Sexualität in Heimen sowie in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie

von Gudrun Silberzahn-Jandt

 

Jugendliche vor dem Männerhaus [Historisches Archiv Diakonie Stetten 3707]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Jugendliche vor dem Männerhaus [Historisches Archiv Diakonie Stetten 3707]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Der Umgang mit Sexualität in den Heimen war bis in die 1970er Jahre hinein von Tabuisierung geprägt. Es galt der Grundsatz, freundschaftliche und möglicherweise sich daraus entwickelnde sexuelle Beziehungen unter Bewohnerinnen und Bewohnern zu unterbinden. Von der Idee sexueller Selbstbestimmung und der Erziehung dazu war man noch weit entfernt.

Ein Mittel, Beziehungen zu verhindern, war die möglichst konsequent räumlich getrennte Unterbringung von Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männern. Dazu hatten die Gebäude an unterschiedlichen, nicht einsehbaren Seiten ihre Eingänge und waren oft zudem noch durch Zäune, Mauern oder Hecken getrennt. Bäder, Spielplätze oder andere gemeinsam genutzte Räume durften Mädchen und Frauen zu anderen Zeiten betreten als Jungen und Männer.

Wenn sie sich trafen, geschah dies nur unter Aufsicht und zu besonderen Anlässen, wie beim Kirchgang oder in einigen wenigen Arbeitskontexten oder bei großen Festlichkeiten. Ludwig Schaich, Leiter der „Anstalt Stetten“ von 1930 bis 1967 und Verfasser eines 1953 edierten und 1957 ergänzten Lehrbuchs für die Ausbildung der Heilerziehungspflege, begründete diese strikte Geschlechtertrennung damit, dass jugendliche und erwachsene Menschen mit Behinderung dem Zusammenleben in einer gemischtgeschlechtlichen Wohneinheit nicht gewachsen seien.

Bereits bei der Heimaufnahme gehörte zur ärztlichen Anamnese die Frage nach dem „Sexualtrieb“. Die jeweils untersuchende Person konzentrierte sich dabei auf scheinbare Abweichungen von der Normalität. War jemand sehr anhänglich und suchte viel Nähe zu anderen, seien es Erwachsene oder Kinder, konnte dies schon als krankhaft klassifiziert werden. Gleiches galt für das Interesse am jeweils anderen Geschlecht oder bei dem Verdacht homosexueller oder lesbischer Neigungen.

Mädchen auf der Hangweide in der Anstalt Stetten [Historisches Archiv Diakonie Stetten 1970 a]. Aus rechtlichen Gründen wurden die Gesichtszüge der abgebildeten Personen anonymisiert. Zum Vergrößern bitte klicken.
Mädchen auf der Hangweide in der Anstalt Stetten [Historisches Archiv Diakonie Stetten 1970 a]. Aus rechtlichen Gründen wurden die Gesichtszüge der abgebildeten Personen anonymisiert. Zum Vergrößern bitte klicken.

Das Sprechen über Sexualität war tabuisiert, ebenso wie jegliche Form der körperlichen Nähe, die Intimität vermuten ließ. Weder Mädchen noch Jungen erfuhren in den heimeigenen Sonderschulen oder zu einem späteren Zeitpunkt einen adäquaten Sexualunterricht oder Aufklärung. Die Erziehung beruhte auf dem Grundsatz, dass Menschen mit Lernbehinderungen in diesem Bereich häufiger „Fehlentwicklungen“ hätten, die auf einer nicht ausreichend erlernten „Triebhemmung“ beruhten. Diese zu reduzieren und Keuschheit und Ehelosigkeit zu fördern, müsse das zentrale Ziel der Sexualerziehung sein. Ludwig Schlaich billigte in seinem zweiten, nach seinem Ausscheiden als Anstaltsleiter 1974 verfassten Lehrbuch eine eigene Sexualität ausschließlich Menschen mit einer leichten Lernbehinderung zu. Für sie schloss er die Möglichkeit, in einer Beziehung zu leben und zu heiraten, nicht kategorisch aus, förderte dies aber auch nicht.

