Schwäbischer Pietismus
Von Karina Beck
Der Pietismus ist eine Frömmigkeitsbewegung aus dem 17./18. Jahrhundert, die nicht nur in Württemberg viele Anhänger fand, dort aber die Gesellschaft weitreichend beeinflusst hat. Bis heute prägt der „schwäbische Pietismus“ die Württembergische Landeskirche.
Im 17. Jahrhundert herrschten im Land Armut und Hungersnot wegen der vielen Kriege (Der Dreißigjährige Krieg, Einfälle der Franzosen unter Ludwig XIV., „Türkenkrieg“). Man sehnte sich nach besseren Zeiten. Manch einer glaubte gar, die Endzeit wäre angebrochen und die Wiederkunft Jesu Christi stehe kurz bevor. Die verunsicherten Menschen suchten Trost und Zuspruch im Gebet und in der Bibel, fanden aber bei der Amtskirche keinen Halt. Dazu kam das vergleichsweise üppige Leben am württembergischen Hofe, das in deutlichem Widerspruch zur leidenden Bevölkerung stand.
Immer mehr fromme Menschen grenzten sich von der in ihren Augen gottlos gewordenen weltlichen und kirchlichen Obrigkeit ab. Sie blieben den Gottesdiensten fern und führten ein bescheidenes, gesittetes Leben, erfüllt von Bibelstudium und Gebet. In sogenannten Erbauungsstunden trafen sich Gleichgesinnte, stützten und ermahnten sich gegenseitig, beteten miteinander und legten die Bibel aus. Die „Heiligung“, also ein Leben nach Gottes Wort und Willen, wurde angestrebt. Die Obrigkeit betrachtete diese Strömung zunächst sehr kritisch und witterte in den „Stunden“ Orte des Aufruhrs. Gegen manche „Pietisten“ wurde vorgegangen.
Der Begründer des Pietismus
Als eigentlicher Ursprung des Pietismus gilt Philipp Jakob Speners 1675 erschienene Schrift „pia desideria“: Darin wird das Urchristentum als Vorbild eines christlichen Lebens vor Augen geführt. Dieses Ideal sei von einem Gläubigen durch innere Umkehr und damit einer Art persönlicher Wiedergeburt zu erreichen. Spener etablierte in Frankfurt am Main auch die ersten Erbauungsstunden, „collegia pietatis“, „Versammlungen der Frömmigkeit“ genannt. Der Pietismus verbreitete sich im ganzen deutschsprachigen Gebiet. Bekannte Vertreter waren August Hermann Francke (1663-1727), Gründer der Franckeschen Stiftungen in Halle, und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760), der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine in Sachsen.
Der württembergische Weg
In Württemberg wurden Johann Albrecht Bengel (1687–1752) und Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) zu den führenden Theologen des Pietismus. Mit ihren Werken beeinflussten sie verschiedene nachfolgende Geistesströmungen: den philosophischen Idealismus von Hegel und Schelling genauso wie die Ideen Philipp Matthäus Hahns, Adolf Schlatters oder Johann Christoph Blumhardts. Der Pietismus führte auch zu Gemeindegründungen. So entstanden nach dem Vorbild Herrnhuts die Gemeinden Königsfeld (1806), Korntal (1819) und Wilhelmsdorf (1824).
1743 erließ der württembergische Herzog auf Betreiben Bengels ein „Generalreskript“, das den Pietisten die Freiheit einräumte, ihre Stunden zu halten, jedoch nicht ohne Wissen des Pfarrers. Damit hatte der Pietismus in Württemberg eine von der Amtskirche getragene Sonderstellung, die die Landeskirche bis heute prägt. 1993 wurde zum 250jährigen Jubiläum des Gesetzes eine aktualisierte Fassung des Pietistenreskripts in die Ordnung der Landeskirche aufgenommen. Dort heißt es: „Die (pietistischen) Gemeinschaftsverbände gestalten als freie Werke in der Landeskirche ihre Arbeit in eigener Verantwortung.“ Zu diesen Gemeinschaftsverbänden zählen etwa: der Gemeinschaftsverband Württemberg e.V. (Apis), der Süddeutsche Gemeinschaftsverband, die Liebenzeller Gemeinschaft, der Württembergische Christusbund (früher: Brüderbund), die Hahnsche Gemeinschaft und die Aidlinger Schwestern.
Der breite und der schmale Weg
Die Stuttgarterin Charlotte Reihlen (1805-1868) prägte den schwäbischen Pietismus auf ganz eigene Weise. 1866 erschien erstmals das von ihr in Auftrag gegebene Bild vom „breiten und schmalen Weg“. Es bezieht sich auf eine Bibelstelle aus der Bergpredigt Jesu (Matthäus 7, 13f.), in der der Weg zum ewigen Leben als ein „schmaler Weg“ mit einer „engen Pforte“ beschrieben wird, während der Weg ins Verderben breit sei. Dieses Bild, von dem es über die Jahre mehrere Versionen gab, hing und hängt bis heute in vielen pietistisch geprägten Familien an der Wand. Es zeigt den breiten Weg, gesäumt von Spielhallen und Frevel, der ins Verderben führt. Der schmale Weg des Gebetes und der Fürsorge für andere endet im himmlischen Jerusalem.
Wohl und Wehe des schwäbischen Pietismus
Der Pietismus hat Württemberg geprägt mit seinem bescheidenen Arbeitsethos, dem selbständigen Denken und der eigenen Gewissenserforschung. Er gab den Anstoß zu vielen Projekten der sogenannten „inneren Mission“, der Fürsorge gegenüber den Schwachen der Gesellschaft. Dennoch erlag der schwäbische Pietismus auch immer wieder der Gefahr, sich über andere „Unfromme“ zu erheben oder die Welt in Schwarz und Weiß zu malen. Auch eine Tendenz zur Weltabgewandtheit bis hin zur Gegnerschaft gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen mit dem Hinweis auf die unveränderlichen Gesetze Gottes kann in manchen pietistischen Gemeinschaften beobachtet werden.
Der ehemalige Landesbischof der evangelischen Kirche in Württemberg Helmut Claß (1913-1998) sagte einmal: „Die Kirche ohne Pietas (Frömmigkeit) verflacht, der Pietismus ohne Kirche verengt.“
Zitierhinweis: Karina Beck, Schwäbischer Pietismus, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020