Fürsorge - Landaufenthalte für Stadtkinder in Hohenzollern
Florian Brückner, Universität Stuttgart
Kontext
Die Bewältigung der Auswirkungen des Ersten Weltkrieges stellte immense Anforderungen an die Sozialversorgung durch die Städte und Kommunen. Besonders hatten die Auswirkungen der Weltkriegsjahre Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren getroffen. Sie litten unter der Hungerblockade der Ententemächte, die im Reich eine Versorgungskrise auslöste und ihren negativen Höhepunkt im Winter 1916/17 erlebte. Eine ganze Generation von Kindern war unterversorgt; ein Zustand, der nicht einfach durch bessere Lebensmittelversorgung in der Friedenszeit kompensiert werden konnte. Selbst unter verbesserten Lebensumständen konnten sich, während der Unterversorgung und Mangelernährung entstandene, Hungertuberkulosen noch Jahre später tödlich auswirken. Daher war 1917 auf politische Initiative hin der Verein „Landaufenthalt für Stadtkinder“ gegründet worden, der es vor allem den sozial tiefer gestellten, in der Industrie tätigen Familien ermöglichte, ihre Kinder für mehrere Monate in ländliche Gebiete zu schicken, wo sie sich erholen konnten.
Quelle
Mit seiner vorwiegend ländlichen Struktur zählte der Regierungsbezirk zu den Aufnahmegebieten unterversorgter Großstadtkinder. 1922, also fünf Jahre nach Etablierung des Vereins für den Landaufenthalt von Stadtkindern, hatte sich jedoch eine Situation eingestellt, in der die ländliche Bevölkerung des Regierungsbezirks zunehmend nicht mehr gewillt war, Kinder zur Versorgung aufzunehmen. Daher wandte sich am 23. Januar 1922 der preußische Minister für Volkswohlfahrt mit einem Erlass an die Regierung Sigmaringen, weitere Kinder aufzunehmen. Der Erlass, der in Preußen insgesamt 100.000 Kinder für Landaufenthalte bezifferte, gewährt Einblicke in die Aufnahme abgemagerter Kinder in Hohenzollern. Der Verein, der laut Statut als Zentrale auf Reichsebene fungierte, gab die Durchführung folgender Richtlinien aus:
Die entsprechenden Aufnahmegebiete sollten ausgiebig für den weiteren Landaufenthalt werben. Lehrer, Pfarrer und Bauernvertreter sollten die Landbevölkerung über die Notwendigkeit eines Landaufenthalts aufklären. Hingewiesen wurde insbesondere auf die Entwicklung, dass „auf dem Lande vielfach unsere Arbeit nicht mehr für erforderlich gehalten wird“, die „Folgen der Unterernährung“ seien jedoch „noch in erschreckendem Maße bemerkbar“. Die Verschickung der 6- bis 16-jähriger Kinder und Jugendlicher wurde über Orts- und Kreislisten der Aufnahmegebiete geregelt.
Die Kinder wurden vor jedem Aufenthalt von einem Amtsarzt untersucht, um die Voraussetzungen der Erholungsbedürftigkeit zu klären. Dabei durften die Kinder jedoch „keine ansteckenden Krankheiten haben, kein Ungeziefer oder Ausschlag haben und nicht an Bettennässen leiden“. Es kamen „nur erholungsbedürftige, unterernährte und in ihrer Gesundheit gefährdete nicht aber kranke Kinder minderbemittelter Eltern infrage.“ Neben der Arbeiterschaft sei auch der „Mittelstand zu berücksichtigen, Kinder von Kriegshinterbliebenen und aus kinderreichen Familien“. Kinder wurden nach ihrem Landaufenthalt gewogen und das Gewicht registriert. Zu den Aufnahmegebieten gehörten sogenannte, mit Ferienlagern vergleichbare, Kolonien, Heime und Einzelpflegestellen. Der Verein übernahm die Kosten für Versicherungen und Fahrgeldbezuschussung. Zum Teil subventionierte er auch die aufnehmenden Pflegestellen.
