Die Kirche als Mittelpunkt des Dorfes

Von Karina Beck

Ansicht der Gutacher Dorfkirche
Dorfkirchen sind ein weithin sichtbares Symbol von Heimat. Gutach Choransicht Dorfkirche mit Friedhof, 1876 [Quelle: Generallandesarchiv Karlsruhe]

Jedes größere Dorf hat eine Kirche oder zumindest eine Kapelle. Sie ist eine Art Visitenkarte. Kommunen und Kirchengemeinden werben zuweilen damit, zumal, wenn die Kirche kunsthistorische Bedeutung hat. Auch Menschen, die nicht Mitglied einer Kirche sind, möchten in der Regel ihre Dorfkirche erhalten. Sie ist somit ein weithin sichtbares Symbol von Heimat.

Die ersten Kirchen entstanden als Versammlungsstätten über den Gräbern christlicher Märtyrer. Nach katholischem Verständnis sind Kirchen daher geweihte Orte, in deren Mittelpunkt oft eine Heiligenreliquie verehrt wird. Aus evangelischer Sicht ist die Kirche lediglich der Versammlungsraum, in dem sonntags die Gemeinde (griechisch: kyriake = zum Herrn gehörig) zusammenkommt. Aus diesem Grund sind evangelische Kirchen in der Regel unter der Woche verschlossen.

Kennzeichen eines Kirchengebäudes

Die Jugendstilkirche in Gaggstatt. [Quelle: LMZ-BW]
Die Innenraumgestaltung der Evangelischen Jugendstilkirche in Kirchberg an der Jagst-Gaggstatt. Die ungewöhnlich große Dorfkirche blieb bis heute fast unverändert, 2004 [Quelle: LMZ BW]

Die Kirche steht meist an einem zentralen Ort im Dorf oder im Wohngebiet. Sie ist in der Regel nach Osten ausgerichtet. Der Altar steht im Osten, denn „ex oriente lux“ - aus dem Osten kommt das Licht der aufgehenden Sonne. Von dort erwarten Christen auch die Wiederkunft Jesu Christi. Daher kommt unser Wort „Orientierung“.

Der Altar bildet das Zentrum des Kirchenraums. Er ist der Ort des Abendmahls oder der Eucharistie. In evangelischen Kirchen liegt dort die Bibel. Wer in früheren Zeiten Schutz am Altar suchte, bekam dort Asyl. Kirchenbänke oder Bestuhlung gibt es in Kirchen erst seit der Reformationszeit. Ebenso verhält es sich mit den Kanzeln. Sie gewannen mit der Verbreitung der Prädikantengottesdienste im Spätmittelalter an Bedeutung. Die Orgel ist eines der ältesten bekannten Instrumente. Sie begegnet bereits im römischen Kaiserreich des vierten Jahrhunderts und hielt schnell Einzug in die Kirchen.

Die meisten Kirchen haben einen Glockenturm. Die Glocken erinnern die Gläubigen an Gebets- und Gottesdienstzeiten. Sie hatten aber auch weltliche Funktion. Die Kommunen befestigten dort oben weithin sichtbar die oft einzige Uhr des Dorfes. Und die Glocken übernahmen die kommunale Aufgabe, die Uhrzeit zu schlagen. Die Gebetszeiten, zu denen geläutet wurde, halfen den Menschen auch bei der Einteilung der Tageszeit (Morgen-, Mittag- und Abendläuten) und gliederten den Tag so in Arbeits- und Pausenzeiten.

Am Samstagabend läuten die Kirchenglocken in den meisten Orten den Sonntag ein. Sonntags dann rufen sie die Menschen zum Gottesdienst, indem sie eine Stunde vorher, eine halbe Stunde vorher und dann letztlich zur Gottesdienstzeit selbst läuten und die Gläubigen herbeirufen. Während des Gottesdienstes wird dann ebenfalls die Glocke geläutet – während des Vaterunsers beziehungsweise der Wandlung, so dass diejenigen, die nicht in den Gottesdienst kommen konnten, zu Hause mitbeten können und somit Teil der Gemeinschaft sind.

Aufgaben der Dorfkirchengemeinde

In erster Linie ist die Dorfkirche der Ort des Sonntagsgottesdienstes. Ihre Glocken laden die Gläubigen zur Andacht ein. Der reguläre Sonntagsgottesdienst zieht heute auf den Dörfern nur noch wenige Menschen an. Dennoch verbinden viele Menschen auch heute noch mit ihrer Dorfkirche wichtige Stationen ihres Lebensweges oder Stationen ihrer Familiengeschichte: Die Dorfkirche ist der Ort, an dem man persönliche und familiäre Übergangsriten feiert (Taufe, Kommunion, Konfirmation, Trauung, Goldene Konfirmation, Goldene Hochzeit, Trauerfeiern).

In den letzten Jahrzehnten wurde die Kirchengemeinde des Dorfes oft als eine Art Verein angesehen, die im Zusammenspiel mit anderen Vereinen das Dorf prägt. In früheren Zeiten waren die Kirchengemeinde des Dorfes und ihr Pfarrer eine moralische Institution, die ausgesprochen und unausgesprochen über die Regeln des Zusammenlebens und die Werte des Dorfes wachten. Doch der Pfarrer war nicht nur eine Respektsperson, er kümmerte sich auch um die Bildung der Dorfbevölkerung. So gründete die Kirchengemeinde oft die erste Dorfschule und der Pfarrer stand der Schule vor, half aber auch der Dorfbevölkerung mit Schriftstücken und Verträgen. Manch einer forschte (so etwa der Kupferzeller Pfarrer Johann Friedrich Georg Hartmann Mayer zum Thema Landwirtschaft) und tätigte weitreichende Erfindungen (Philipp Matthäus Hahn in der Feinmechanik).

Geistliche Dimension

Die Kirche ist mitten im Dorf und doch auf eine andere Mitte als das Dorf selbst ausgerichtet. Ihre Pforten öffnen sich für alle Bewohnerinnen und Bewohner, egal, ob Alt- oder Neubürger, ungeachtet der sozialen Anerkennung oder der politischen Ausrichtung. Die Dorfkirche verbindet unterschiedliche Menschen innerhalb des Dorfkosmos miteinander. Und sie stellt mit ihrer Aufgabe, zum Gebet zu rufen und den Toten zu läuten, auch eine Verbindung mit der Vergangenheit des Dorfes, seiner Identität und seinem Selbstverständnis her.

Aktuelle Herausforderungen

Im Zuge der Abwanderung von Einkaufsgelegenheiten, Schulen und Bankfilialen vom Dorf in die Stadt erscheint in immer mehr Dörfern die Kirche als die letzte noch sichtbar verbliebene Institution. Daraus entstehen den Kirchengemeinden neue Aufgaben. Zugleich nimmt die Anzahl der Menschen, die Mitglied in einer Kirche sind, stetig ab, Pfarrerinnen und Pfarrer fehlen und Zusammenschlüsse von Kirchengemeinden und Pfarreien werden notwendig. Darin liegt für die Kirchengemeinden eine große Herausforderung. 

 

Zitierhinweis: Karina Beck, Die Kirche als Mittelpunkt des Dorfes, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020

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