Zum Sterben schön? Zur Kontroverse um die Korsettmode

Von Carmen Anton

Pflegerin und Patientin Karoline Klefenz am Krankenbett, 1914 [Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg]

Pflegerin und Patientin Karoline Klefenz am Krankenbett, 1914 [Quelle: Landesarchiv BW, StAL, F 234 VI Nr. 758]

Bis heute gilt das Korsett, trotz seiner gut vier Jahrhunderte umspannenden Geschichte, als gesundheitlich höchst bedenklich und sogar lebensgefährlich. Diese Einschätzung findet ihre Bestätigung in den Aufzeichnungen und Thesen zeitgenössischer Mediziner sowie in Presseerzeugnissen und ressentimenterfüllten Essays verschiedener Autoren.
Zu diesen Kritikern zählt auch die in England geborene Hope Bridges Adams. Sie schloss 1880 in Leipzig als erste Frau in Deutschland das Medizinstudium ab, konnte ihre Approbation allerdings erst 1881 in Dublin erlangen. 1891 gründete sie gemeinsam mit ihrem ersten Ehemann, Otto Walther, das Lungensanatorium im badischen Nordrach im Schwarzwald, welches sie bis 1893 zusammen leiteten.
Hope Bridges Adams befasste sich in ihrem 1896 in Stuttgart verlegten Werk "Das Frauenbuch. Ein ärztlicher Ratgeber für die Frau in der Familie und bei Frauenkrankheiten" unter anderem auch mit den mutmaßlich durch Schnürmieder herbeigeführten Gesundheitsschäden und betonte darin, dass gerade auch die weniger stramm geschnürten Exemplare bürgerlicher und bäuerlicher Frauen Deformationen zur Folge haben sollen.
Die Skepsis diesem Kleidungsstück gegenüber war folglich also nicht rein an das Geschlecht der Ärzte gekoppelt, sondern übertrug sich auch auf weibliche Mediziner. Entsprechend ihrer Überzeugungen trat die Ärztin entschieden für die Abkehr vom Korsett und der Hinwendung zur Reformmode ein.

Die dem Korsett zugeschriebenen negativen Auswirkungen auf die körperliche Verfassung sind mannigfaltig. Sie reichen von der offensichtlichen Beengung, die gerade bei schlechtem Sitz zu Haltungsschäden bis hin zum Buckel führen könne, und sogenannten Schnürfurchen im Fleisch der Trägerin, über eine durch die versteifende Wirkung bedingte Erschlaffung der Bauch- und Rückenmuskulatur, zu Verstauchungen oder gar Brüchen der Rippen, bis hin zur sogenannten Schnürleber, bei der es sich um ein durch das Korsett bedingtes Eindrücken der Leber durch die Rippenbögen handelte. Aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemnot sowie daraus resultierende Ohnmacht und gar Tuberkulose, Krebs und Schwindsucht sollen durch das Tragen eines solchen steifen Mieders begünstigt, wenn nicht gar ausgelöst worden sein.

Die Glaubwürdigkeit dieser Schilderungen jenseits der augenfälligen, gewissen Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Oberkörpers ist jedoch nicht unumstritten. Zwar lassen sich manche der befürchteten Auswirkungen mit konkreten Einzelfällen in Verbindung bringen, allerdings krankt auch die moderne Forschung bei der Bewertung des Korsetts vielfach daran, dass ihr vor allem zeitgenössische Schriftquellen als Grundlage dienen. Diesen ist jedoch eine nach heutigen Maßstäben unzureichende medizinische Kenntnis der Autoren zueigen, welche nicht immer eindeutig die Ursache einer Erkrankung erschließen konnten. Darum ist es durchaus möglich, dass dem Korsett so bewusst oder unbewusst Einflüsse zugeschrieben wurden, die so bei näherer Betrachtung nicht haltbar sind.

Gleichwohl offenbaren sich viele zeitgenössische Texte zum Korsett als Spiegel der subjektiven Perspektive ihres Autors. So amüsierten sich Männer mitunter über die Silhouette der Damen im Korsett, die sie gerade im 19. Jahrhundert gerne mit jener der Venus von Milo kontrastierten und als an dieser gemessen hässlich beurteilten.
Dennoch war das Korsett während seiner langen, kontinuierlichen Verwendung wenigstens zu bestimmten Anlässen doch in allen Schichten der Gesellschaft verbreitet, was die These einer absehbar tödlichen Marter durch das Schnüren wenigstens nicht sonderlich einleuchtend erscheinen lässt. Seit spätestens dem späten 18. Jahrhundert trugen nicht bloß modeaffine adlige Damen und Herren Korsetts zur jeweils passenden Kleidung. Auch das Bürgertum und sogar Nonnen in ihren Konventen hatten zu diesem Zeitpunkt das steife Mieder für sich entdeckt. Auch verbarg man das Korsett zu dieser Zeit nicht akribisch. Zwar konnte es hinter einem sogenannten Stecker, der zumeist kunstvoll verziert wurde, verschwinden, doch der vorne offene sogenannte Manteau, das Übergewand der nach ihrem Ursprung Robe à la Francaise genannten Damenmode der Zeit, ließ auch die Option auf die Sichtbarkeit eines schön gearbeiteten Korsetts zu. Darüber hinaus war es durchaus nicht ungewöhnlich, wenn beispielsweise ein Bräutigam seiner Verlobten einen morgendlichen Besuch abstattete, während diese sich noch einschnüren ließ. Das Korsett zählte in dieser Zeit somit nicht zur klassischen Unterbekleidung, seine Trägerin war im heimischen Kontext damit nicht unangezogen.
Das exzessiv enge Schnüren jedoch, wie es oftmals in Karikaturen satirisch überzeichnet wurde um vor allem die Modedamen der Zeit zu veralbern,  war verglichen mit der allgemeinen Popularität dieses Kleidungsstückes bedeutend weniger üblich.