Die Dauer des Aufenthalts sollte nicht weniger als 2 bis 3 Monate dauern; ein Zeitraum, für den die Kinder von ihrer jeweiligen Schule beurlaubt wurden. Elternbesuche waren ausdrücklich verboten und nur im Krankheitsfall des Kindes nach vorheriger schriftlicher Zustimmung zugelassen, da solche Besuche als „unerwünschte Belästigung der Landbewohner“ empfunden wurden.
Weitere Richtlinien regelten den Umgang mit den Kindern in den aufnehmenden Haushalten. So durften die Kinder ihrem Alter und ihren Kräften entsprechend für häusliche und landwirtschaftliche Arbeiten verpflichtet werden. Kinder durften auch zurückkehren, wenn es ihnen nicht gefiel. Zudem sollten es die Eltern „vermeiden, bei den Kindern übertriebene Vorstellungen über die Ernährungsverhältnisse auf dem Lande zu erwecken, da anspruchsvolles und undankbares Wesen der Kinder die Aufnahmefreudigkeit auf dem Lande sehr ungünstig“ beeinflussten.
Die Bemühungen, den von der Kinderversorgung ermüdeten Regierungsbezirk dazu zu motivieren, erneut in der Bevölkerung für Landaufenthalte zu werben, schien wenig Früchte zu tragen. Daher wandte sich am 26. Januar 1922 die Geschäftsstelle des „Rheinischen Initialausschusses zur Förderung des Landaufenthalts für Stadtkinder“ nochmals gesondert an den Regierungspräsidenten Emil Belzer. Die Geschäftsstelle bedankte sich dafür, dass insbesondere die Oberämter Aufenthaltsorte für rheinische Stadtkinder bereitgestellt hätten. So hatte Aachen Kinder nach Gammertingen und Hechingen entsandt und Düsseldorf nach Sigmaringen. Die Stadt Barmen hatte Kinder in die evangelischen Stellen des Oberamtes Haigerloch entsenden dürfen. Das Ersuchen der Geschäftsstelle, das ohne nähere Angaben davon sprach, dass es durchaus „Missgriffe in der Auswahl der Kinder“ gegeben hätte, monierte, dass die „Aufnahmefreudigkeit“ im Regierungsbezirk nicht mehr existiere und eine „allgemein gesunkene Begeisterung“ zu konstatieren sei. Die Gründe hierfür sah die Geschäftsstelle darin, dass sowohl die Landbevölkerung „nicht in dem Maße zur praktischen und tätigen Wohlfahrtspflege erzogen ist wie die Stadtbevölkerung“ als auch der Regierungsbezirk nicht mehr so stark für die Landaufenthalte werbe. Jedoch versuchte das Ministerium mit einem Gutachten eines Facharztes auf die weiterhin bestehende Notwendigkeit von Landaufenthalten hinzuweisen. Darin hieß es: „Die Kinder haben in geradezu erschreckendem Prozentsatz auch bei uns in den rheinischen Städten nachgewiesenermaßen den Keim der verhängnisvollen Tuberkulose in sich aufgenommen, deren Aufflackern nach den bekannten Feststellungen der medizinischen Wissenschaft noch auf Jahrzehnte in verderblichem Umfang zu befürchten ist, wenn nicht eine systematische Gesundheitspflege noch auf viele Jahre hinaus sich der besonders gefährdeten Jugend annimmt.“ Daher sei gerade das besetzte Rheinland, wo es besonders schwierig für Kinder sei, auf die „Mitarbeit unserer süddeutschen Stammesbrüder“ angewiesen. Die Geschäftsstelle bat um Auskunft darüber, was bezüglich der Bewerbung des Landaufenthaltes im Regierungsbezirk getan werde. Obgleich im Regierungsbezirk offensichtlich eine gewisse Müdigkeit hinsichtlich der Landaufenthalte von Stadtkindern eingetreten war, wurden diese doch bis in die NS-Zeit fortgesetzt.
GND-Verknüpfung: Fürsorge [4018801-2]