Zwischen Dialekt und Standardsprache

Von Rudolf Bühler

 Konferenzaufsatz 1860
Sprachaufsatz aus Drackenstein OA Geislingen, 1860-1861 [Quelle: Landesmuseum Württemberg] [Quelle: Landesmuseum Württemberg]

Unser eigenes Verhältnis zum Dialekt ist nicht immer ganz unverkrampft, so zeigen es zahlreiche Untersuchungen. Uns wurde und wird in der Schule beigebracht, dass Dialekt nur unkorrektes Deutsch sei und nur die normierte Standardsprache eine fehlerfreie schriftliche wie mündliche Kommunikation ermögliche. Doch worauf begründet sich das ambivalente Verhältnis zu unserer gesprochenen Sprache, die uns als Idiom der Eltern und Großeltern einerseits vertraut und alltäglich erscheint, uns aber andererseits im Gespräch mit Fremden oder auf der Karriereleiter angeblich behindern soll?

Bis zum Ende des Mittelalters schrieb man weitgehend so wie man sprach. Die geschäftliche und administrative Korrespondenz wurde, solange nicht auf Latein, durch geschulte Schreiber in der eigenen oder der ortsüblichen Mundart verfasst. Die Erfindung des Buchdrucks und die Entstehung neuer Wirtschaftszentren in Süddeutschland brachte für unsere Schriftsprache zu Beginn der Frühen Neuzeit zwei entscheidende Entwicklungen mit sich: Zum einen wurde durch den Aufstieg oberdeutscher Kaufmannsdynastien der Einfluss der hochdeutschen (im Gegensatz zu den zuvor durch die Hanse geprägten niederdeutschen) Mundarten gestärkt. Zum anderen entstanden durch den Buchdruck sogenannte Schreibschulen, die sich bei der sprachlichen Ausprägung der von ihnen verlegten Schriften an den Sprech- und Schreibgewohnheiten potentieller Käufergruppen und ihrer Sprachräume orientierten. Martin Luther wird als Übersetzer der Bibel oft als die prägendste Kraft in Bezug auf die Entwicklung des Schriftdeutschen als Sprache für die überregionale Kommunikation genannt. Letztlich waren es die Drucker und Verleger, die durch ihre Erzeugnisse den Beginn der Entwicklung unserer heutigen Schriftsprache maßgeblich beeinflussten. Denn anfangs war die Schriftsprache tatsächlich nur das: eine schriftliche Form der Sprache zur überregionalen Kommunikation, die nur geschrieben und nicht gesprochen wurde. Erst im 19. Jahrhundert erlangte die Schriftsprache durch die Bildung der Nationalstaaten auch Bedeutung als gesprochene Sprache, die spätestens nach der Reichsgründung 1870 und dem Aufstieg des Bürgertums für das ganze Deutsche Reich einheitlich gelehrt und gelernt werden sollte. Daher kommt auch unsere heute immer noch verbreitete Vorstellung, dass es nur die eine Standardsprache geben kann, innerhalb derer regionale Abweichungen und Varianten, wenn überhaupt, nur eingeschränkt Gültigkeit haben können.

Im Zuge dieser Erhöhung der Schriftsprache zur allgemeinen Sprachnorm, zur Sprache der Forschung und der Lehre, entstand ein soziales Sprachverständnis, dem jeder Bildungsbürger gerne folgte. Eine hohe Varietät in der mündlichen Ausdrucksform sollte Bildungsniveau und gesellschaftlichen Stand der Angehörigen jener Schicht unterstreichen, die seit der Reichsgründung besonders vom wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg profitiert hatte. Die Mitglieder der neuen Bildungselite wiesen sich gegenseitig durch ihren Sprachduktus aus, wodurch die Standardsprache als gesprochene Varietät nicht nur Werkzeug eines modernen Sprachverständnisses wurde, sondern als sozialer Nachweis zum Accessoire der Zugehörigkeit einer Bevölkerungsgruppe avancierte.

Außerhalb der gebildeten Zirkel waren die örtlichen Mundarten wie bisher das übliche Mittel der mündlichen Kommunikation. Im Gegensatz zur Sprache der neuen elitären Bürgerschicht erschienen die auf dem Land gesprochenen Dialekte nun rückständig, ihre Sprecherinnen und Sprecher ungebildet. Der Begriff „Hochdeutsch“, der bis dahin nur die landschaftliche Bezeichnung für die Mundarten im süddeutschen „Hoch“-Land im Gegensatz zum norddeutschen „Tief“-Land war, wurde allmählich gleichgesetzt mit der „Hochsprache“. Der ursprünglich geographische Ausdruck erhielt somit eine gesellschaftliche Bedeutung. Dadurch entstand vor allem in den Städten die Meinung, die Hochsprache sei nun das „richtige“ Deutsch, die Dialekte jedoch fehlerhaft. Auch heute fühlen sich Sprecherinnen und Sprecher aus Baden-Württemberg häufig stigmatisiert, wenn sie mit Nicht-Dialektsprechern in ihrer eigenen Mundart sprechen.