Die weite Verbreitung des Korsetts lässt sich möglicherweise nicht zuletzt auf die Verbindung seiner stützenden Wirkung für die Büste mit dem Ausdruck von Macht über den eigenen Körper zurückführen. In einer Zeit, in der die meisten Frauen als Bürger zweiter Klasse rangierten und kaum eigene Rechte einfordern konnten, indes spätestens seit der französischen Revolution höchst wahrnehmbar für Veränderungen der Verhältnisse einstanden, demonstrierte die Formung der eigenen Gestalt auch ein Stück weit Macht über den eigenen Körper, die sonst vielfach dem Vater oder dem eigenen Gatten gegeben war – und somit auch Macht über zumindest einen Teil der eigenen Lebensrealität. Somit konnte besonders restriktives Schnüren sogar als ein Akt der Emanzipation empfunden werden.
 

Kritik am Korsett. Eine deutsche „Mode“?

In der anglophonen Literatur wird weiterhin darauf verwiesen, dass vor allem deutsche Ärzte Anfang des 19. Jahrhunderts geradezu in Hysterie über das Korsett geraten seien. So wird die historisch erste umfassende, alarmierende Kritik am Korsett auf das Jahr 1788 und auf den Entstehungsort Schnepfenthal bei Gotha zurückgeführt, verfasst von Thomas von Sömmering. In zwei Auflagen wenig beachtet, gelangte dieser Text mit seiner dritten Auflage 1802, während der Directoire-Mode, die ohnehin Schnürung gegen fließende Formen getauscht hatte, zum Status eines Bestsellers und wurde sogar in diverse Sprachen für den internationalen Vertrieb übersetzt.
Inhaltlich lassen sich an dem Werk, das unter den Zeichen einer bereits vorhandenen Ablehnung des Korsetts überhaupt erst begonnen wurde, einige klare Fehlschlüsse herausstellen. So folgerte der Autor aus der gegenüber Männern erhöhten Tuberkulosesterblichkeit von Frauen zwischen 15 und 45 – oftmals im Kontext einer Schwangerschaft – einen direkten Zusammenhang mit dem von dieser Gruppe häufiger und intensiver praktizierten Korsetttragen. Selbiges gilt für die höhere Skolioseanfälligkeit von Frauen, die sich allerdings auch in der Moderne, ganz ohne Korsetts, erhalten hat.

Eine sich wandelnde Haltung seitens männlicher Eliten zum Korsett im frühen 19. Jahrhundert lässt sich auch anhand von Goethes berühmtem Bühnenstück „Faust“ ableiten. Wo im 1805 erschienenen ersten Teil noch die Sinnlichkeit des geschnürten Körpers gepriesen wird, deklariert der zweite Teil von 1831 den gleichen Zustand als Abscheulichkeit. Dieser Gesinnungswandel muss mutmaßlich im Kontext mit Goethes Affinität zu naturheilpraktischen Verfahren betrachtet werden. Deren Anwendern war das Korsett als etwas, das die Natur menschengemacht und somit unnatürlich formt, zuwider.
Aber auch der allmählich erstarkende Nationalismus muss an dieser Stelle berücksichtigt werden. Das Korsett wurde als etwas Französisches betrachtet, was also seinen Ursprung mit dem verhassten Eroberer Napoleon teilte, welcher den größten Teil der deutschen Fürstentümer unter seine Herrschaft gestellt hatte. Zugleich deutete man die verringerte Bewegungsfreiheit einer geschnürten Frau auch als Symbol eines Angriffs auf die Freiheit im Generellen. Ähnliche Überlegungen lassen sich auch über ein Jahrhundert später beobachten, wenn Frauen auf ihre Büstenhalter verzichteten und damit einen symbolischen Befreiungsschlag für die Frauenbewegung inszenieren wollten.


