Erziehungsratgeber nach 1945

von Corinna Keunecke

Die Ratgeberliteratur war nach 1945 vor allem durch Kontinuität gekennzeichnet: Einige Bücher, die im Nationalsozialismus erschienen waren, wurden neu aufgelegt und teilweise kaum verändert. Die zugrundeliegenden Bilder vom Wesen des Säuglings und des Kleinkinds wurden nur sehr zögerlich verändert. Zwischen früher Kindheit und Politik wollte man nach 1945 zunächst keinen Zusammenhang sehen.

Eine besondere Rolle nimmt Johanna Haarers Ratgeber zu Schwangerschaft, Geburt, Pflege und Erziehung kleiner Kinder ein. Im Jahr 1934 wurde er unter dem Titel „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ erstmals veröffentlicht. Ab 1949 wurde er unter dem nur leicht veränderten Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ um die NS-propagandistischen Stellen gekürzt und neu bearbeitet herausgegeben. Eines der wesentlichen Merkmale des Buches ist der autoritäre Kommunikationsstil: Die Kinder seien nur in den Griff zu bekommen, wenn die Eltern die Ratschläge präzise befolgten; Spielraum für eigene Einschätzungen und Entscheidungen wurde ihnen nicht eingeräumt. Wie die Autorin der Ratgeber ihre Leserinnen und Leser, die Eltern, behandelt, lässt sich darauf übertragen, wie diese wiederum ihre Kinder behandeln sollten: Die Strukturen der Beziehung sind gleichermaßen hierarchisch. Die Kinder zu verwöhnen wurde als Hemmnis ihrer notwendigen Abhärtung für das Leben betrachtet: Diesen Gedanken erkennt man in vielen der normierten Praktiken der Säuglingspflege wieder. Die Eltern sollten die Kinder beispielsweise nach der Uhr füttern und auch bei Schmerz keine Empathie zeigen.

In den 1950er Jahren erschienen in der Bundesrepublik erstmals Übersetzungen von Ratgebern aus anderen Ländern, insbesondere den USA. Besonders erfolgreich war der 1952 erstmals auf Deutsch erschienene Ratgeber des US-amerikanischen Kinderarztes Benjamin Spock. Im Gegensatz zu Haarer betonte er grundsätzlich die Erziehungskompetenz der Eltern: Im Zweifelsfall wüssten diese am besten, was richtig für ihr Kind und der jeweiligen Situation angemessen sei. Anstatt rigide Regeln und Zeitvorgaben durchzusetzen, solle man auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen und keine Angst haben, es zu verwöhnen. Spocks Anspruch war es vor allem, Verständnis für das Kind zu wecken. Neu war auch sein psychoanalytischer Blick auf Themen wie Rivalität unter Geschwistern, Trotz und ähnliche Konflikte.

Die gesellschaftlichen Veränderungen ab Ende der 1960er Jahre schlugen sich auch in der Ratgeberliteratur nieder. Seitdem gab es vermehrt Veröffentlichungen, in denen eine freiere Erziehung gefordert wurde und deren Autorinnen und Autoren die Eltern dazu ermutigten, Kindern mit Vertrauen, Güte und Unterstützung zu begegnen. Dass diese neue, liberale Position nicht ohne Ambivalenzen und Widerstände umgesetzt werden konnte, zeigt sich zum Beispiel daran, dass manche Autorinnen und Autoren dazu rieten, das Kind, wenn nötig, auch zu züchtigen, um ihm beizustehen. Es meldeten sich auch jene zu Wort, die die neuen, liberalen Ansätze für übertrieben hielten und für ein gewisses Maß an Autorität plädierten. Manche lehnten diese Ansätze auch grundsätzlich ab und warnten vor den – sich ihrer Ansicht nach daraus ergebenden – weitreichenden Risiken für Kinder und Gesellschaft.

Eine Pluralisierung und Spezialisierung der Erziehungsbücher, die auch individuellen Lebens- und Problemlagen von Kindern und Familien gerecht wurden, setzte erst langsam ab den 1970er Jahren ein. Trotz dieser moderneren Ansätze verkauften sich noch bis in die 1970er Jahre die aus der NS-Zeit stammenden Ratgeber mit ihren rigiden, aber als bewährt geltenden Positionen am besten. Bis 1987 betrug die Gesamtauflage von Haarers Buch 1,2 Millionen und prägte also sehr viele Kindheiten auch in der Nachkriegszeit.

Literatur

  • Chamberlain, Sigrid, Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher, Gießen 1997.
  • Benz, Ute, Brutstätten der Nation. „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ oder der anhaltende Erfolg eines Erziehungsbuches, in: Barbara Distel, Wolfgang Benz (Hrsg.), Medizin im NS-Staat. Täter, Opfer, Handlanger (4) 1988.
  • Höffer-Mehlmer, Markus, Elternratgeber. Zur Geschichte eines Genres. Baltmannsweiler 2003.
  • Höffer-Mehlmer, Markus, Sozialisation und Erziehungsratschlag. Elternratgeber nach 1945, in: Miriam Gebhardt/Clemens Wischermann (Hrsg.), Familiensozialisation seit 1933 – Verhandlungen über Kontinuität, Stuttgart 2007, S. 71-87.
  • Gebhardt, Miriam, Haarer meets Spock – frühkindliche Erziehung und gesellschaftlicher Wandel seit 1933, S. 87-107.
  • Rutschky, Katharina (Hrsg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1977.

 

Zitierhinweis: Corinna Keunecke, Erziehungsratgeber nach 1945, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 09.02.2022.

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