Arbeitswelt

Florian Brückner, Universität Stuttgart

Bericht über den Generalstreik in den Neuesten Nachrichten, herausgegeben von Stuttgarter Tageszeitungen, 30. August 1920, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS E 130 a Bü 212, Bild 52)

Bericht über den Generalstreik in den Neuesten Nachrichten, herausgegeben von Stuttgarter Tageszeitungen, 30. August 1920, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS E 130 a Bü 212, Bild 52)

Prägender Faktor für die württembergische Arbeitswelt war eine während der Novemberrevolution neu ausgearbeitete Sozial- und Arbeitsordnung, die in Form von Tarifverträgen Lohn und Arbeitszeiten zugunsten der Arbeiterschaft neu regelte. Zu den wesentlichen Neuregelungen gehörten die Einführung der 46-Stunden-Woche und des Achtstunden-Tages sowie die Festschreibung von Mindestlöhnen. Die Gewerkschaften entwickelten ein neues Selbstbewusstsein, da Arbeitnehmerrechte gestärkt worden waren.

Die Gewerkschaften vermochten oftmals Lohnsteigerungen durchzusetzen, sodass die realen Stundenlöhne nach dem Kriegsende jene von vor 1914 überstiegen und die heimkehrenden Soldaten in den Arbeitsmarkt zurückgeführt werden konnten. Dennoch wirkte sich die schleichende Geldentwertung negativ auf die Kaufkraft aus. Da neben Lebensmittelteuerungen auch in anderen lebensnotwendigen Bereichen wie der Kohle-, Textil- und Stromversorgung bis 1923 eklatanter Mangel herrschte, existierte genügend sozialer Sprengstoff, um Unruhen und Streikbewegungen auszulösen. So protestierten am 22. Juni 1920 bis zu 100.000 Gewerkschaftsmitglieder in Stuttgart gegen die sozialen Missstände. Weitere Großveranstaltungen folgten in Ulm und Ravensburg, wo die Reichswehr sogar das Feuer auf die Demonstranten eröffnete. Soziale Unruhen erfassten auch Heidenheim, Tübingen, Calw, Ludwigsburg, Kornwestheim und Kirchheim/Teck.

Einen Negativhöhepunkt erlebte diese Entwicklung im August 1920. Im Zuge der Erzbergerschen Finanzreform erhob die Reichsregierung eine neue Einkommensteuer in Höhe von 10 % auf Löhne und Gehälter.

Daraufhin gingen in Stuttgart erneut 10.000 Menschen auf die Straße. In den Daimler Werken kam es zu Streiks, Randalen und Sabotagen. Arbeiter zwangen die Betriebsleitungen, die Löhne ohne Abzug der Steuererhöhung auszuzahlen. Eine Forderung, der die Betriebsleitung vor dem Hintergrund der Streiks nachkam. Am 25. August entsandte die Landesregierung Sicherheitswehren in das Untertürkheimer Werk, das in der Folge geschlossen und von Polizeiposten bewacht wurde. Wer sich illegal Zutritt zu verschaffen versuchte, wurde mit der Schusswaffe bedroht.

In den Bosch-Werken kam es ebenso zu wilden Streiks und ungeplanten Arbeiterversammlungen. Wie in den Daimler-Werken drohten hier ebenfalls entrüstete Arbeiter der Betriebsleitung mit Gewalt, wenn diese nicht die Löhne ohne den Steuerabzug auszahlten. Auch hier antwortete die Landesregierung mit der Besetzung der Werke in Stuttgart und Feuerbach durch Polizeieinheiten.

Die Betriebsräte entschieden sich dazu, den Generalstreik auszurufen, obgleich die Gewerkschaftsführungen einer solchen Maßnahme nicht zustimmten. Die Bosch-Werke befanden sich daraufhin in einem 10-tägigen Belagerungszustand. Weitere Streiks erfassten auch Betriebe in Ulm sowie das Stuttgarter Landestheater.

