Neue Kleider für den Leib: Reformkleidung zwischen Reformsack und Haute Couture
Von Carmen Anton
Um 1900 regte sich, nach langjährigen gesellschaftlichen Debatten, in breiter Öffentlichkeit ein kritischer Umgang mit den bisherigen Moden und den mit ihnen zusammenhängenden Lebensbedingungen, insbesondere für Frauen. Im Resultat erstarkte das Konzept der sogenannten Reformkleidung, die als Teil der Lebensreform sowie Strömung innerhalb des Jugendstils gewertet wird.
Die Träger dieser Bewegung entstammten verschiedenen sozialen Gruppen und verfolgten entsprechend unterschiedliche Motive. Anhängerinnen der noch jungen Frauenbewegung forderten komfortablere, weniger einschränkende und schlicht weg praktischere Kleidung, die den nun vermehrt berufstätigen Frauen die nötige Mobilität gewährleisten sollte. 1895 galten um die 37% der Frauen als berufstätig, 1907 bereits über 45%, wobei beiden zeitgenössischen Aufstellungen eine gewisse Ungenauigkeit attestiert wird. Der Begriff der „mithelfenden Familienangehörigen“ wurde damals recht ausgedehnt verwendet, weswegen die tatsächliche Quote mutmaßlich die zitierten Werte übersteigen dürfte.
Mediziner äußerten gesundheitliche Bedenken bezüglich der sehr einschränkenden, schweren und den Körper beengenden Kleidung. Sie warnten vor möglichen Spätfolgen des Korsetts und, als sie allein durch ihre fachlichen Erwägungen wenig Gehör fanden, im Appell an die weibliche Eitelkeit gar vor möglicherweise dauerhaften Deformationen.
Außerdem ließ die verstärkte Teilnahme der Damenwelt an sportlicher Betätigung den Ruf nach hierfür geeigneter Kleidung nachvollziehbarer Weise ebenfalls erstarken. Gleichzeitig erhöhte der sportliche Kontext wenigstens situativ die gesellschaftliche Akzeptanz entsprechender Garderobe.
Eine Moderevolution im Kampf gegen das Korsett
Der gemeinsame Feind all dieser Akteure war vorrangig das auf Wespentaille ausgerichtete Korsett. Frauen der arbeitenden Klassen, deren Kapital ihnen zumeist bloß den Kauf von Stangenware statt maßgeschneiderter Kleidung ermöglichte, mokierten seinen negativen Einfluss auf körperlichen Bewegungsspielraum wie auch Atmung, was besonders für körperlich arbeitende Frauen wie Dienstmädchen, Fabrikarbeiterinnen und Krankenschwestern äußerst hinderlich war und ihnen die Teilnahme am Sport weitgehend unmöglich machte. Zeitgenössische Ärzte attestierten dem Einschnüren des Oberkörpers ferner - aus heutiger Perspektive teilweise fragwürdig anmutende - Ursächlichkeit für Deformationen der inneren Organe, Schädigung der Gebärmutter im Speziellen, vereinzelter Krebsarten sowie der sogenannten „Schnürleber“, ein Resultat besonders enger Taillenschnürung, bei der die Rippen so sehr komprimiert wurden, dass sie Abdrücke in der Leber hinterließen.
Aber auch die zahlreichen Unterröcke, mit welchen die Figur der Frau der Mode entsprechend ausgepolstert wurde, erregten aufgrund ihrer unpraktischen Fülle sowie ihres enormen Gewichts Anstoß.
1896 gründete sich der „Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung“ in Berlin. Weitere Zweigstellen und Vereinshäuser im gesamten Reich sollten folgen. Bereits ein Jahr später konnte er 35 Hersteller für eine erste von ihm organisierte Ausstellung von Reformmodellen gewinnen. Hosen fanden hierbei indes keinen Anklang. Der große Widerstand, mit dem Vorreiter der Bewegung in England und Amerika zu kämpfen hatten und an denen ihre Hosenanzüge für die Frau letztlich auch gescheitert waren, ließen den Verein weitere Vorstöße dieser Art als unrealistisch verwerfen. Ein pragmatischer Ansatz, an dem gemessen sie manch anderen Reformern als zu wenig radikal galten.