Dies alles bedeutete, dass im Heimalltag vieles im Verbotenen und Geheimen geschah. Männliche Jugendliche stellten Bewohnerinnen hinterher, indem sie Schlupflöcher durch die Zäune nutzten. Mädchen konnten sich nur schlecht dagegen zur Wehr setzen, da ihnen sobald sie dies der jeweiligen Erzieherin mitteilten, sogleich ein aufreizendes Verhalten unterstellt wurde. Fanden doch zwei zusammen, so standen andere Mitbewohnerinnen und Mitbewohner Schmiere, wenn das Pärchen sich heimlich verabredet hatte. Wurden diese erwischt, so folgten unterschiedliche Strafen. Manche erhielten über Tage hinweg Hausarrest und konnten deshalb die Freundschaft nicht mehr pflegen, andere wiederum wurden nur streng belehrt. Erachtete die Heimleitung eine Beziehung als schweren Fall, ordnete sie eine Verlegung von einem der beiden Menschen in eine andere Einrichtung an und unterband dadurch die Beziehung.

Auch sexuelle Übergriffe, sei es von Personen außerhalb der Anstalt auf weibliche Jugendliche oder auch – wie in einigen Einrichtungen inzwischen öffentlich gemacht – auf Jungen und Mädchen durch Personal wurden selten besprochen oder gar zur Anzeige gebracht und juristisch verfolgt. Vielmehr reagierte man auf sexualisierte Gewalt – wenn überhaupt den Betroffenen Glauben geschenkt wurde – mit Verschweigen und Bagatellisieren.

Wiederholt wird berichtet, dass sich sexuelle Bedürfnisse insbesondere bei Männern und pubertierenden Jungen in homosexuellen Praktiken zeigten. Nicht immer war dies von beiden gewünscht und entsprach ihrer sexuellen Orientierung. Vielmehr beruhte diese auch mitunter gewaltvoll gelebte Homosexualität häufig auf der strikten Trennung zwischen den Geschlechtern und dem Verbot, heterosexuelle Beziehungen einzugehen.

Nachts, wenn auf der Gruppe kein Personal anwesend war und die Jugendlichen in ihren Häusern unter sich waren, konnte Sex stattfinden. Dies war dem Personal oft bekannt, wurde aber nicht thematisiert. Fanden solche Praktiken jedoch unter Zwang statt, so schritten die Leitungen meistens ein. Sie versuchten durch Verlegung den als Täter Identifizierten mehr zu überwachen und ihm die Möglichkeit, sexuelle Handlungen vorzunehmen, zu unterbinden. Gelang dies nicht, war das letzte Mittel die Einweisung in eine psychiatrische Klinik.

Veränderungen im Umgang mit Sexualität begannen in den 1970er Jahren. So legte 1973 der Verband evangelischer Einrichtungen für geistig und seelisch Behinderte e. V. als Diskussionsgrundlage einen Entwurf von Richtlinien für die Pflege, Therapie und Förderung von Menschen mit Behinderungen in Heimen und Anstalten vor. Darin wurde eine Reihe von Vorteilen einer koedukativ orientierten Gestaltung der Arbeit in Heimen und Anstalten genannt. Stichpunktartig wird aufgezählt: „Möglichkeit der Neutralisierung der Sexualität und damit Abschwächung schädlicher Auswirkungen, Eindämmung gleichgeschlechtlicher Entartungen, Vermeidung von Lebensfremdheit und unnatürlichen Spannungen, Dämpfung von Neugier und damit Milderung von Gefahren der Begegnungen im Zwielicht, Weckung von positiven Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Verständnis für gegenseitige Eigenarten, Schaffung von mehr ungezwungenem, an unerwünschten Spannungen armem Zusammenleben der Geschlechter, gesamtpersönliche Bereicherung durch die Begegnung mit dem anderen Geschlecht, Gewinnung von sozialen Erfahrungen, Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegen eine sexualisierte Welt“. Sexualität galt weiterhin nicht als Bedürfnis, mit dem Menschen mit Behinderung selbstbestimmt umgehen sollten. Insbesondere bei Mädchen wurde dies weiter streng beobachtet, Schwangerschaften sollten unbedingt verhindert werden.

Vielmehr war es die Aufgabe des Personals, darauf zu achten, dass die Sexualität gedämpft und gezügelt wurde. Eine Sexualerziehung und damit das Augenmerk auf den Umgang mit Sexualität und auf die Beachtung der eigenen Wünsche und denen eines Partners oder Partnerin fand noch nicht Einzug in die Anstaltswelt. Für Menschen innerhalb der Einrichtung galt weiterhin, dass Sexualität vermieden werden sollte. Bis Zäune zwischen den Männer- und Frauenhäusern fielen und gemischtgeschlechtliche Freizeiten und Wohngruppen zur Normalität wurden, brauchte es noch viele Jahre.

 

Zitierhinweis: Gudrun Silberzahn-Jandt, Sexualität in Heimen sowie in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.

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