Alle arbeiten gemeinsam?
Bäuerliche Familienidylle in den Fotografien Ernst Drehers
Von Lucca Sofia Staszkiewicz
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigten sich hauptsächlich Pfarrer, Lehrer und Ärzte mit Themen der Volkskunde. Beliebt war dabei das Leben und Arbeiten der „einfachen“ Leute. Fotografisch sollten als traditionell verstandene Berufe und Lebensweisen festgehalten werden, da durch Industrialisierung, technischen Fortschritt und Verstädterung große Umbrüche in allen Lebensbereichen stattfanden. Die Landwirtschaft stellte einen immer kleiner werdenden Beschäftigungssektor dar und Landarbeit veränderte sich stark durch die Motorisierung der Arbeitsgeräte. Deshalb war insbesondere das Landleben für die Volkskunde von Interesse.
Die Volkskunde war zu dieser Zeit von einer Idealisierung des Bauerntums als vermeintlich „ursprünglicher“ Lebensform geprägt. Das Zusammenleben und -arbeiten in der Landwirtschaft wird in vielen Schrift- und Bildzeugnissen als harmonisches Miteinander beschrieben. Insbesondere der Pfarrer Ernst Dreher (1862–1943) fotografierte häufig Familien bei der Arbeit.
Inszenierungen und Idealisierungen in der volkskundlichen Fotografie
Als die Fotografie im 19. Jahrhunderts entstand, galt sie als Gegenstück zur Malerei und als objektives Medium, das die Realität wiedergeben sollte. Doch auch in der Fotografie wurden bereits lange vor digitalen Bildbearbeitungsprogrammen Motive ausgewählt, arrangiert und inszeniert.
Die Inszenierung tritt in den meisten Fotografien Drehers beispielsweise durch bewusste Blicke in die Kamera zutage. Die abgebildeten Personen werden in aufrechter Haltung gezeigt, meist an ihrem Arbeitsort auf dem Feld, oft gemeinsam mit Arbeitstier und Arbeitsgerät. Der tatsächliche Arbeitsprozess, die Ausführung des Heuens, des Säens, des Erntens bleibt dabei außen vor. Aus diesem Grund ist auf den Fotografien keine Anstrengung oder harte Landarbeit sichtbar. Stattdessen vermitteln Pose, Mimik und Arrangement der dargestellten Personen Leichtigkeit und Harmonie.
Auch das Bild „Getreideernte bei Donnstetten“, das zwischen 1900 und 1910 auf der Schwäbischen Alb entstand, ist inszeniert. Im Hintergrund sind arbeitende Frauen zu sehen: Eine ist mit einem Arbeitswerkzeug zugange, eine andere steht mit dem Rücken zum Betrachter, eine weitere Frau wird beinahe komplett von zwei Pferden im Bild verdeckt. Alle drei Frauen stehen mit leicht nach vorne gebeugtem Oberkörper und wirken konzentriert bei der Arbeit. Die Blicke sind nicht in die Kamera gerichtet. Die Familie im Vordergrund posiert dagegen gemeinsam in die Kamera blickend neben einem mit Getreide beladenen Wagen. Der Mann hält scheinbar locker eine Garbe in die Luft. Frau und Kind halten jeweils ein Arbeitsgerät in der Hand, eine weitere Frau befindet sich auf dem voll beladenen Wagen. Die Haltung der Personen ist aufrecht, die Hand einer der Frauen ruht auf der Schulter des Jungen, der Moment wirkt harmonisch. Die konkrete Arbeit wird hier – im Gegensatz zum Dargestellten im Hintergrund – nicht sichtbar.
Familiäre Arbeitsteilung in der Landwirtschaft
Die Bilder Drehers suggerieren, dass alle Familienmitglieder gleichberechtigt miteinander arbeiten. Oftmals halten die Personen unabhängig von Alter und Geschlecht das gleiche Arbeitswerkzeug in der Hand. Doch auch die Landwirtschaft war durch eine starke geschlechtliche Arbeitsteilung geprägt. Die Aufgaben, die von den Männern übernommen wurden, waren häufig gesellschaftlich angesehener als die der Frauen. Frauen verrichteten meist die Arbeit, die weniger qualifiziert und oft auch mühseliger war.
Eine geschlechtliche Arbeitsteilung ist nicht „natürlich“, sondern sozial und kulturell konstruiert. In Familien prägt sie grundlegende Strukturen und besteht durch Erziehung der Kinder weiter fort. Auf den beschriebenen Bildern wird diese strikte Arbeitsteilung nicht dargestellt. Weder die Ausstattung mit Arbeitsgeräten, noch die Posen und Positionen der Dargestellten lassen Rückschlüsse auf unterschiedliche Aufgabenverteilungen zu.