Die frühesten Reformkleider waren bewusst taillenlos gearbeitet. In einer Epoche, die sich modisch der Sanduhrsilhouette verschrieben hatte, konnten sie jedoch kaum Zuspruch finden. Stattdessen wurden sie – nicht zuletzt von der zeitgenössischen Presse – abschätzig als „Reformsäcke“ bezeichnet. Anders als zuvor hing das Reformkleid nicht mehr an der Taille, sondern sollte mit seinem Gewicht vor allem auf den als belastbarer gewerteten Schultern ruhen. Dies bedeutete, dass Röcke entweder an den Büstenhalter bzw. einem der neuen, die natürliche Figur lediglich nachzeichnenden Reformkorsetts oder an ein Oberteil angeknöpft wurden, sodass sich das Gewicht über Träger oder Stoff wiederum auf die Schultern verteilte. Manche Modelle verfügten gar über eigene Träger. Außerdem wurde auf mehr als einen Unterrock verzichtet.
Größeren Gefallen als die als formlos empfundenen Obergewänder fanden jedoch schon früh die neuen Beinkleider als Teil der Unterwäsche. Anders als ihre Vorgänger waren sie zwischen den Beinen geschlossen. Dadurch waren sie nicht bloß hygienischer, sondern wärmten ihre Trägerin gerade im Winter auch deutlich effektiver. Eine eigens dafür eingearbeitete Stoffklappe erlaubte einen unkomplizierten Toilettengang.
Mehr Anklang als den „Reformsäcken“ wurde den sich der Empire-Mode des frühen 19. Jahrhunderts annähernden Modellen mit zwar hoher, aber doch ersichtlicher Taille zuteil. Außerdem stand – wie bereits ein Jahrhundert zuvor – die Antike, insbesondere die Toga, Pate für neue Designkonzepte. Ebenfalls Verbreitung fand mit den Jahren der sogenannte Prinzess-Schnitt.
Weitere allgemeine Merkmale der Reformmode waren das Verkürzen, teilweise gar gänzliche Entfernen der Schleppe, sowie primär in der Straßenmode das Verkürzen der zuvor bodenlangen Röcke, sodass die Füße zu sehen und die Bewegungsfreiheit verbessert war. Gerade förmliche Anlässe verlangten indes weiterhin nach bodenlangem Saum.
In breiter Masse durchsetzen konnte sich die Reformkleidung trotz ihrer praktischen Vorteile lange Zeit nicht. Sie entsprach schlicht nicht dem gängigen Zeitgeschmack. Erst ihre späteren Ausformungen durch namhafte Designer sowie die radikal geänderten Lebensumstände der Frau im Ersten Weltkrieg, die einerseits verstärkt körperlich anspruchsvolle Arbeit verlangten und andererseits mit einer Knappheit an Stoff und dem für die Korsetts verwandten Stahl einhergingen, begann der nun umso eiligere Niedergang der Modeideale des 19. Jahrhunderts.
Emmy Schoch – Modische Reformkleidung aus Karlsruhe
Karlsruhe galt als eines der maßgeblichen Zentren des Jugendstils in Südwestdeutschland. Prägend für das Bild der Stadt war, verglichen mit anderen, zeitgleich ähnlich bedeutsamen Städten, der Mangel an Einheitlichkeit bezüglich der adaptierten Strömungen des Jugendstils. Dies galt sowohl in der Architektur wie auch in Kunst und Mode. Reformstil und expressionistische, reich mit floralen Ornamenten arbeitende Formen existierten nebeneinander, umgeben von diversen stilistischen Experimenten und Mischformen.
Seit 1902 existierte auch in Karlsruhe ein Verein für Verbesserung der Frauenkleidung. In diesem Umfeld wirkte ab März 1906 die 1881 geborene Schneiderin Hermine Emilie Schoch-Leimbach, besser bekannt als Emmy Schoch. Die Modeschöpferin tat sich derweil nicht einzig durch ihre extravaganten und auf Bequemlichkeit bedachten Entwürfe hervor, sondern organisierte auch Informationsveranstaltungen und Vorträge in Karlsruhe sowie auch in anderen Städten des Reiches, in deren Zuge sie gewöhnlich aktuelle Modelle ihres Repertoires vorführte.
