Die Geschichte der Tracht

Von Carmen Anton

Vier Mädchen in Neustädter Tracht, aufgenommen von Annemarie Brenzinger, 1920er [Quelle: Badisches Landesmuseum Karlsruhe]
Vier Mädchen in Neustädter Tracht, aufgenommen von Annemarie Brenzinger, 1920er [Quelle: Badisches Landesmuseum Karlsruhe]

„Tracht“ wurde ursprünglich als wertneutrales Synonym für „Kleidung“ gebraucht. Der vergleichsweise junge Begriff, welcher sich um das Jahr 1500 erstmals belegen lässt, leitet sich vom selben Wortstamm ab wie das Verb „tragen“ und bezeichnet darum ganz allgemein all das, was eine Person an sich trägt. Doch schon im 17. Jahrhundert lässt sich gelegentlich eine negative Prägung des Begriffs nachvollziehen. In diesem Sinne wurde „Tracht“ zur Beschreibung belächelter, da veralteter und aus der Zeit gefallener Kleidung im Speziellen verwandt.

Heute klingt in dem Begriff vor allem eine Verbundenheit mit Tradition und Brauchtum mit. Mitunter wird in ihr auch eine Art der Uniformierung oder gar Kostümierung geargwöhnt. Doch diese Deutung wird den Trachten in all ihrer Vielfalt sowie Historie nicht gerecht. Sie sind viel mehr eng mit regionaler Kultur und Religiosität, aber auch Folklorismus und rückwirkend erfolgter Ausdeutung von Geschichte verflochtener Teil eines jeweils eng räumlich begrenzten Lebensraumes und kommunizieren damals wie heute Selbstbild und –bewusstsein der Bauern, welche die ursprünglichen Träger dieses Kulturgutes waren.

Die Entwicklung der uns heute bekannten Trachten wurzelt in der Zeit unmittelbar nach der Französischen Revolution im späten 18. Jahrhundert, reicht in einzelnen Elementen jedoch sogar noch bis zu zweihundert Jahre weiter zurück. Sie ist verwoben mit dem noch mittelalterlich geprägten Konzept der Ständegesellschaft, welche die Bevölkerung in drei als gottgegeben verstandener Gruppen unterteilte: Als erster Stand galt der Klerus, der sogenannte „Lehrstand“, dem Bildung sowie Verbreitung und Erhalt des christlichen Glaubens zufiel. Der zweite Stand bezeichnete den Adel, den sogenannten „Wehrstand“, dem der Schutz der anderen Stände oblag. Bei dem dritten und zahlenmäßig größten Stand handelte es sich um den sogenannten „Nährstand“, bestehend aus Bauern, Handwerkern und später auch dem aufkommenden Bürgertum.

Die Abgrenzung der eigenen Standeszugehörigkeit war alltäglich und konnte sich gerade im dritten Stand mit all seinen unterschiedlichen Gewerben und den ihnen zugehörigen Zünften noch weiter ausdifferenzieren. Heute immer noch gebräuchliche Beispiele für die Kommunikation eigener Gruppenzugehörigkeit durch Kleidung, wie sie dieser Tage bereits bekannt war, finden sich vor allem im Bereich des Klerus, der in seinen Ornaten nach wie vor seine unterschiedlichen Zweige kodiert. Weiterhin bekannt ist beispielsweise die Amtstracht der Richter oder auch die Kleidung der Zimmerleute auf der Walz.