Dabei ist die ausschließliche Unterscheidung zwischen „Schriftdeutsch“ und „Dialekt“ in Süddeutschland längst nicht mehr so eindeutig möglich. Die Sprecherinnen und Sprecher aus dem Süden verfügen zwischen den beiden Enden dieser Skala über zahlreiche Zwischenstufen, die je nach Gesprächspartner, -ort und -anlass gewählt und sowohl bewusst als auch unbewusst eingesetzt werden können. So entstehen regionale Umgangssprachen, die sich nicht mehr einem einzigen Ort zuordnen, sondern nur noch großräumig unterscheiden lassen. Wenn wir also nicht perfekt nach der Schrift sprechen, so bedeutet das nicht automatisch, dass wir dann auch unseren tiefsten Ortsdialekt verwenden.

Der Tübinger Dialektforscher Arno Ruoff hat diese Sprachstufen einmal für das Schwäbische durch einen Beispielsatz veranschaulicht, der zeigen kann, wie sich Lautung, Grammatik und Wortschatz zwischen Standardsprache und Grundmundart schrittweise ändern können. Dabei unterschied er:

 

Standardsprache:                                            Ich musste dort hinüber zur Arbeit.

großräumige Umgangssprache:                      I hab da nüber müssa ins Gschäft.

Regionalsprache:                                            I han då nom missa zom Schaffa.

Ortsmundart:                                                 I hao miassa sält na ge schaffa.

 

Das Wort müssen, das wie Kühe, Gemüse, Füße oder Stühle auf eine mittelalterliche Lautung üe zurückgeht, wird in den meisten Ortsmundarten Baden-Württembergs wie hier im Beispielsatz 4 ausgesprochen. Die Veränderung von miassa über missa und müssa folgt der Vorstellung, dass die korrigierten Lautungen großräumiger verstanden und akzeptiert werden als die der Ortsmundart. Die grundmundartliche (schwäbische) Form hao der 1. Person von haben wird zugunsten einer Variante der Stuttgarter Umgangssprache mit han ersetzt, bevor die Form hab, die dem Schriftdeutschen schon sehr nahe ist, verwendet wird. Im Satz der Standardsprache wird schließlich die Perfektform Ich habe müssen mit Ich musste ins Präteritum gesetzt, das in den süddeutschen Mundarten gänzlich ungebräuchlich ist und somit am standardnächsten erscheint. Der Austausch des Wortes schaffen wird durch die unterschiedliche Bedeutung zweier gleichklingender Wörter notwendig: Das schwache Verb schaffen (Partizip ich habe geschafft) aus dem Dialekt steht allgemein für ‚arbeiten‘, während das starke Verb schaffen (Partizip ich habe geschaffen) in der Standardsprache für die Bedeutung ‚erschaffen‘, ‚formen‘ steht. In diesen Beispielsätzen wurden noch mehr Lautungen und Formen verändert, die man mit etwas Nachdenken herausbekommen kann. Es gibt natürlich noch weitere Wörter, die gleichlautend in Mundart und Standardsprache unterschiedliche Bedeutungen haben, etwa heben, halten oder lupfen. Welche Zuordnungen lassen sich wohl damit verbinden?

Anders herum gibt es auch den Fall, dass für die gleiche Sache unterschiedliche Bezeichnungen verwendet werden, die mitunter sogar beide zum Repertoire des Standarddeutschen gehören. Welche Variante wird aber dann bevorzugt verwendet oder gelten beide gleich viel? Besonders bei Begriffen, die bei ihrer räumlichen Verteilung einen Nord-Süd-Gegensatz aufweisen, so hat eine Umfrage unter Deutschlehrern an Gymnasien in Baden-Württemberg ergeben, wird meist der norddeutsche Ausdruck favorisiert, wie zum Beispiel bei Junge und Bub, Möhre und Gelbe Rübe, Harke und Rechen oder Abendbrot und Nachtessen.

Literatur

  • Bausinger, Hermann, Deutsch für Deutsche. Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprachen, Frankfurt am Main 1972.
  • Bausinger, Hermann, Der herbe Charme des Landes. Gedanken über Baden-Württemberg, Tübingen (4. Auflage) 2011.
  • Bühler, Rudolf/Rebekka Bürkle/Nina Kim Leonhardt (Hrsg.), Sprachkultur – Regionalkultur. Neue Felder kulturwissenschaftlicher Dialektforschung [Studien und Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 49], Tübingen 2014.

 

Zitierhinweis: Rudolf Bühler, Zwischen Dialekt und Standardsprache, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020

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