Dies verweist darauf, dass spätestens seit dem 19. Jahrhundert weibliche Unterwäsche, denn das wurde das Korsett damals nun final bis zu seinem Niedergang, einer Politisierung unterliegen kann.
Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass Männerkorsetts in den deutschen Fürstentümern des 19. Jahrhunderts ebenfalls symbolischen Akten wie der öffentlichkeitswirksamen Verbrennung unterworfen waren. So verbrannten beispielsweise nationalistisch gesinnte Studenten ihre Schnürmieder während der Feierlichkeiten zum vierten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig und des dreihundertsten Jahrestags der Reformation 1817 auf der Wartburg. Dass die dort tagende und bis zur Revolution von 1848 weiter wachsenden Bestrebungen zur Nationalstaatsgründung dazu noch maßgeblich von der Turnerbewegung getragen wurden, lässt die Opposition ihrer Anhänger dem Korsett gegenüber bloß einleuchtend erscheinen.

Und dennoch, nach dem Ende des Biedermeier und der Gründung des Deutschen Reiches 1871 avancierte das Korsett zu einem Kennzeichen der Oberschicht – der alteingesessenen Adligen, wie auch des neureichen Bürgertums. Die immer rigideren Formen von Sanduhr bis zur S-Silhouette dienten dabei nicht nur Mode und Repräsentation oder gar zur oft angeprangerten „Irreführung der Männer“, sondern vor allem auch als symbolische Tugendrüstung, mit der Frauen ihre eigene Redlichkeit und Unberührtheit einerseits demonstrierten, andererseits aber auch bewahren wollten. Dieses Sinnbild der Tugendhaftigkeit machte das Korsett auch für Frauen der Arbeiterschicht zusehends reizvoll, konnten sie damit doch ihr ehrbares Wesen durch Kleidung demonstrieren und sich somit auch bessere Chancen auf vielversprechende Anstellungen erhoffen. Durch maschinelle Massenproduktion und veränderte Vorzeichen in der allgemeinen Wertung des Korsetts wurde es endgültig ein allgemein genutztes Massenprodukt.

Dennoch blieb von medizinischer Seite in Deutschland das Ressentiment gegen Korsetts bestehen, selbst nachdem der Erreger der Tuberkulose bekannt war, die Lebenserwartung der Frauen bereits die der Männer überstieg, Kindbettfieber in seiner Verbreitung erfolgreich bekämpft worden war und auch viele andere vermeintliche Folgen der Korsetts auf andere Ursachen zurückgeführt werden konnten. Anders als in den Nachbarländern wurde im Deutschen Reich weiterhin nicht bloß vor der Gefahr zu exzessiven Schnürens oder minderwertiger Korsetts gewarnt, sondern das Schnüren im Generellen verdammt.

Über die nachweislichen Auswirkungen des Korsetts auf den Körper seiner Trägerinnen

Beobachtungen und Erwägungen unter der Berücksichtigung des gesellschaftlichen Klimas allein sagen allerdings wenig über den tatsächlichen Einfluss eines Korsetts auf die Gesundheit und vor allem den Komfort seiner Trägerin aus.
Eine Untersuchung aus dem Jahr 2015 versuchte sich der Realität möglicher Deformationen durch Korsetts darum durch die Betrachtung von erhaltenen historischen Exemplaren des Kleidungsstücks einerseits und Frauenskeletten aus dem 18. bis frühen 20. Jahrhundert andererseits anzunähern. Untersucht wurden insgesamt 24 Skelette, von denen 7 aus Frankreich und 17 aus England stammten. Tatsächlich ließen sich Veränderungen von Brustkorb und Wirbelsäule erkennen, welche vor allem auf die Kultivierung der S-Form im 19. Jahrhundert hinwiesen.
Allerdings schienen die Deformationen keinerlei Auswirkung auf die Lebenserwartung der Frauen gehabt zu haben. Sie alle erreichten die zeittypische Lebenserwartung oder überschritten sie sogar.
Über ihre tatsächliche Lebensqualität jedoch lässt sich auf diesen Daten basierend noch keine Aussage treffen.

Die Wechselwirkung von Korsett und Gesundheit ist somit auch heute noch mit vielen alten, tradierten Vorurteile und großem Forschungsbedarf belegt.

 

Literatur

  • Gibson, Rebecca, Effects of Long Term Corseting on the Female Skeleton: A Preliminary Morphological Examination, in: NEXUS. The Canadian Student Journal of Anthropology. Vol. 23. No. 2, 2015, S. 45 – 60.
  • Schwarz, Gerhart S., Society, physicians, and the corset, in: Journal of Urban Health. Bulletin of the New York Academy of Medicine. Vol. 55. No. 6. New York, 1979, URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1807654/# . S. 551 – 590 (aufgerufen am 02.11.2020).
     

Zitierhinweis: Carmen Anton, Zum Sterben schön? Zur Kontroverse um die Korsettmode, in: Alltagskultur im Südwesten. URL: [...], Stand: 02.11.2020

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