Karnevalsumzug in Reutlingen 1911

Von Felix Teuchert

Karnevalsumzug in Reutlingen, 1911 [Quelle: Landesfilmsammlung Baden-Württemberg]  

Einen tiefgreifenden Einfluss auf die Fastnachtstradition übte die Reformation aus. Die Spaltung in Regionen mit und ohne Fastnachtstraditionen ist wohl gerade auf die konfessionelle Spaltung seit dem 16. Jahrhundert zurückzuführen. Da das Fasten als Zeichen einer veräußerlichten Frömmigkeit sowohl in der lutherischen als auch in der reformierten Theologie nicht sonderlich geschätzt und teilweise sogar abgeschafft wurde – in Zürich fand beispielsweise im März 1522 ein demonstratives Wurstessen während der Fastenzeit statt – verlor auch die Fastnachtstradition in den evangelischen Territorien ihren Sinn und brach ab. So auch in Reutlingen, das eine Hochburg des württembergischen Protestantismus war. Der hier wirkende Prediger Matthäus Alber, der auch als „schwäbischer Luther“ gilt, führte ab 1519 die Reformation in der Reichsstadt ein. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Karnevalisierung, d.h. die Ausbreitung des rheinischen Karnevals hatte ebenfalls einen tiefgreifenden Effekt auf die schwäbisch-alemannische Fastnacht. Dass die Karnevalisierung auch protestantische Territorien ergriff, zeigt, dass sich der Zusammenhang von Karneval und Konfession mittlerweile entkoppelt und der christliche Hintergrund des Festes an Bedeutung verloren hatte. Als (säkulares) Volksfeste blieben Karneval und Fastnacht jedoch erhalten.

Dieser Filmausschnitt aus dem Jahr 1911 gibt ein eindrucksvolles Zeugnis von der Karnevalisierung. Im Video sind die im rheinischen Karneval üblichen Mottowagen zu sehen, so der Wagen einer Blaskapelle, der an einen riesigen Kinderwagen erinnert, und ein Wagen mit der Aufschrift „Fremdenverkehrs-Verein“, auf dem sich Menschen mit orientalisch aussehenden Gewändern und Turbanen befinden. Solche koloniale Stereotype waren beliebte Elemente der Karnevalsumzüge jener Zeit und verdeutlichen den zeittypischen Kolonialismus, der sich auch in der Populärkultur niederschlug. Die im schwäbisch-alemannischen Raum üblichen Weißnarren treten hier hingegen nicht auf, stattdessen tragen viele der Herren – ganz bürgerlich – Anzug und Hut. Schon die Betitelung des Films als „Karneval“ anstelle von „Fastnacht“ deutet auf die rheinische Prägung.

Seit den 1880er Jahren, vor allem aber mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts setzte allmählich die Gegenbewegung ein, also die Rückbesinnung auf die schwäbisch-alemannische Fastnacht mit ihren Narrensprüngen und Weißnarrenfiguren in historischen Gewändern. In diese Zeit fällt auch die Gründung der meisten Narrenzünfte, die bis heute über die Einhaltung der schwäbisch-alemannischen Tradition wachen. Infolge von Reformation und Abbruch der Fastnachtstradition fiel es in Reutlingen allerdings schwerer, an die schwäbisch-alemannische Fastnachtstradition anzuknüpfen, die andernorts bis ins 19. Jahrhundert lebendig geblieben, in Reutlingen aber bereits im 16. Jahrhundert abgebrochen war. Folglich konnten sich die rheinischen Karnevalselemente im protestantischen Reutlingen länger halten als in den klassischen Fastnachtshochburgen wie Rottweil und Villingen. Heutzutage wird jedoch auch in Reutlingen wieder eine schwäbisch-alemannische Fastnacht gefeiert, die sich an den umliegenden Regionen orientiert.

Literatur

  • Bischoff-Luithlen, Angelika/Keim, Karl/Vöhringer, Alfred, Volkskundliche Skizzen, in: Der Kreis Reutlingen, Stuttgart/Aalen 1975, S. 187-208.
  • Mezger, Werner, Schwäbisch-Alemannische Fastnacht. Kulturerbe und lebendige Tradition, Darmstadt 2015.

 

Zitierhinweis: Felix Teuchert, Karnevalsumzug in Reutlingen, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 09.11.2020

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