Die Fotos vermitteln damit das Ideal des „Ganzen Hauses“. Der Begriff umschreibt ein generationenübergreifendes Arbeiten und Leben, das jedoch in der Landwirtschaft dieser Zeit weniger ideell als ökonomisch begründet war. Kinder wurden sehr schnell in die Arbeit ihrer Eltern einbezogen und somit als Arbeitskraft angelernt. Erwerbs-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit waren – wie auf den gezeigten Bildern sichtbar – nicht voneinander getrennt. Eltern gaben ihr Wissen und die Techniken der landwirtschaftlichen Arbeit auf diese Weise an die nächste Generation weiter. Die volkskundliche Fotografie wollte aber weniger die ökonomische Notwendigkeit der Arbeit des „Ganzen Hauses“ herausstellen, sondern als Traditionen durch Weitergabe von Wissen an kommende Generationen aufrechterhalten.
„Heuen bei Donnstetten“
Die Aufnahme mit dem Titel „Heuen bei Donnstetten“ zeigt eine männliche und eine weibliche erwachsene Person sowie vier Kinder auf einem Feld. Im Hintergrund sind Häuser und eine Straße erkennbar. Die Personen sind zentral in der Landschaft angeordnet, bei ihnen stehen zwei Kühe und ein beladener Heuwagen. Ein älteres Mädchen steht auf dem Heuwagen, ihr Blick ist direkt in die Kamera gerichtet. Auch die anderen Personen blicken direkt in die Kamera, nur das jüngste Kind, vorne im Handwagen sitzend, hat den Blick gesenkt. Links positioniert sind die Erwachsenen, aufrecht mit je einem Werkzeug in der Hand. Rechts daneben zwei kleine, ebenfalls aufrechtstehende Mädchen. Eines der beiden Mädchen hält ein Handwerkzeug. Das Bild ist kompositorisch im Goldenen Schnitt arrangiert, so dass das obere Drittel des Bildes vom Himmel eingenommen wird und die zentrale Darstellung sich in den zwei unteren Dritteln befindet. Der Horizont bildet die Trennlinie, nur das Mädchen auf dem Heuwagen ragt über diese Linie hinaus.
Sowohl die ästhetische Komposition, die vor allem in bildenden Kunstwerken Anwendung findet, als auch der Blick der abgebildeten Personen in die Kamera lassen darauf schließen, dass die Fotografie inszeniert ist. Auch hier hat der Fotograf die Familie in ihrem Arbeitsumfeld dargestellt ohne dabei den tatsächlichen Arbeitsprozess mit körperlichem Einsatz oder Anstrengung zu zeigen. Da sowohl der Mann, die Frau als auch ein Kind ähnlich aussehende Heurechen in der Hand halten, ist keine Arbeitsteilung zwischen den Familienmitgliedern erkennbar. Auch das jüngste Kind ist bereits in seinem Handwagen sitzend bei der Arbeit dabei.
Auf den Betrachter wirkt es, als würden alle dargestellten Personen gemeinsam und unabhängig von Alter und Geschlecht die anfallende Arbeit verrichten. Die Darstellung dieser – samt kleinster Kinder und Tiere – in der Landschaft posierenden Familie wirkt auf den Betrachter idyllisch: Die Bauernfamilie scheint mit einer Leichtigkeit und ganz selbstverständlich ihren Lebensunterhalt durch die Einbindung der nächsten Generation autark bestreiten zu können.
Kontextualisierung der Fotografien
Pfarrer Ernst Dreher übergab seine Fotografien bereits zu Lebzeiten Anfang der 30er-Jahre an die sogenannte „Abteilung Volkstum“ des Landesamtes für Denkmalpflege, aus dem später die Landesstelle für Volkskunde in Stuttgart wurde. Selbst von der Schwäbischen Alb stammend, besaß er ein großes Interesse für die Landwirtschaft und die Bewohnerinnen und Bewohner auf der Alb. Diese hielt er als Motiv gerne in seinen Fotografien fest: „Bilder, die ich ja zunächst nur mir zur Erinnerung u. den Leuten zur Freude gemacht habe“, beschreibt er sie selbst in einem seiner Briefe an das Landesamt für Denkmalpflege im Jahr 1931.
