Küche, Schlafzimmer und gute Stube

Die Wohnräume der Familie Gayer im Museum der Alltagskultur werden virtuell rekonstruiert

Von Heiko Stachel

Die virtuelle Rekonstruktion
Erste Schritte auf dem Weg zur virtuellen Rekonstruktion der Wohnräume der Familie Gayer [Foto: Inka Friesen]

Küche, Schlafzimmer, gute Stube: Diese drei Wohnräume der Familie Gayer befinden sich im Museum der Alltagskultur im Schloss Waldenbuch. Sie verraten sehr viel über die Lebensumstände dieser Familie aus dem Dorf Siegelsbach bei Heilbronn. In einfachen Verhältnissen lebten die Gayers hier über mehrere Generationen bis 1975, zuletzt Johanna Gayer allein.

1978 wurde der nahezu unveränderte Wohnzustand vor Ort umfassend dokumentiert, ins Museum der Alltagskultur übernommen und dort 1989 weitgehend originalgetreu aufgebaut – allerdings auf einer Ebene und nicht wie in Siegelsbach verteilt auf Erd- und Obergeschoss.

Was beim Abbau von Küche, Schlaf- und Wohnzimmer nicht übernommen werden konnte, waren vor allem Tapeten und Wandverkleidungen, Decken und Bodenbeläge. Daraus entstand die Idee, die ausgestellten Räume virtuell zu vervollständigen und über einen Rundgang erlebbar zu machen. Möglich wurde dies dank der im Museum der Alltagskultur aufbewahrten Unterlagen zum Originalzustand.

Von den Originalräumen gab es eine gezeichnete Wandabwicklung mit angedeuteten Materialien und eingezeichneter Möblierung. Zudem waren eine ausführliche Schwarz-Weiß-Fotodokumentation und drei Farbbilder vorhanden, mit deren Hilfe die restlichen Oberflächen, also zum Beispiel Tapetenmuster oder Holzvertäfelung, virtuell rekonstruiert werden konnten.

Die Arbeit begann mit dem Fotografieren der Wohnräume im Museum der Alltagskultur in Waldenbuch. Dafür wurde jeder Raum von einem festen Standpunkt aus als 360°-Panorama fotografiert – mit Ausnahme der Küche: Hier waren aufgrund der baulichen Gegebenheiten zwei Standpunkte notwendig. Um die einzelnen Arbeitsschritte besser nachvollziehen zu können, wird auf den folgenden Bildern immer derselbe Standpunkt in der Küche gezeigt.

Die virtuelle Rekonstruktion
links: Heiko Stachel fotografiert die Panoramen im Museum der Alltagskultur“ [Foto von Inka Friesen]; rechts: Panoramaaufnahme im Museum der Alltagskultur in equirectangularer Darstellung . Dabei handelt es sich um die Darstellung eines Kugel-Bildes als rechteckiges Bild. Zum Beispiel ist eine rechteckige Weltkarte die equirectangulare Darstellung eines Globus

Im nächsten Schritt galt es, mit Hilfe der im Museum vorhandenen Wandabwicklungen ein 3D-Modell der Küche zu erstellen.

Die virtuelle Rekonstruktion
links: 3D-Modell der Küche mit gezeichneter Wandabwicklung; rechts: 3D-Modell der Küche mit Panorama-Kugel [Quelle: Heiko Stachel]

Im virtuellen Raum wurde nun um das 3D-Modell der Küche herum eine Kugel erzeugt, auf deren Oberfläche das Bild des fotografierten Panoramas gelegt wurde. Das Zentrum dieser Kugel wurde genau in den Punkt gelegt, in dem die Kamera ursprünglich stand. Nun jedoch nicht in der im Museum wiederaufgebauten Küche, sondern in der virtuell rekonstruierten 3D-Küche.

Ein 360°-Panorama ähnelt einer Kugel, in deren Zentrum die Betrachtenden sitzen. Würde man einen übergroßen Wasserball von innen mit dem Küchen-Panorama bedrucken und gut beleuchten und würde dann genau vom Kugelzentrum aus in alle Richtungen geblickt, wäre der Eindruck vergleichbar mit dem Erlebnis, direkt in der Küche zu sitzen. Anschließend konnte vom Kugelzentrum ausgehend in alle Richtungen die Überlagerung des 3D-Modells mit dem fotografierten Panorama (die Kugel) betrachtet werden.

Die virtuelle Rekonstruktion
Blick in Richtung Spüle mit der Überlagerung 3D-Modell - Panoramafotografie [Quelle: Heiko Stachel]

Diese Überlagerung half, die Position der Kamera zu optimieren. Anschließend war dies die Arbeitsumgebung, in der die noch fehlenden Objekte und Oberflächen in das 3D-Modell einzupassen waren. Neben Tapeten und Sockelleisten, Fenstern und Türen waren dies auch alle Objekte, die an den im Museum nur durch Stellwände angedeuteten Wänden hingen. 3D-Objekte wie Sockelleisten, Stützen, Balken, Kalender, Fotos oder eine Neonröhre konnten mit Hilfe der Überlagerung der Originalaufnahmen realistisch modelliert werden. Da Boden, Wand und Decke aus gleichmäßigen, ebenen Oberflächen bestanden, musste in den Archivfotos nur jeweils ein guter Ausschnitt gefunden und so aufbereitet werden, dass daraus ein sich wiederholendes Muster entstand. Bei den Bretterwänden sind zum Beispiel nur ein paar Bretter erforderlich, von der Tapete nur ein kleineres Rechteck. Die Ausschnitte waren dann so zu bearbeiten, dass eine Wiederholung als Muster nicht auffällt. Das heißt, dass die Helligkeit gleichmäßig verteilt sein musste und dass ein Aneinanderreihen der Bildausschnitte keine harten Brüche erzeugen würde – denn sonst wäre sofort offensichtlich, dass zum Beispiel die Tapete nur aus einem kleinen Bild besteht.

Die virtuelle Rekonstruktion
links: 3D-Modell mit Boden- und Wandoberflächen; Mitte: 3D-Modell mit zusätzlichen 3D-Objekten; rechts: Das im 3D-Programm erzeugte Panorama [Quelle: Heiko Stachel]

Im fotografierten Panorama wurden nun alle Objekte „freigestellt“, die danach in das 3D-Panorama eingebaut werden sollten.

Die virtuelle Rekonstruktion
Im ursprünglichen Panorama bleibt nur noch sichtbar, was im Endergebnis gebraucht wird. [Quelle: Heiko Stachel]

Nachdem alle Objekte und Oberflächen modelliert und texturiert waren, erfolgte die Überlagerung des Panoramas aus dem 3D-Programm mit dem fotografierten Panorama, so dass aus diesem nur noch die freigestellten Objekte sichtbar waren.

Da das Ergebnis ziemlich flach wirkte, wurden noch Freihand-Schatten in das Panorama eingezeichnet. So entstand das fertige Resultat.

Ergänzt wurden die Panoramen durch eine Dokumentation weiterer Räumlichkeiten der Familie Gayer. Da für die übrigen Räume Unterlagen für die Erstellung virtueller Panoramen fehlten, musste die Kontextualisierung über einen Grundriss und eingebundene Fotografien einzelner Räume erfolgen. Auf diese Weise lässt sich das Siegelsbacher Wohnhaus noch einmal neu und auf eine Art und Weise erkunden, die sogar noch über den detaillierten Aufbau im Museum der Alltagskultur hinausgeht.

 

Zitierhinweis: Heiko Stachel, Virtuelle Rekonstruktion, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 19.11.2020

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