Gymnasium

von Helen E. Mayer

 

Ein Portraitfoto von der Autorin als Kind [Quelle: Helen E. Mayer]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Ein Portraitfoto von der Autorin als Kind [Quelle: Helen E. Mayer]. Zum Vergrößern bitte klicken.

„Darüber muss ich mit Tante Luise reden!“ Tante D. steht in ihrer blauen Schwesterntracht vor mir. Wir gehen zu Tante L., die in der Küche mit fahrigen Bewegungen in den riesigen Töpfen rührt. „Ins Gymnasium willst du?“ Missmutig sieht sie zu mir herunter. Dabei fällt ihr ein, dass sie auch nicht auf die Höhere Töchterschule durfte, obwohl sie eine begabte Schülerin war. Ihr Vater hatte damals nur den Kopf geschüttelt. Ein Mädchen brauche so etwas nicht, sie solle lieber etwas Nützliches machen. Und dann kamen Hitler und der Krieg ...

„Ein Mädchen braucht so etwas nicht“, sagt sie, wie gewohnt schrill und unnachgiebig. Tränen der Ohnmacht und Wut schießen mir in die Augen. Ich muss an meine Schulfreundin S. denken. „Was ist ein Gymnasium?“, hatte ich sie gefragt und versucht, meinen Schreck darüber zu unterdrücken, dass sie die Schule verlassen wird.

Ich wende mich ab, damit die blöden Tanten meine Tränen nicht sehen, renne die Treppe hoch in den „Stillen Winkel“ (sämtliche Zimmer haben einen Namen) und werfe mich aufs Bett. Warum soll das nicht gehen? Wenn ich mir vorstelle, dass S. nicht mehr neben mir sitzt, ich ohne sie in der blöden Schule zurückbleiben muss. Nein, nein!

Tante D. kommt herein. „Vergiss´ den Religionsunterricht heute nicht“, sagt sie leise. In ihrer Stimme schwingt warme Nachgiebigkeit, so als wolle sie sagen: „Mach doch was du willst, du lässt dir ja sowieso nichts mehr von mir sagen. Der Liebe Gott wird schon wissen, was er mit dir vorhat.“
„Ich geh´ ja schon.“

Als ich den Gemeinderaum neben dem Kirchenanbau des Heims betrete, sieht mich Pfarrer R. fragend an. „Was ist? Du hast ja ganz rote Augen? Kannst du die Weihnachtsgeschichte noch nicht auswendig?“
„Doch, die kann ich …“
Die anderen Kinder kommen herein. Pfarrer R. beugt sich zu mir hinunter. „Wir sprechen nachher darüber.“

Nach etwa einer Dreiviertelstunde stürmen alle Kinder wieder aus dem Raum. Ich bleibe sitzen.
„Na, die Weihnachtsgeschichte kannst du ja aus dem Effeff. Bist du schon aufgeregt?“
„Ja, ein bisschen ...“ Ich sehe mich aufstehen und allein in den stillen großen Kirchensaal sprechen: Und es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde ...
„Du schaffst das!“ Pfarrer R. sieht mich freundlich an.
„Meinen Sie, dass ich auch das Gymnasium schaffe?“
„Das Gymnasium? Wie kommst du denn darauf?“
„Meine Schulfreundin hat gesagt, sie macht bald eine Prüfung in der Stadt und dann ist sie weg.“
„Was hast du denn für Noten?“
„Nach ihr bin ich die Zweitbeste.“
„Und was sagen die Tanten dazu?“
Ich verstumme.

Heimleiter R., dem die vier Geschwister D. ans Herz gewachsen sind, überlegt: Dem Ältesten hat er nach einem ordentlichen Hauptschulabschluss erlaubt, eine Lehre als Werkzeugmacher in Pforzheim zu machen. Die Kleinste hat er als Pflegekind in seine eigene Familie aufgenommen und den ein Jahr älteren kleinen G. in einer wohlhabenden kinderlosen Familie untergebracht. Und dieses Mädchen, das in seinem Religionsunterricht immer voller Eifer bei der Sache ist, was soll aus ihr werden? Normalerweise werden die Mädchen ab vierzehn als Dienstmädchen in eine christliche Familie gesteckt. Er sieht die Kleine an. Nein, da wären Gottes Gaben missachtet.
„Erkundige dich, wann die Prüfung ist. Ich bringe dich hin.“

Ein paar Wochen später fährt er mich in seinem VW-Käfer zur Prüfung nach Pforzheim. Hinter den dicken Mauern des Hilda-Gymnasiums schwitze ich über unlösbaren Matheaufgaben. Bestimmt bin ich durchgefallen, denke ich, als wir zurückfahren.
Nach zwei Monaten erfahre ich, dass ich die Prüfung gerade noch mit einer 4-5 geschafft habe.

 

Zur Autorin: Helen E. Mayer war von 1955-1965 im Kinderheim Sperlingshof in Wilferdingen bei Pforzheim.

 

ZitierhinweisHelen E. Mayer, Gymnasium, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.

Suche

Weitere Beiträge zum Thema: