Menschen oder Arbeitskräfte? Zur Fremd- und Selbstrepräsentation von jenen, die nach Deutschland kamen

Von David Priedemann

‘Gastarbeiter‘ auf dem Weg in die alte Heimat
Die Geschichte der eingewanderten Arbeiterinnen und Arbeiter wurde in Deutschland vor allem durch den Faktor der Fremdrepräsentation geprägt. Freiburg Hauptbahnhof; Italienische ‚Gastarbeiter‘ fahren zu Weihnachten nach Hause, vor Zugankündigungstafel. [Quelle: Staatsarchiv Freiburg W 134 Nr. 072191g]

In den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg fing die deut­sche Wirtschaft wieder an zu wachsen. Deutsche Arbeitskräfte reichten nicht aus, um die Nachfrage der boomenden Industrie zu stillen. Daher entschied die damalige Bundesregierung, ausländische Arbeitskräfte ins Land zu holen. Das erste Anwerbeabkommen wurde 1955 mit Italien abgeschlossen. Später folg­ten Griechenland, Spanien, Marokko, Portugal und Tunesien. Die weitaus meis­ten Migranteninnen und Migranten kamen jedoch ab 1961 im Rahmen eines Abkommens mit der Türkei. „Arbeitskräfte wurden gerufen, aber es kamen Menschen an“ – so singt der aus der Türkei stammende Musiker Cem Karaca auf der CD „Songs of Gastarbeiter“. Die meisten der sogenannten ‚Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter‘ sollten nach dem Willen der Bundesregierung das Land schon bald wieder verlas­sen. Trotzdem entschieden sich viele, in Deutschland zu bleiben, ihre Familien nachzuholen und hier ihren Lebensmittelpunkt zu errichten. Doch hatten jene Menschen aus der Türkei die Möglichkeit, sich in der ‚deutschen‘ Gesellschaft selbst zu repräsentieren und ihre Sicht der Dinge einem breiten Publikum be­kannt und sichtbar zu machen?

Gerufene Arbeitskräfte

Menschen aus der Türkei stießen bei ihrer Ankunft ab den 60er-Jahren oft auf Argwohn und mussten sich aus heutiger Sicht abstrusen Untersuchungen und Befragungen stellen. Zudem wurde ihre Unkenntnis in Bezug auf administra­tive, gesetzliche und gesellschaftliche Abläufe in Deutschland oft ausgenutzt. Sie verrichteten überwiegend unattraktive Arbeiten und bildeten ein Subproletariat, welches es vielen ‚Deutschen‘ ermöglichte höher angesiedelte Berufsfelder zu erreichen.

Heute bilden Menschen aus der Türkei sowie deren Nachkommen in Deutschland die größte islamische Glaubensgruppe und die größte Bevölke­rungsgruppe mit ‚ausländischen‘ Wurzeln. Sie sind immer wieder Gegenstand von Integrationsdebatten.

Menschen, die kamen und blieben

Steckbrett der Firma Bosch
Viele Menschen mussten sich aus heutiger Sicht abstrusen Untersuchungen stellen: Steckbrett zur Untersuchung der Feinmotorik ‚ausländischer‘ Arbeitskräfte, Anfang 70er-Jahre [Quelle: Heimatmuseum Reutlingen]

Im Zuge der ökonomischen Rezession 1966 nahmen in der Bundesrepublik Deutschland jene Stimmen ab, die den wirtschaftlichen Vorteil durch eingewanderte Arbeiterinnen und Arbeiter betonten. Kritische Stimmen wurden lauter. Mit dem sogenannten Anwerbestopp endete die Aufnahme von Arbeitskräften aus Ländern, die nicht Teil der Europäischen Gemeinschaft (EG) waren, im November 1973. Die Bundesregierung begründete diesen Schritt mit finanziellen Risiken im Zusammenhang mit der damaligen Ölkrise. Die ökonomischen Umstände waren eine willkommene Gelegenheit, dem Zustrom von ‚ausländischen‘ Arbeitskräften grundsätzlich ein Ende zu bereiten. Doch die Zahl der eingewanderten Menschen nahm weiter zu. Da auf Seiten der ‚deutschen‘ Bevölkerung zunehmend Ressentiments entstanden, folgten bald Spannungen zwischen ‚Deutschen‘ und eingewanderten Menschen. Im Gegensatz zu Menschen aus EG-Ländern, die eine zunehmende Akzeptanz im alltäglichen Zusammenleben mit den ‚Deutschen‘ erfuhren, wurden Menschen aus der Türkei häufig weiterhin als Fremdkörper angesehen. Dem entsprachen Pläne und Gesetze, die eine Rückkehr dieser Einwanderer förderten. Insbesondere in den 90er-Jahren entwickelte sich in Deutschland eine ausländerfeindliche und rassistische Stimmung, welche sich vor allem gegen Menschen aus der Türkei und deren Nachkommen richtete. Gleichzeitig erkannte man in der deutschen Politik die Notwendigkeit von Integrationsmaßnahmen. Mittlerweile hat sich die türkische Minderheit in Deutschland im öffentlichen Bewusstsein zu einer „dauerhaft ansässigen Einwandererminderheit“ weiterentwickelt.

