Das Arno-Ruoff-Archiv und die Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutschland
Von Mirjam Nast, Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutschland
In der Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutschland werden seit Jahrzehnten die Dialekte Baden-Württembergs gesammelt, gespeichert und erforscht. Die Arbeitsstelle ist dem Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen angeschlossen und betreut und verwaltet unter anderem das Arno-Ruoff-Archiv, das eine Vielzahl an Dialektaufnahmen verwahrt. Der Bestand des Archivs umfasst mehr als 2.000 historische Tonbandaufnahmen sowie die dazugehörenden Transkripte und Umschriften im Umfang von über 20.000 Textseiten. Die Aufnahmen stammen größtenteils aus den 50er- und 60er-Jahren und konservieren die Stimmen von Sprechenden aus über 500 Orten in Baden-Württemberg, Bayerisch-Schwaben, Vorarlberg und Liechtenstein.
Anhand dieses Tonmaterials kann unsere gesprochene Sprache systematisch und flächendeckend in Abhängigkeit von ihren vielfältigen Bedingungen untersucht werden. Gleichzeitig steckt in den aufgenommenen Erzählungen ein großer Teil süddeutscher Kulturgeschichte. Ziel der im Kontext sprachwissenschaftlicher Erhebungen durchgeführten Interviews war es, die Menschen mit Themen aus ihrem alltäglichen Erfahrungsbereich zum freien Sprechen zu bewegen. Die Gewährspersonen wurden zu ihrem täglichen Leben, zu ihrer Arbeit oder zu ihrem Lebenslauf befragt. Als Folge dessen sind Erzählungen über die Alltagskultur in Baden-Württemberg entstanden, die aus kulturwissenschaftlicher Sicht höchst aufschlussreich sind und die mit zunehmendem zeitlichen Abstand inhaltlich immer interessanter werden.
Die Aufnahmen geben vielfältige Einblicke in ländliche sowie urbane Alltage in der Region. Menschen mit teils sehr unterschiedlichen sozialen Hintergründen erzählen aus ihrer Perspektive. In ihren Schilderungen werden sehr verschiedene Alltagswelten sichtbar. Wir hören Sprecher und Sprecherinnen unterschiedlicher Generationen und zugleich sehr verschiedene Stimmen. Kinder berichten von ihren Erlebnissen in der Schule oder ihren Aufgaben in der elterlichen Landwirtschaft, junge und ältere Erwachsene erzählen aus ihrem Berufsleben, alte Menschen erinnern sich an ihre Jugendzeit. Viele der Befragten sind noch im 19. Jahrhundert geboren und damit Zeugen zeitlich entrückter Alltage. Sie erzählen von ihrer Kindheit, von Kriegserfahrungen, vom Arbeiten und Feiern in einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft, vom Einzug der Moderne. Sie erinnern und erzählen assoziativ, manchmal bruchstückhaft und sie bedienen sich ihrer Alltagssprache. Über 100 Jahre umfassen diese Erinnerungen, die derzeit erstmals kulturwissenschaftlich ausgewertet werden.
In einem aktuellen Projekt werden die Aufnahmen digitalisiert, um sie einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck wird von allen Dialektaufnahmen eine standardsprachliche Version erstellt. Zudem werden die Interviews verschlagwortet, um sprachwissenschaftliche sowie kulturwissenschaftliche Analysen zu ermöglichen. Damit wird nicht nur ein großer und bedeutender Archivbestand zugänglich gemacht, sondern auch ein produktiver Weg für eine kulturwissenschaftliche Dialektforschung aufgezeigt.
Neben der wissenschaftlichen Arbeit entstehen auch populärwissenschaftliche Publikationen zum Thema Alltagskultur und -sprache, wie der 2019 erschienene Bildband „MundWerk – Wia d'Leit läbet ond schwätzet em Kreis Beeblenga!“ zu Mundart und Alltag im Kreis Böblingen oder ein Hörbuch zum Thema "Kultureller Wandel im ländlichen Raum", das sich mit Veränderungen ländlicher Alltage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befasst und im Herbst 2020 erschienen ist.
Zitierhinweis: Mirjam Nast, Das Arno-Ruoff-Archiv und die Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutschland, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 19.11.2020