Kleidung und Geschmack unterlagen stets den Auswirkungen gesellschaftlichen Wandels. Dabei beeinflussten sich diese beiden Pole mitunter wechselseitig. Zunehmender Wohlstand von Bürgertum und einzelnen Bauern wirkte sich auch auf deren Konsumverhalten und somit letztlich auf den Prunk ihrer Garderobe aus. Der Adel sah sich hierdurch wiederum brüskiert und in seinen Privilegien symbolisch attackiert, zumal der Wohlstand mancher Adelsfamilien über die Jahrhunderte stark abgenommen hatte. So konnten reiche Bürgerliche sich ihrem Vermögen nach dem zweiten Stand optisch annähern oder gar elaborierter gewanden als manche verarmten Adligen. Diese wiederum verdammten solchen Habitus entsprechend als schmählich und wider der Ordnung Gottes, wobei der Klerus sie unterstützte. Der auch modisch ausgetragene gesellschaftliche Konflikt mündete bereits früh, ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, nachdem die Pest wütete und vielfach als Strafe Gottes gedeutet worden war, in Erlassen zur Kleiderordnung, welche dem gemeinen Volk überbordenden Luxus untersagten, bestimmte Stoffe und Farben limitierten oder gar verboten und somit den Status Quo erhalten wollten.

Die Freiheit zum Luxus

Haube "Riedlinger Kappe" einer gut betuchten Dame, um 1830 [Quelle: Landesmuseum Württemberg]
Haube "Riedlinger Kappe" einer gut betuchten Dame, um 1830 [Quelle: Landesmuseum Württemberg]

Ende des 18. Jahrhunderts verloren sich die strikten Kleidungsauflagen und verschwanden mit der Französischen Revolution schließlich vollständig, ganz dem Credo der durch sie proklamierten Freiheit als Ideal folgend. In der Folge wurden Materialien für Bauern zugänglich, die ihnen zuvor verwehrt worden waren, wovon sie reichlich Gebrauch machen sollten.

So lässt sich auch erklären, warum eine scheinbare Vereinheitlichung der Kleidung und Finalisierung der Trachten ausgerechnet in eine Zeit fiel, in der die Tugenden der Revolution sowie große Philosophen wie Rousseau eigentlich den Siegeszug des Individuums über das Kollektiv, der Freiheit über die Knechtschaft ausriefen. Ferner trug die Lebenssituation auf dem Land und insbesondere in den Trachtenregionen im Speziellen hier ihr Übriges bei. Generell hielt man in Deutschland weiterhin an bekannten Traditionen fest und überlieferte sie. Speziell im ländlichen Raum blieb die Religiosität weiterhin stark ausgeprägt, was auch die Tracht, die als Kirchengewand und Hochzeitskleidung eng mit der Volksfrömmigkeit verbunden war, als relevanten Aspekt des Lebens erhielt.

Damit wird begreiflich, welche Faktoren dazu beitrugen, dass im herandämmernden „langen 19. Jahrhundert“ mit den Trachten letztlich barocke und gar mittelalterliche Konzepte konserviert und zelebriert wurden. Hierbei fällt auf, dass die Verbreitungsräume einzelner Trachten-Varianten stets durch kirchliche Gemeinschaftsräume, das sogenannte Kirchenspiel, begrenzt wurden, nicht durch die noch jungen politischen Grenzen, welche sich mit den Koalitionskriegen gewandelt hatten. Dieser Umstand verweist abermals auf die Fokussierung der ländlichen Bevölkerung auf die religiös geprägten Rahmensetzungen ihres Alltags.

Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang letztlich im primären Verwendungszweck der Trachten. Sie dienten im Leben der Bauern als Festkleidung für Sonntagsgottesdienste, hohe kirchliche Feiertage und zuletzt auch als Gewand für Familienfeste. Alltagstrachten waren, wo sie getragen wurden, oft lediglich Ensemble aus den ausrangierten, nicht länger ausreichend festlichen Gewandstücken.

