Verbot der Gebärdensprache

von Johannes Hennies

Artikulationsunterricht in der Heidelberger Gehörlosenschule im Jahr 1937 [Quelle: Stiftung Pro Kommunikation in Baden-Württemberg e.V.]. Aus rechtlichen Gründen wurden die Gesichtszüge der abgebildeten Personen anonymisiert. Zum Vergrößern bitte klicken.
Artikulationsunterricht in der Heidelberger Gehörlosenschule im Jahr 1937 [Quelle: Stiftung Pro Kommunikation in Baden-Württemberg e.V.]. Aus rechtlichen Gründen wurden die Gesichtszüge der abgebildeten Personen anonymisiert. Zum Vergrößern bitte klicken.

Die ersten Schulen für gehörlose Kinder wurden in den 1770er Jahren durch Samuel Heinicke in Leipzig und Abbé Charles-Michel de l’Epée in Paris gegründet. Die beiden vertraten etwas unterschiedliche Ansätze: Heinicke sah die Lautsprache als Ausgangspunkt der Bildung von gehörlosen Kindern und de l’Epée ging von der Nutzung von Gebärden aus, die er von den Gehörlosen gelernt und durch eigene Handzeichen ergänzt hatte. Deswegen stehen sie jeweils für den lautsprachlichen Ansatz (später als „Deutsche Methode“ bezeichnet) und den gebärdensprachlichen Ansatz (später als „Französische Methode“ bezeichnet). Allerdings wurde in den zahlreichen Schulen, die in den folgenden hundert Jahren gegründet wurden, sowohl international als auch in Deutschland, die Gebärdensprache eingesetzt und gehörlose Pädagoginnen und Pädagogen beschäftigt.

Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich das gesellschaftliche und fachpolitische Klima und es fanden sich immer mehr Befürworterinnen und Befürworter einer primär oder rein lautsprachlichen Erziehung. Hintergrund war die zunehmende Industrialisierung und Nationalstaatenbildung, die Druck hinsichtlich einer größeren gesellschaftlichen und auch sprachlichen Einheitlichkeit erzeugte. In der gleichen Zeit fand auch eine Professionalisierung des Berufs des Taubstummenlehrenden statt und in den Ausbildungsverordnungen fand die Gebärdensprache, deren Status als vollwertige Sprache noch nicht erkannt worden war, keinen Raum. Dies führte zu einer Verdrängung gebärdensprachlicher Ansätze in der Pädagogik und zum langsamen Ausscheiden der gehörlosen Pädagoginnen und Pädagogen aus dem Schuldienst und den Einrichtungen für hörbehinderte und gehörlose Menschen. Bei dem 2. Internationalen Taubstummenlehrer-Kongress im Jahr 1880 in Mailand wurde von der überwiegenden Mehrzahl der Anwesenden der Vorzug der lautsprachlichen gegenüber der gebärdensprachlichen Methode im Unterricht beschlossen, was in vielen Ländern als „Gebärdensprachverbot“ umgesetzt wurde. Für die Schülerinnen und Schüler hatte dies sehr belastende Folgen. Der Mailänder Kongress ist deswegen als das Symbol für die Verdrängung der Gebärdensprache in die Geschichte eingegangen. Sein Beschluss wurde erst im Jahr 2010 von den Teilnehmenden des 21. Kongresses der immer noch existierenden Kongressreihe (heute: International Congress on the Education of the Deaf) in Vancouver offiziell zurückgenommen.

Die Beschlüsse des Mailänder Kongresses hatten in Deutschland ungefähr 100 Jahre Bestand und das Verbot der Gebärdensprache im Unterricht wurde insbesondere im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit – sowohl in der BRD als auch in der DDR – fast ohne fachlichen Widerspruch umgesetzt. Dennoch waren die Schulen, neben Gehörlosenverbänden und -gemeinden, wichtige Orte der Weitergabe und -entwicklung der Gebärdensprache, weil sie von Schülerinnen und Schülern außerhalb des Unterrichts und insbesondere in den Internaten heimlich verwendet wurde.