Ein weiterer Grund seiner Motivwahl und vor allem auch für die Aufbewahrung seiner Fotografien in der heutigen Landesstelle für Volkskunde ist, dass für die Nachwelt etwas festgehalten werden sollte, was bereits Anfang des 20. Jahrhunderts immer weiter zu verschwinden drohte. Die Bewunderung für das bäuerliche Leben und die damit einhergehende Idealisierung des Ländlichen findet sich ebenfalls in der Briefkorrespondenz zwischen Pfarrer Dreher und dem damaligen Konservator der „Abteilung Volkstum“ des Landesamtes für Denkmalpflege. Der Konservator August Lämmle (1876-1962) schreibt: „Unsere heutige Zeit hat das Bauerntum wieder zu Ehren gebracht; wie sehr Sie persönlich Bauernarbeit und Bauernleben lieben, das merkt man an Ihren Bildern, die echt und mit ernster Wärme die Wirklichkeit und den Geist des Bäuerlichen wiedergeben.“
Neben der Aufbewahrung der Bilder veröffentlichte August Lämmle einige der Fotografien des Pfarrers 1931 in der Zeitschrift Württemberg. Monatsschrift im Dienste von Volk und Heimat, die von Lämmle herausgegeben wurde. Er schreibt über das Landleben im Dorf Donnstetten: „Dort ist Kultur und Geist im edelsten Sinne; hier ist Natur und praktische Tätigkeit in einfacher, aber ungemein anziehender Form“.
Die Fotografien werden heutzutage als Darstellungen von Familien gesehen, deren Zusammenleben und -arbeiten emotional begründet war, da dies unserem heutigen Ideal entspricht. Die ökonomischen Bedingungen und harten Arbeitsumstände bleiben außen vor.
Die bäuerliche Lebensweise wurde in der volkskundlichen Fotografie inszeniert und idealisiert. Sie zeigte die Abgebildeten aber gleichsam auf eine Art und Weise, in der sie sich selbst gerne sehen wollten und transportiert damit auch ein Ideal der Arbeitenden selbst an die Nachwelt. Die Verklärung der Vergangenheit und die Romantisierung des Ländlichen der damaligen Volkskunde ist jedoch insofern problematisch zu sehen, da sie andere, vor allem urbane Formen des Lebens und industrialisierte Arbeit, im Zuge dessen marginalisiert. Darüber hinaus wird die „gute alte Zeit“, die es in der Form gar nicht gegeben hat, überhöht. Dadurch besteht die Gefahr einer beliebigen und nicht den Fakten entsprechenden Instrumentalisierung. Fotografien, wie die hier gezeigten, dienten der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie vom Mythos eines autarken und „ursprünglichen Bauernvolkes“.
Eine Kontextualisierung und Interpretation der Fotografien vor dem Hintergrund der Zeit ihrer Entstehung und ihres Urhebers ist daher unerlässlich. Auf diese Weise lassen sich die Bilder als Quelle für historische Fragestellungen ebenso wie für Aussagen über unsere eigenen Hintergründe und Sichtweisen nutzen.
Literatur
- Gestrich, Andreas, Enzyklopädie deutscher Geschichte Band 50: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013.
- Hausen, Karin, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393.
- König, Gudrun M./Hägele, Ulrich, Eine Etappe der volkskundlichen Fotogeschichte, in: Dies. (Hg.): Völkische Posen, volkskundliche Dokumente. Hans Retzlaffs Fotografien 1930 bis 1945, Marburg 1999, S. 8–39.
- Lämmle, August, Zur Geschichte unserer Schrift, in: Württemberg. Monatsschrift im Dienste von Volk und Heimat 11 (1931), S. 519–521.
- Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen in Zusammenarbeit mit dem Württembergischen Landesmuseum Stuttgart (Hg.), Heitere Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande. Bilder schwäbischen Landlebens im 19. Jahrhundert. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart vom 13. April bis 5. Juni 1983, Tübingen 1983.
- Weber-Kellermann, Ingeborg, Die Familie. Eine Kulturgeschichte der Familie, Frankfurt am Main u.a. 1996.
- Wikander, Ulla, Von der Magd zur Angestellten. Macht, Geschlecht und Arbeitsteilung 1789-1950, Frankfurt am Main 1998.
Zitierhinweis: Lucca Sofia Staszkiewicz, Alle arbeiten gemeinsam? Bäuerliche Familienidylle in den Fotografien Ernst Drehers, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020
Dieser Beitrag von Lucca Sofia Staszkiewicz erschien unter dem Titel „Alle arbeiten gemeinsam? Bäuerliche Familienidylle in den Fotografien Ernst Drehers“ in der Publikation: Karin Bürkert und Matthias Möller (Hg.): Arbeit ist Arbeit ist Arbeit ist … gesammelt, bewahrt und neu betrachtet. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2019, S. 101-108.