Über dieses Engagement hinaus beteiligte sich die Modeschöpferin in der „Zentralstelle für erprobte Unterkleidung“, welche Schnittmuster und Wäschestücke sammelte und mitunter auch ausstellte.
Das Atelier Schoch avancierte innerhalb weniger Jahre zu einem der renommiertesten seiner Art und sollte ferner einmal zu den langlebigsten Reformkleidateliers gerechnet werden. Als Unternehmerin kontrollierte Emmy Schoch beinahe alle Arbeitsschritte ihrer Werke und verfügte neben der obligatorischen Zeichenwerkstatt auch über eine eigene Handweberei, Handstickerei, Näherei, Maschinenstickerei sowie eine Werkstatt für Herrengehhilfen. 1911 beschäftigte sie bereits um die 50 Angestellte. Drei Jahre später stieg die Zahl sogar auf rund 60 Mitarbeiter. Unterstützt wurde Schoch dabei von ihrem Ehemann, Max Leimbach, der seine Stellung als Bankier nach der Eheschließung aufgab und sich stattdessen fortan um die Finanzen der Werkstatt seiner Gattin kümmerte.
Selbst der Erste Weltkrieg tat ihrem Erfolg keinen Abbruch. Zwar musste sie ihren Gatten in den Krieg verabschieden und konnte zunächst bloß eine verkleinerte Stammbesetzung, bestehend aus ihren wichtigsten Mitarbeiterinnen halten. Aber durch den mangelnden Austausch der Modewelt des Deutschen Reiches mit den zuvor so begehrten neuesten Entwürfen der französischen Mode in Paris erhöhte sich das Interesse an Schochs Eigenkreationen sogar, obschon die Geldbörsen der Kundinnen empfindlich an Inhalt einbüßten.
Emmy Schoch präsentierte ihre Werke auf zahlreichen deutschen wie auch ausländischen Ausstellungen und wirkte darüber hinaus als Publizistin an der Zeitschrift „Frauenkleidung und Frauenkultur“ mit.
Selbst verstand Schoch sich vor allem als Kunstgewerblerin, nicht als Schneiderin, die sich funktions- und materialgerechte Designs zum Ziel erkoren hatte.
Nach der „Machtergreifung“ Hitlers bewarb sich Schoch bereits 1933 beim Modeamt in Berlin und beteiligte sich an ersten Kreationen der von der Regierung angestrebten neuen, deutschen Mode. Ihre Versuche, mit dem Innenministerium direkt in Kontakt zu treten und dort ihre Ideen vorzustellen, scheiterten indes. Ihre Briefe blieben unbeantwortet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Niedergang der Maßschneiderei konnte Schoch nicht mehr an ihre früheren Erfolge anknüpfen. Bis 1953 führte sie ihren Betrieb, ehe sie sich in den Ruhestand begab. Verstorben ist Emmy Schoch am 28. November 1968.
Literatur
- Berger, Peter A., Umfang und geschlechtsspezifische Struktur der Erwerbstätigkeit, in: Entstrukturierte Klassengesellschaft? Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung. Vol 83, Wiesbaden 1986.
- Braun, Adrienne, Künstlerin, Rebellin, Pionierin. 20 außergewöhnliche Frauen aus Baden-Württemberg, Konstanz 2016.
- Link, Edeltraud, Die Jugendstilkünstlerin Emmy Schoch, in: Heimatgruß aus Lichtenau 2011, S. 108-113.
- Welsch, Sabine, Ein Ausstieg aus dem Korsett. Reformkleidung um 1900, Darmstadt 1996.
Zitierhinweis: Carmen Anton, Neue Kleider für den Leib: Reformkleidung zwischen Reformsack und Haute Couture, in: Alltagskultur im Südwesten. URL: [...], Stand: 08.08.2020