Eine Frage der Perspektive

In den Medien wurden häufig Bilder gezeichnet, die Menschen aus der Tür­kei als eine Bedrohung darstellten. So konnte sich ein negatives Bild von ein­gewanderten Menschen im Mainstream etablieren. Diese vermittelten Bilder, Vorstellungen und Vorurteile führten oftmals zu sehr realen und zuweilen auch bedrohlichen Konsequenzen für die stigmatisierte Gruppe. In Zeitungsartikeln, Büchern und Fotografien überwog eine ‚deutsche‘ Perspektive auf die Men­schen aus der Türkei, die eigenen Befangenheiten und rassistische Motivationen weder reflektierte noch benannte. Illustrationen und Berichte in Medien wur­den von ‚Deutschen‘ ausgewählt und bestimmt. Die Geschichte der Einge­wanderten wurde eine deutsche Geschichte, geschrieben aus der Perspektive der Etablierten. So wurde die Geschichte der Menschen mit türkischem Bezug in Deutschland vor allem durch den Faktor der Fremdrepräsentation geprägt. Grundsätzlich wertete die ‚deutsche‘ Perspektive die ‚Anderen‘ ab – schon al­leine durch den Umstand, dass diese keine Möglichkeit hatten, sich selbst eine Stimme zu verschaffen. Doch das sollte sich ändern.

Perspektivenwechsel

Den dominanten medialen Darstellungsweisen zum Trotz, gab es auch Bemühungen, die Seite der Menschen aus der Türkei und deren Nachkommen zu verstehen sowie die Dinge aus ihrer Sichtweise darzustellen und nachzuvollziehen. Nennenswert sind hier die Projekte von Günther Wallraff, Gerhard Kromschröder und Marlene Schulz, die sich jeweils als Türke beziehungsweise Türkin verkleidet und ausgegeben haben, um auf diese Weise den Alltag türkischstämmiger Menschen zum einen zu dokumentieren als auch an der eigenen Haut zu erleben. Besonders umfassend war das Projekt des Journalisten Günther Wallraff, der verkleidet versuchte, diverse Lebenssituationen und -umstände eines türkischstämmigen Menschen zu erleben und festzuhalten; dabei machte er überwiegend negative Erfahrungen. Dass seine Veröffentlichungen weitreichende Konsequenzen mit sich zogen und nicht nur auf positive Resonanz stießen, belegt Wallraff in einer ausführlichen Darlegung am Ende seines Werkes. Wallraff blieb grundsätzlich dem Muster der Fremdrepräsentation verhaftet, ebnete aber einen Weg für die Selbstrepräsentation jener Menschen, in deren Haut er zu schlüpfen suchte. Zuschriften bezeugen die Zustimmung zu seinen Schilderungen.

Auch Kromschröder und Schulz hatten ähnlich schlechte Erfahrungen wie Wallraff. Der Umstand, dass diese Formen der Fremdrepräsentation neue Sichtweisen öffneten, konnte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Barrieren zwischen den Etablierten und Außenseitern weiterhin Bestand hatten. Es liegt eine Spur von Exotismus in den Werken der drei genannten Personen – und diese Wirkung hatten die Projekte wohl auch bei vielen ihrer ‚deutschen‘ Leserinnen und Leser.

Sucht man in Sammlungen und Archiven nach Beispielen für Selbstdarstel­lungen von Menschen aus der Türkei, wird man nicht viele finden. Das bedeutet nicht, dass es diese Form der Repräsentation nicht gab, doch sie konnte sich nicht durchsetzen und wurde von den Sammlungsinstitutionen oftmals nicht berücksichtigt. Zudem sagt alleine dieses Vakuum sehr viel aus; den Etablier­ten war vor allem die Sammlung der Fremdrepräsentation wichtig. Vor allem der Bereich der künstlerischen Expression erlaubte es den türkischstämmigen Menschen sich selbst zu repräsentieren. So besangen sie ihr Leben und ihre Arbeit unter den ‚Deutschen‘ – zumeist auf Türkisch. In diesen Liedern spie­geln sich ihre Erfahrungen, Wahrnehmungen, Hoffnungen und Wünsche wider. Zentral ist immer wieder die Beziehung zu den ‚Deutschen‘, von denen sie aber nicht die gewünschte Anerkennung bekommen. Die „Songs of Gastarbeiter“ sind erst im Jahr 2013 für ein breites Publikum erschienen – Jahrzehnte nach der ursprünglichen Publikation durch die Interpreten. Die zementierte Fremdre­präsentation löst sich nur langsam auf. Ansätze, die eine Selbstrepräsentation der Menschen mit einem Bezug zur Türkei zulassen, gibt es erst seit Kurzem.

Das liegt vor allem an der mittlerweile dritten Generation, welche sich in weite Teile der ‚deutschen‘ Gesellschaft vorgearbeitet und durch die Besetzung von Schlüsselpositionen die Möglichkeit erlangt hat, Bilder von sich selbst, den ‚Deutschen‘ und den ‚Türken‘ zu transportieren, die es so früher nicht gab.

Konsequenz

Die Selbstrepräsentation der Menschen aus der Türkei und deren Nachkommen hat nie die gleiche Wirkmächtigkeit wie die Fremdrepräsentation erreicht. Teil­weise wurde sie sie erst nach wohlwollenden Darstellungen durch verkleidete ‚Deutsche‘ berücksichtigt. Die Komplexität der Konstellation von Etablierten und Außenseitern macht ersichtlich, warum es zu so einem unausgewogenen Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdpräsentation gekommen ist: die Etablier­ten bestimmen auch darüber, wie die eingewanderten Außenseiter porträtiert und dargestellt werden, welche Identität sie tragen und welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen. Die eingewanderten Arbeiterinnen und Arbeiter wurden im Allgemei­nen vor allem über ihre Arbeit definiert und wahrgenommen. Es wurde ange­nommen, dass diese ‚Arbeitskräfte‘ das Land wieder verlassen würden. Doch waren diese Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur Arbeitskräfte. Sie waren und sind Men­schen. Diese Erkenntnis ist für eine postmigrantische Forschung unerläss­lich, denn bei dieser soll der Mensch als jeweiliges Subjekt im Fokus stehen und nicht als ein objektiviertes Mitglied einer homogenen und entmensch­lichten Masse verstanden werden. Es gilt demnach, die erzählte und gelehrte Geschichte zu hinterfragen, Fremdrepräsentationen zu erkennen und ihnen ge­genüber aktiv nach der Selbstrepräsentation zu suchen.

Es ist deutlich geworden, dass in der Geschichte der Migration nach Deutsch­land die Fremdrepräsentationen in hohem Maße die Selbstrepräsentationen überwiegen. Das heißt aber nicht, dass es keine Selbstrepräsentation gab, im Gegenteil – sie wurde nur nicht wahrgenommen, gehört oder gesehen. Das Mo­nopol der Fremdrepräsentation und die Handlungsmacht der Etablierten hat dazu geführt, dass es in Gesellschaft, Medien, Archiven und Museen bisher nur wenige Zeugnisse der Selbstrepräsentation gibt. Die Zeugnisse, die vorhan­den sind, zeigen vor allem den zeitgenössischen Blick der ‚Deutschen‘ auf die eingewanderten Arbeiterinnen und Arbeiter. Das trifft auch auf die Sammlungsinstitutio­nen zu. Ausnahmen sind vor allem im Bereich der Musik zu finden. Hier haben die Menschen aus der Türkei ihre Erfahrungen und ihren Alltag in Liedern auf Deutsch und Türkisch besungen. Gehört wurden diese Lieder damals von den Etablierten aber nicht. Erst seit Kurzem hat sich dies geändert. Vielleicht weil die Konstellation von Etablierten und Außenseitern sich langsam verschiebt?

Literatur

  • Elias, Norbert/Scotson, John L., Etablierte und Außenseiter, Frankfurt am Main 1993.
  • Herbert, Ullrich, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001.
  • Karakaşoğlu, Yasemin, Türkische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit der Mitte der 1950er Jahre, in: Klaus J. Bade u.a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007.
  • Kromschröder, Gerhart, Als ich ein Türke war, Frankfurt am Main 1983.
  • Römhild, Regina, Jenseits ethnischer Grenzen. Für eine postmigrantische Kultur- und Gesellschaftsforschung, in: Marc Hill/Erol Yildiz (Hg.), Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld 2015, S. 37-48.
  • Schulz, Marlene, „Meine Name Keskin“. Ich habe mich als Türkin verkleidet, Darmstadt 1985.
  • Todd, Emmanuel, Das Schicksal der Immigranten. Deutschland, USA, Frankreich, Großbritannien, Hamburg 1998, S. 217.
  • Wallraff, Günther, Ganz unten. Mit einer Dokumentation der Folgen, Köln 1988.
  • Yildiz, Erol, Postmigrantische Perspektiven. Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit, in: Marc Hill/Erol Yildiz (Hg.), Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, Bielefeld 2015, S. 19-36.

 

Zitierhinweis: David Priedemann, Menschen oder Arbeitskräfte. Zur Fremd- und Selbstrepräsentation von jenen, die nach Deutschland kamen, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020

Hinweis: Dieser Beitrag von David Priedemann erschien unter dem Titel „Menschen oder Arbeitskräfte? Zur Fremd- und Selbstrepräsentation von jenen, die nach Deutschland kamen“ in der Publikation: Karin Bürkert und Matthias Möller (Hg.): Arbeit ist Arbeit ist Arbeit ist … gesammelt, bewahrt und neu betrachtet. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2019, S. 138-149.

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