Das Verbot der Gebärdensprache begann sich erst zu lockern, als in den 1960er Jahren in den USA und in den 1980er Jahren in Deutschland die linguistische Erforschung von Gebärdensprachen begann. Zu dieser Zeit entstand auch der Name Deutsche Gebärdensprache (DGS) als Bezeichnung der nationalen Gebärdensprache in Deutschland. Die rechtliche Anerkennung der DGS fand erst 2001 im IX. Sozialgesetzbuch statt und ein explizites Recht auf gebärdensprachliche Beschulung wurde erst mit der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 in Deutschland gesetzlich verankert.

In der Hörgeschädigtenpädagogik wurde das Gebärdensprachverbot nur stufenweise und unter erheblichen fachinternen Konflikten zurückgenommen: Im Jahr 1982 wurde in einer als „Münchner Gebärdenpapier“ bekannt gewordenen Stellungnahme von Berufs-, Eltern- und Betroffenenverbänden die Verwendung von Lautsprachbegleitenden Gebärden offiziell wieder erlaubt. Die Verwendung der DGS war weiterhin ausgeschlossen. Im Jahr 1992 begann unter großem Protest von etablierten Vertreterinnen und Vertretern der Hörgeschädigtenpädagogik an der Hamburger Gehörlosenschule der so genannte „Hamburger Bilinguale Schulversuch“, in dem zwei Klassen von gehörlosen Kindern erstmals seit ca. 100 Jahren wieder in Gebärdensprache (sowie Laut- und Schriftsprache) unterrichtet wurden und in denen ein Team aus gehörlosen und hörenden Pädagoginnen und Pädagogen zusammen tätig war. Mittlerweile ist die (Wieder-)Einführung der Gebärdensprache in den deutschen Hörgeschädigtenschulen deutlich fortgeschritten: Es gibt an zahlreichen Schulen (bimodal-)bilinguale Klassen und das Fach Deutsche Gebärdensprache ist in einigen Bundesländern eingeführt worden. Andere Bundesländer planen die Einführung, nachdem im Herbst 2021 von der Kultusministerkonferenz der Länder eine „Empfehlung zu curricularen Vorgaben eines Wahlpflicht- oder Wahlfaches Deutsche Gebärdensprache (DGS) verabschiedet worden ist. Allerdings gibt es aktuell (Frühjahr 2022) weder an Hörgeschädigtenschulen, noch im Bereich der Inklusion, also an Regelschulen, ein flächendeckendes Bildungsangebot unter Einbezug der DGS für gehörlose und schwerhörige Kinder. Gelegentlich beantragen die Eltern bei den Sozialträgern Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher, damit ihre gehörlosen Kinder in der Regelschule oder Hörgeschädigtenschule barrierefrei am Unterricht teilnehmen können.

In Baden-Württemberg wurde das Gebärdensprachverbot konsequent umgesetzt und – im nationalen wie internationalen Vergleich – besonders lange aufrechterhalten. Das Leitbild eines rein lautsprachlichen Unterrichts prägte das Studium der Hörgeschädigtenpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, der einzigen Hochschule im Bundesland, die für diesen Bereich ausbildet, noch bis in die 2000er Jahre. Im Jahr 2011 wurde im Bildungsplan „Schule für Hörgeschädigte“ des Landes Baden-Württemberg die DGS erstmals in einem schulrechtlichen Dokument verankert und im Jahr 2013 durch eine Handreichung „Deutsche Gebärdensprache. Hilfen für die Einführung in Schulen“ im Auftrag des Kultusministeriums ergänzt.

 

Literatur

  • Günther, Klaus-B.; Hennies, Johannes, Bilinguale Bildung in Gebärden-, Schrift- und Lautsprache gehörloser und hochgradig schwerhöriger Schüler in Deutschland: Ein Resümee aus der Sicht der Begleitforschung nach 20 Jahren, in: Hörgeschädigte Kinder erwachsene Hörgeschädigte 48:1 (2011), S. 34-46.
  • Van Cleve, John V, History. Sign Language Controversy, in: Gallaudet Encyclopedia of Deaf People and Deafness, Volume 2, hg. von John V. van Cleve, u.a., New York 1987, S. 52-61.
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Zitierhinweis: Johannes Hennies, Verbot der Gebärdensprache, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 30.06.2022

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