Im Zuge von Festen fanden oft große Gruppen an Menschen zusammen, die sich sonst selten zu Gesicht bekamen. Elaborierte Kodierung in den Details der Trachten halfen in diesem Fall dabei, das Gegenüber zuzuordnen, besonders bezüglich seines Zivilstandes. Gerade in der Damentracht wurde stets kommuniziert, ob es sich um eine ledige, verheiratete oder vielleicht auch verwitwete Frau handelte. Entsprechende Gestaltungsmittel fanden sich vor allem in den Kopfbedeckungen der Damen wider. So war beispielsweise der einer Krone nachempfundene, eindrückliche Schäppel ledigen Mädchen von der kirchlichen Initiation bis hin zur Hochzeit vorbehalten. Der Zivilstand eines Mannes findet seltener in seiner Tracht Niederschlag.

Die Tracht in der Wahrnehmung der Gegenwart

 Herrenweste, katholische Baar, 19. Jahrhundert [Copyright: Badisches Landesmuseum Karlsruhe]
Herrenweste, katholische Baar, 19. Jahrhundert [Quelle: Badisches Landesmuseum Karlsruhe]

Heute finden Trachten vor allem im Rahmen von Festlichkeiten der Brauchtumspflege, Trachtenumzügen sowie als Kostüm öffentliche Beachtung. Die ersten beiden Verwendungen werden durch und mit Einwohnern historischer Trachtenregionen organisiert und getragen. Die mitunter geradezu karikaturhaft anmutenden modernen Variationen der Tracht für den Gebrauch bei Volksfesten oder im Karneval erregen indes oft breiten Unmut bei Trachtenvereinen und individuellen Trachtenträgern gleichermaßen. Sie sehen darin eine Persiflage ihres eigenen kulturellen Erbes sowie eine Verzerrung desselbigen in der öffentlichen Wahrnehmung.

Weiterhin entwickelte sich die sogenannte Trachtenmode, eine Modeströmung, welche sich ihrem Namen entsprechend an Elementen der Trachten bedient, allerdings nicht zwingend an historischen oder regionalen Ursprüngen einzelner Attribute festhält. Vielmehr rekombiniert sie Bekanntes, ergänzt es aber auch um Neues.

Zu den verbreiteten, romantischen Vorurteilen über Trachten zählt die fälschliche Annahme, sie seien historisch stets eigenhändig von ihren Trägern angefertigt worden. Tatsächlich jedoch ließ, wer auch immer es sich leisten konnte, möglichst große Mengen der Näharbeiten von professionellen Trachtenschneidern erledigen. Oft wurden lediglich detaillierte Verzierungen selbst vorgenommen. Entsprechend handelte es sich bei Trachten um kostspielige, wertige Investitionen, was wiederum mit ihrer Verwendung als Sonntags- und Festgewand in Einklang steht.

Um 1900 gründete sich eine Vielzahl kleiner, lokaler Trachtenvereine, die es sich zur Aufgabe machten dieses Kulturgut zu pflegen. In der Literatur verortet man hierin eine Gegenbewegung zu der für viele entwurzelnd wirkenden und große Unsicherheiten mit sich bringenden Industrialisierung dieser Zeit. Gesellschaftlichen Krisen im Angesicht einer sich rasch wandelnden Epoche und einer ungewissen Zukunft wurde der Halt des Bekannten, Heimeligen entgegengestellt. Heimatforscher und Trachtenträger gleichermaßen stehen diesen Vorgängen nicht uneingeschränkt positiv gegenüber. Mitunter wird beklagt, dass durch die im Verein erfolgte Normierung der Tracht regionale Variationen der Details vielfach verloren gegangen seien. Dies wird darauf zurückgeführt, dass oft bloß eine bestimmte, archetypische Version der Förderung durch Vereine unterliegt und so sukzessive andere Gestaltungstypen verdrängt.

