Kontext
Die allgemeine Lage von Mädchen und jungen Frauen in Württemberg war von vergleichsweise guten Bildungschancen geprägt. An den höheren Schulen, also den humanistischen Gymnasien und den Realgymnasien, waren rund 25 % der Schülerschaft weiblich. Darüber hinaus existierten drei Frauengewerbeschulen in Stuttgart und Ulm sowie 55 Frauenarbeitsschulen, die, wie zum Beispiel in Reutlingen seit 1877, Frauen für die Textilindustrie ausbildeten. Seit 1923 wurden zudem Fachlehrerinnen für Handarbeit und Hauswirtschaft in den Hauswirtschaftlichen Seminaren in Kirchheim/Teck, Heilbronn, Reutlingen, Stuttgart und Ulm auf staatliche Initiative hin ausgebildet. Hauswirtschaftliche Privatseminare existierten zudem in Bonlanden und Sießen. Schließlich waren Frauen auch an Universitäten vertreten: In Tübingen waren 1927 von 3.001 Studierenden 257 weiblich.
Neben Berufen in der Textilindustrie gehörten zudem Betätigungen im sozial-karitativen Bereich zu den traditionellen Arbeitsfeldern von Frauen. Waren katholische Männerorden erst nach 1918 in Württemberg zugelassen worden, hatten Frauenkongregationen mit staatlicher Erlaubnis schon im 19. Jahrhundert karitativ wirken dürfen. Hierzu zählten zum Beispiel die Barmherzigen Schwestern des heiligen Vinzenz von Paul in Untermarchtal, die 1890 das Stuttgarter Marienhospital gründeten sowie die Franziskanerinnen von Reute, Bonlanden und Sießen.
Zentrale Wirkungsstätten für Frauen waren zudem die Zweigvereine des Katholischen Frauenbundes Deutschland, die ab 1917 auch in Stuttgart entstanden. Hier waren im Januar 2.000 Männer und Frauen zur Gründungsversammlung zusammengekommen. Wichtige Vertreterinnen waren beispielsweise Emilie Mayer, die Mutter des Jesuitenpaters Rupert Mayer (1876-1945). Im Vereinsleben engagierte sich ferner Luise Rist (1877-1955), die von 1919 bis 1933 für die Zentrumspartei im württembergischen Landtag saß. Der Katholische Frauenbund setzte sich für die Gleichstellung von Frauen in der Ehe ein. Zu seinen Aufgabenfeldern zählte hier die Eheberatung genauso wie die Müttergenesungsarbeit, die die Rückkehr von Frauen in den Beruf fördern sollte.
Wichtige Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung in Württemberg waren Lina Hähnle (1851-1941), deren Vogelschutzbewegung wesentlich von Frauen getragen und unterstützt wurde, und ferner Johanna Friederike Mathilde Planck (1861-1955), die 1919 bis 1928 als erste Landtagsabgeordnete für die DDP im württembergischen Parlament vertreten war. Sie zählte nicht zuletzt als Redakteurin der Zeitschrift „Die Frauenwacht“ sowie von 1923 bis 1927 als Schriftleiterin der Frauenbeilage „Die Rosa Frau“ zu den bedeutendsten Vertreterinnen der bürgerlichen Frauen- und Friedensbewegung im deutschen Südwesten.
Bedeutende Vorkämpferin der proletarischen Frauenbewegung war schließlich Clara Zetkin (1857-1933, SAP, SPD, USPD, KPD), die seit 1890 in Sillenbuch bei Stuttgart lebte. Sie engagierte sich seit 1892 als Schriftleiterin des Stuttgarter SPD-Presseorgans „Die Gleichheit“. Für SPD und Frauenbewegung kämpfte ferner die aus Reutlingen stammende Weberin Laura Schradin (1878-1937), die, wie Zetkin, 1919 bis 1920 dem württembergischen Landtag angehörte.
Eine wichtige sozialdemokratische Vertreterin in der württembergischen Landespolitik war Anna Sophie Döhring (1885-1977), die von 1928 bis 1933 dem württembergischen Landtag angehörte. Ebenso wie Emilie Hiller (1871-1943), die von 1920 bis 1933 im württembergischen Parlament die SPD vertrat.
Für die DPP engagierten sich ab 1926 Elisabeth Eberhardt (1885-1952) und Ella Ehni (1875-1952) von 1920 bis 1924 im württembergischen Landtag. Ehni setzte sich zudem als Präsidentin für den Verband Württembergischer Frauenvereine ein. Mit Thekla Kauffmann (1883-1980) gehörte von 1919 bis 1920 eine Jüdin dem württembergischen Parlament an. Schließlich saß auch Maria Keinath (1887-1969) in diesem Zeitraum für die DDP im Landtag.
Für die DVP nahm Elisabeth Heyd (1876-1957) von 1926 bis 1928 ein Landtagsmandat wahr. Klara Klotz (1878-1965) vertrat von 1920 bis 1924 als einzige Frau den Württembergischen Bauern- und Weingärtnerbund im Landesparlament. Das Zentrum präsentierte von 1919 bis 1920 Mathilde Kühnert (1874-1957) als Landtagsabgeordnete sowie die bereits erwähnte Luise Rist. In politischer Hinsicht bedeutete der Beginn der ersten deutschen Demokratie 1918 auch für Württembergerinnen den Erhalt des aktiven und passiven Wahlrechts. Dieses konnten sie erstmals anlässlich der Wahlen zur Verfassunggebenden Landesversammlung im Januar 1919 ausüben. Unter den insgesamt 150 Mandatsträgern befanden sich 13 weibliche Abgeordnete.