Quelle

Die vorliegende dem Staatsministerium entstammende Akte enthält Material zu Verlauf, Forderungen und Verhandlungen der Landesregierung und den Vertretern der streikenden Gruppierungen. Sie enthält zudem Telegramme streikender Arbeiter an die württembergische Landesregierung. Zu den zentralen Akteuren zählten während der Verhandlungen die Betriebsrätevollversammlung, die zuständigen Ortsausschüsse des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, die Agentur für Arbeitsvermittlung, das Christliche Gewerkschaftskartell, die Gewerkvereine der Gesamtarbeiterschaft sowie die württembergische Staatsregierung.

Die verhandelnden Gruppierungen, die auf Seiten der Streikenden standen, erhoben im Wesentlichen folgende Forderungen: 1. Die Einberufung des Landtages, 2. die Wiederherstellung gesetzmäßiger Zustände, d.h. den Abzug der Polizeieinheiten aus den besetzten Betrieben, 3. die Einleitung von Verhandlungen zur Beilegung des Steuerkonfliktes und schließlich 4. die Wiedereröffnung der geschlossenen Betriebe.

Die Landesregierung, die mit dem Einsatz von Polizeieinheiten das Vertrauen der streikenden Gruppierungen verspielt hatte, versuchte, den Bruch mit der Arbeiterschaft durch die Signalisierung von Verhandlungsbereitschaft zu verhindern. Sie ließ sich auf Gespräche mit den gegnerischen Gruppierungen ein, zog sich jedoch im Wesentlichen auf die Position zurück, dass es sich bei den Steuererhöhungen um eine von der Reichsregierung durchgeführte Maßnahme handele, die reichsweit erfolge. Damit gab sie Probleme und die damit verbundene Angriffsfläche an die Reichsregierung weiter, die die Steuererhöhung zu verantworten hatte.

Im Zuge der weiteren Auseinandersetzungen führte jegliche oben genannte Forderung der streikenden Parteien mit dem Ziel des Streikabbruchs in die gleiche Sackgasse: So delegierte die Landesregierung die Forderung nach Zahlung von Lohn bei streikbedingtem Arbeitsausfall ebenfalls in den Kompetenzbereich der Arbeitgeber, die allein hierfür zuständig seien. Gleiches galt für die vorgetragene Forderung, Streikende nicht zu entlassen.

Dabei wird aus den Dokumenten der Akte ersichtlich, dass die Ausrufung des verschärften Generalstreiks durch die Betriebsräte die Konfrontation mit der Landesregierung nur weiter eskalieren ließ und Verhandlungen in dieser überaus festgefahrenen Situation nahezu unmöglich machte. Letztlich führte die unnachgiebige Haltung der Landesregierung dazu, dass der Steuerabzug in den Verhandlungen immer weniger im Mittelpunkt stand, sondern es in den folgenden Tagen lediglich darum ging, den Streik zu beenden, ohne dass die Streikenden ihr Gesicht verloren.

Auf diese Weise kam der Streik nach einer Woche zum Erliegen. Die auf Seiten der Streikenden handelnden Gruppierungen gaben unterschriftlich ihre Zustimmung zum Steuerabzug, die ‚Rädelsführer‘ wurden entlassen. In den Daimler-Werken wurde beispielsweise allen Beschäftigten gekündigt, auch wenn sie nicht zu den Rädelsführern gehört hatten. Nach der Wiedereröffnung der Produktionsstätten im Oktober waren von ehemals 7.776 Arbeitern und 1.048 Angestellten nur noch rund die Hälfte, nämlich 3.270 bzw. 585 beschäftigt.

GND-Verknüpfung: Arbeitswelt [4002805-7]

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Das vorgestellte Dokument im Online-Findmittelsystem des Landesarchivs BW: 

Gemeinsame Ausgabe der Stuttgarter Zeitungen zum Generalstreik, 30.8.1920