlingen zu. Die Glocken läuten zum zweiten Mal. Im Gänsemarsch laufen wir in die Kirche ein und zwängen uns durch den schmalen Gang zur ersten Reihe vor. Tante D. und Tante L., die eine am rechten, die andere am linken Ende der langen Bank, halten uns mit strengen Blicken in Schach. Ich quetsche mich neben die Kirchenwand mit den bunten Glasfenstern. Deren Figuren bieten mir Abwechslung während des endlos langen Gottesdienstes.
„Kyrie Eleison“, beginnt der Pfarrer zu singen.
Die Gemeinde antwortet: „In Ewigkeit Amen.“
„Gelobt sei Jesus Christus.“

So geht es eine ganze Weile weiter. Dann murmeln alle das Hauptgebet:
Vater unser, der du bist im Himmel.
Geheiligt werde dein Name...
Ich versuche, mich auf die Worte zu konzentrieren.
„Vater unser“ - eine gütige männliche Gestalt mit weißem Bart, die im Himmel thront. „Und vergib uns unsere Schuld.“ Jeden Sonntag bitte ich ihn aufs Neue mir zu verzeihen. Ich war schon wieder böse gewesen, habe Tante D. nicht gehorcht, habe Doktorspiele im Gebüsch mitgespielt. Ich verspreche ihm, nächste Woche ganz bestimmt nicht böse zu sein. Aber das habe ich ihm letzten Sonntag auch schon versprochen. Verzweifelt starre ich auf das dunkelblaue und rote Glasfenster. „Lieber Gott, bitte hilf mir doch, ich schaffe es nicht!“

Aber er hilft mir nicht und allmählich gebe ich meine Ansprachen auf. Dann bin ich halt manchmal böse.

Der Pfarrer in seinem schwarzen Umhang steigt auf die Kanzel und beginnt die Predigt. Auch seine Worte verstehe ich nicht, kann keine Bedeutung darin finden. Es hört sich ernsthaft und schwerwiegend an, aber nicht so anklagend, wie bei Tante D. Die Predigt will und will nicht enden. Ich rutsche auf der Holzbank herum, betrachte den Altar mit den goldenen Kerzenständern auf der blütenweißen Leinendecke, die riesige aufgeschlagene Bibel, das violette Samtband mit dem gestickten Fischsymbol, das bis auf den Boden hängt.

Oh Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn ...

Die Orgel stöhnt, Tränen steigen mir in die Augen. Die Karwoche ist meine Lieblingskirchenzeit. Ich liebe Wehklagen.

Ausklingende Töne, der Gottesdienst ist zu Ende. Wir strömen hinaus in die Sonne, der liebe Gott ist wieder vergessen.

 

Zur Autorin: Helen E. Mayer war von 1955-1965 im Kinderheim Sperlingshof in Wilferdingen bei Pforzheim.

 

ZitierhinweisHelen E. Mayer, Ein Sonntag, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.

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