Das Gnadenseefest in Allensbach
Von Felix Teuchert
Beim Gnadenseefest Allensbach – auch als Allensbacher Seeprozession bezeichnet – handelt es sich um einen lokalen religiösen Brauch, der am ersten Sonntag im Juli stattfindet. Die Gemeinde der Allensbacher St. Nikolai-Kirche prozessiert dabei per Boot über den Gnadensee – so nennt man jenen Teil des Bodensees, der zwischen der Insel Reichenau und dem Festland liegt – zum ehemaligen, weltberühmten Benediktinerkloster auf der Insel Reichenau, das auf dem gegenüberliegenden Ufer liegt. Das 724 gegründete Kloster, das zu den bedeutendsten frühmittelalterlichen Klöstern zählt, war und ist im Besitz mehrerer Reliquien. Zu nennen sind eine sogenannte Heiligblutreliquie, in diesem Fall ein Splitter vom Kreuz Christi samt einem Stück Stoff mit Christi Blut, die im 10. Jahrhundert auf die Insel Reichenau gelangt sei. Auch die sterblichen Überreste des Evangelisten Markus werden auf der Insel Reichenau aufbewahrt.
Die Tradition der Seeprozession hat zunächst einen eher profanen Hintergrund: Da Allensbach zum Kloster Reichenau gehörte, mussten die Gläubigen nach Reichenau übersetzen, um in der dortigen Peter-und-Paul-Kirche in Niederzell die Messe feiern zu können. Um 1300 wurde in Allensbach zwar eine kleine Kirche errichtet, die dem Heiligen Nikolaus, dem Patron der Seefahrer gewidmet war, diese wurde allerdings erst 1486 zur Pfarrkirche erhoben. An hohen Festtagen musste die Gemeinde nach wie vor den Gnadensee überqueren. Im 19. Jahrhundert brach diese Tradition allerdings ein. Erst seit 1974 finden wieder regelmäßig Seeprozessionen von Allensbach zur ehemaligen Klosterkirche St. Maria und Markus in Mittelzell auf Reichenau statt, um die Zugehörigkeit zwischen der Inselkirche und der St.-Nikolaus-Kirche zu zementieren. Die Prozession ist aber mehr als nur ein Gemeindefest, sondern wurde mit einem religiösen Brauch verknüpft und somit theologisch aufgewertet – im Gegensatz zur Tradition der mittelalterlichen Überfahrt, die aus dem Mangel an kirchlicher Versorgung stattfand, aber keinen höheren religiösen Sinn hatte. So wird bei der im 20. Jahrhundert gestifteten Seeprozession die Heiligblutreliquie an diesem Tag gezeigt und verehrt. Die Prozession erfolgt per Boot, wie auch in diesem Filmausschnitt von 1977 zu sehen ist. In einem der mit Zweigen geschmückten Boote ist der Priester mit seinen Ministranten zu sehen. Die Allensbacher Seeprozession ist ein interessantes Beispiel für einen Prozess, den Kulturhistoriker wohl als „Invention of Tradition“ (Eric Hobsbawn) bezeichnen würden. Doch auch eine solche Neustiftung einer Tradition kann nur im Kontext einer langen, freilich umgedeuteten und an die Gegenwart angepassten Vorgeschichte verstanden werden.
Literatur
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Berner, Herbert, Sitte und Brauchtum, in: Staatliche Archivverwaltung Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landkreis Konstanz (Hg.): Der Landkreis Konstanz Bd. II., Sigmaringen 1969, S. 37-90.
Zitierhinweis: Felix Teuchert, Das Gnadenseefest in Allensbach, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 11.11.2020