Schreiben der Baronin Dora von Putlitz an Conrad Haußmann
Ab 1918 setzte ein politischer Diskurs ein, der die Rolle der Frau als Politikerin zu definieren versuchte. So machte beispielsweise die Baronin Dora von Putlitz (keine Lebensdaten) Vorschläge und Überlegungen bezüglich des für Frauen neu entstehenden Feldes der Politik. Diese Vorschläge, wie Frauen ihre „geschlechtsspezifischen Fähigkeiten“ in die Politik einbringen könnten, machte von Putlitz einem der Mitbegründer der DDP, Conrad Haußmann (1857-1922), anlässlich der im Januar 1919 anberaumten Wahlen zur Verfassunggebenden Landesversammlung.
Über Dora von Putlitz ist nicht sehr viel bekannt. Vermutlich 1887 geboren und aus preußischem Adel stammend, hatte sie kurz nach der Jahrhundertwende eine Ausbildung in der Sozialen Frauenschule Alice Salomons (1872-1948) erhalten, die als liberale Sozialreformerin zu den führenden Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung gehörte. Putlitz begann sich auf diese Weise früh für das Leben von Arbeiterinnen zu interessieren. In Stuttgart engagierte sie sich ab 1915 in der Jugendarbeit.
Der Adressat des Briefes, Conrad Haußmann, hatte im Kaiserreich als Landtags- und Reichstagsabgeordneter die Fortschrittliche Volkspartei (FVP) vertreten, aus der 1918 die DDP hervorging. Ab Oktober 1918 engagierte sich Haußmann zudem als Staatssekretär im Kabinett Max von Badens. Ab 1919 sollte er als Landtagsabgeordneter das Programm der DDP im württembergischen Landtag vertreten.
Die Baronin warb in ihrem Schreiben an Haußmann darum, Frauen im Zuge des anstehenden Wahlkampfes weniger für das parteispezifische Programm der DDP als vielmehr für spezifische Aufgabengebiete einzusetzen, die ihrer Ansicht nach dem weiblichen Naturell entsprachen. Frauen, so von Putlitz, sollten auf jenen „Gebieten mit Verantwortung“ betraut werden, „die ihrem Wesen mehr liegen als dem Mann“, worunter sie, aus der eigenen Lebens- und Erfahrungswelt heraus urteilend, vor allem soziale und karitative Felder verstanden wissen wollte. Damit plädierte von Putlitz für ein Verständnis von Frauen als Expertinnen in der Politik, die diese mithilfe ihrer geschlechtsspezifischen Eigenschaften mitgestalten sollten. Konsequenterweise schlug von Putlitz Haußmann vor, diesen Gedanken einer arbeitsteiligen Politik von Mann und Frau in das Wahlprogramm der DDP aufzunehmen.
Auf diese Weise versuchte die Baronin, das individuelle Aufgabenfeld, den Modus der Betätigung sowie das Eigenschaftsprofil von Frauen abzustecken, für die die Politik ein völlig neues Terrain darstellte. Von Putlitz‘ Schreiben beschrieb somit einen diskursiven Aushandlungsprozess dieses neuen Berufsfeldes und Berufsstandes. Dass sich nach 1918 selbst das für Männer traditionelle Feld der Politik zu wandeln begann, zeigen beispielsweise weitere Aushandlungsversuche wie jener Max Webers (1864-1920) vom 28. Januar 1919. Sein Vortrag „Politik als Beruf“ stellte die politische Zunft, ungeachtet ihrer geschlechtsspezifischen Merkmale, unter den neuen Vorzeichen eines demokratischen Systems ebenfalls auf den selbstreflexiven Prüfstand ihrer Fertigkeiten und Kompetenzen.
Insgesamt gehörten dem Württembergischen Landtag von 1919 bis 1933 18 Parlamentarierinnen an. Die meisten entstammten der DDP (7), gefolgt von SPD und USPD (4), dem Zentrum (3), der KPD (2) sowie jeweils einer Mandatsträgerin der DVP sowie des Württembergischen Bauern- und Weingärtnerbundes (WBWB).
Die Politik stellte dabei keineswegs das einzige neue Betätigungsfeld für Frauen dar. Im Bereich der Justiz wurden Frauen 1922 ebenfalls gleichgestellt. In jenem Jahr wurde das Verbot für Frauen aufgehoben, sich als Laienrichter zu betätigen. Frauen wurden zu Schöffen- und Geschworenengerichten und generell zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege zugelassen.
Dass diese Gleichstellungen keine Selbstverständlichkeiten eines sich entwickelnden demokratischen Systems waren, zeigen jedoch die Blockadeversuche bezüglich dieser Gesetzesvorlagen, die vor ihrer Annahme im beratenden Reichsrat auf heftigen Widerstand zahlreicher Länder, darunter auch Badens und Württembergs, gestoßen waren. Es bedurfte langwieriger Beratungen, bis sich diese Länder zur Zustimmung zu diesen Gesetzesvorlagen durchringen konnten, wobei gerade weibliche Eigenschaften als angebliches Manko einer objektiven richterlichen Urteilsfindung eine zentrale Rolle in diesem Aushandlungsprozess gespielt hatten.
Wo Männer weibliche Eigenschaften als Hindernis für bestimmte Berufsfelder erachteten, stellte von Putlitz‘ Schreiben im politischen Kontext den dezidierten Versuch dar, für männlich dominierte Berufsfelder angeblich unbrauchbare weibliche Eigenschaften im Sinne gesellschaftspolitischer Prägekraft positiv zu konnotieren.
GND-Verknüpfung: Frauen [4018202-2]
Das vorgestellte Dokument im Online-Findmittelsystem des Landesarchivs BW:
Schreiben von Dora Putlitz an Conrad Haußmann, 14.12.1918