Eine weitere vielzitierte Problematik der Tracht als Forschungsgegenstand findet sich im Phänomen des sogenannten Trachtenfolklorismus. Dieser verweist darauf, dass das Prinzip Tracht im 19. Jahrhundert von bürgerlichen und adligen Kreisen mit Interesse verfolgt, dokumentiert, aber vor allem auch konzeptionell idealisiert wurde. So entstanden Vorstellungen von Trachten, die so nicht zwingend der Realität entsprachen. Vielmehr spiegelte sich darin die eigene Sehnsucht nach dem romantischen Ideal einer überzeitlich konservierten Ursprünglichkeit des der Natur nahen Menschen auf dem Land. Aber auch die Suche nach den eigenen Wurzeln durch nationalistische Strömungen, welche in den Trachten nach Kontinuitätslinien suchten, um ein eigenes Konzept von klar abgrenzbarem Volkserbe zu belegen, tritt darin hervor.

Diese Rezeptionen, die nicht zuletzt auch Touristen in die Trachtengebiete führten, konnten mitunter zu selbsterfüllenden Prophezeiungen geraten, indem sich nun Trachtenträger dem idealisierten Bild ihrer Lebensform zumindest vordergründig anglichen. Man spricht darum auch davon, dass Trachten durch bürgerliche Kreise nicht bloß „gefunden“, sondern mitunter gar „erfunden“, wenigstens vor ihrem Niedergang bewahrt wurden. So war und ist Tracht zu jeder Zeit auch in ein Spannungsfeld kultureller Entwicklungen eingebettet, in dem sie, ebenso wie andere traditionell überlieferte Kulturformen, in der Situation entsprechend modifizierter Weise als Reaktion auf äußere Einflüsse erscheinen kann.

Einen exemplarischen Eindruck der Vielfalt der baden-württembergischen Trachtenlandschaft vermitteln die Detailartikel zu Gutach, St. Peter und Betzingen. Bei den erstgenannten Orten handelt es sich um Dörfer im Schwarzwald, ein evangelisches und ein katholisches. Der Schwarzwald, dessen Bevölkerung noch bis ins 18. Jahrhundert zu rund 90 Prozent aus Bauern bestand, ist berühmt dafür einige der ältesten Trachten Deutschlands zu beherbergen. Im 19. Jahrhundert indes waren zwei andere Gewerbe zu seinen bedeutsamsten Industrien aufgestiegen: An erster Stelle die Uhrenproduktion, die sich bis heute in den berühmten Schwarzwalduhren überliefert, sowie an zweiter Stelle die Strohflechterei mit ihren beliebten Hüten, welche auch ins Ausland exportiert wurden, nach Frankreich oder gar Russland. So wundert es kaum, dass ausgerechnet die Hüte als Hauptmerkmal zur Unterscheidung verschiedener Trachten herangezogen werden können. Bei dem württembergischen Betzingen handelt es sich um ein weiteres evangelisches Dorf, gelegen unmittelbar vor den Toren eines bedeutenden Industriestandorts.

Literatur

  • Fuchs, Felizitas (Hrsg.), Die Wälder und ihr Kleid. Bäuerliche Kleidung zwischen Politik und Privatsache. Das Beispiel der Lehengerichter Tracht. Begleitheft zur Ausstellung ab Juli 1995, in: Schriften der Städtischen Museen Schiltach, Schiltach 1995.
  • Hoyer, Jennifer, Die Tracht der Fürstin. Marie Anna zu Schaumburg-Lippe und die adelige Trachtenbegeisterung um 1900, in: Münsteraner Schriften zur Volkskunde/Europäische Ethnologie, Münster 2016. 
  • Landesverband der Heimat- und Trachtenverbände Baden-Württemberg e.V.(Hrsg.), Trachtenvielfalt in Baden-Württemberg, Neckartailfingen 2016.
  • Schöck, Gustav, Tracht und Kleidung, in: Blümcke, Martin (Hrsg.), Alltagskultur in Baden-Württemberg, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.), Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Band 30, Stuttgart 2003, S. 192 – 210.

 

Zitierhinweis: Carmen Anton, Die Geschichte der Tracht, in: Alltagskultur im Südwesten. URL: [...], Stand: 08.08.2020

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