Das Erste Deutsche Reichswaisenhaus in Lahr

von Sina Fritsche

 

Das Gelände des Ersten Deutschen Reichswaisenhauses in den 1950er Jahren [Quelle: Stadtarchiv Lahr, Bestand Reichswaisenhaus RWH]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Das Gelände des Ersten Deutschen Reichswaisenhauses in den 1950er Jahren [Quelle: Stadtarchiv Lahr, Bestand Reichswaisenhaus RWH]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Das Leben der Kinder im Ersten Deutschen Reichswaisenhaus in Lahr war – wie in der Nachkriegszeit üblich – von einer starren Struktur, Zwang, Disziplin, Anpassung, Unterordnung, Gehorsam und Fleiß bestimmt.

Die Geschichte dieses Waisenhauses begann im späten 19. Jahrhundert; im Jahr 1877. Der Lahrer Redakteur Albert Bürklin und der Verleger Moritz Schauenburg Senior initiierten ein Projekt, durch das sie mithilfe von Spenden ein Waisenhaus errichten wollten, das Waisenkindern ein Familienersatz sein sollte. Bereits vor Gründung des Reichswaisenhauses gab es zwar einige wenige Waisenhäuser im Deutschen Reich, allerdings noch keines, das Waisen aller Konfessionen und aus dem gesamten Reich aufnahm. Es galt damals das Wohnortsprinzip, die bereits bestehenden Waisenhäuser nahmen nur Kinder aus dem jeweiligen Wohnort auf. Bürklin und Schauenburg Senior aber wollten eine „Zufluchtsstätte für arme Waisen […] aus dem gesamten Deutschen Reiche“ in ihrer Heimatstadt errichten und dadurch ein „Denkmal für deutsche Zusammengehörigkeit, für deutsche Einheit [setzen].“ Der Gründungsgedanke des Reichswaisenhauses als „[…] eine Stätte der Duldung, der Versöhnung und des Friedens, als ein Denkmal deutscher Zusammengehörigkeit und Einheit, als ein Heim für arme Waisen aus allen Konfessionen […]“, war zur damaligen Zeit einzigartig.

Das Projekt erfuhr so viel Unterstützung, dass das Reichswaisenhaus bereits im Mai 1885 nach Kauf eines Geländes und nach Abschluss der baulichen Maßnahmen eröffnet werden konnte. Es bekam den Namen „Erstes Deutsches Reichswaisenhaus“, da es eben Mädchen und Jungen unabhängig vom Wohnort aus dem gesamten Reich aufnahm.

Die zentralen Ereignisse der deutschen Geschichte, angefangen mit dem Ersten Weltkrieg über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg bis hin zur Nachkriegszeit, prägten auch das Reichswaisenhaus. Während der Nachkriegszeit, auf der der Fokus dieses Textes liegt, wurden die Gebäude des Heimes von französischen Soldaten besetzt und zur Unterbringung der französischen Truppen verwendet. Erst gegen Anfang der 1950er Jahre konnten wieder Jungen und Mädchen aus allen Teilen Deutschlands aufgenommen werden und der reguläre Heimbetrieb lief wieder an. In den meisten Fällen kamen die Kinder in der Nachkriegszeit aufgrund eines Antrages der Eltern auf freiwillige Erziehungshilfe in das Reichswaisenhaus.

Auszug aus der Hausordnung vom Oktober 1949 [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK 499-1]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Auszug aus der Hausordnung vom Oktober 1949 [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK 499-1]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Der Alltag im Reichswaisenhaus war – wie in der Nachkriegszeit üblich – streng durchstrukturiert und minutiös getaktet. Die Hausordnung von 1949 gab vor, zu welchen Zeiten die Kinder aufstanden, aßen, zur Schule gingen, Hausaufgaben machten, zusätzliche Putz- und Aufräumdienste ausführten, spielen konnten oder ins Bett gehen mussten.

Die Kinder waren in kleineren Gruppen, von der jede eine Betreuungsperson hatte, untergebracht. In jungen Jahren lebten sie in gemischten Kindergruppen; später trennte man die Gruppen nach Geschlecht. Der überwiegende Teil der Erziehung war streng. Körperliche Strafen waren an der Tagesordnung. Der autoritär geprägte Erziehungsstil zog sich durch die gesamte Nachkriegszeit. Er war wohl auch der Tatsache geschuldet, dass viele Erzieherinnen und Erzieher ihre Sozialisation und ihre Berufsausbildung im Kaiserreich und im Nationalsozialismus erfahren hatten und dadurch die Charakteristika der autoritären Erziehung aus ihrer eigenen Kindheit und der Ausbildungszeit übernahmen. Zudem gestaltete sich der im Laufe der 1950er Jahre vollziehende Strukturwandel für das oft nicht ausreichend ausgebildete Personal schwierig. Während Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre überwiegend Waisen- und Flüchtlingswaisenkinder ihren Weg in das Reichswaisenhaus fanden, kamen im Laufe der 1950er Jahre immer mehr Kinder aus sogenannten „sozial schwachen“ Familien in das Heim. Diese galten oft als „schwer erziehbar“ und „aufmüpfig“, sodass die überforderten Familien eine Heimunterbringung in vielen Fällen selbst beantragten. Auf solche „Problemfälle“ war das dafür meist nicht ausreichend fachlich qualifizierte Personal nicht vorbereitet. Die ohnehin schon schwierige personelle Lage verschärfte sich durch diesen Strukturwandel zusehends und stellte das Heim vor immer größere Probleme.

Betrachtet man die Lebensumstände der Heimkinder im Reichswaisenhaus Lahr in der Nachkriegszeit, so wird deutlich, dass die dort vorherrschenden strengen Erziehungsmethoden sich mit der grundsätzlichen Erziehungseinstellung der Gesellschaft in der Nachkriegszeit deckten. Der Gedanke, die Kinder mit autoritären Erziehungsmethoden zu tüchtigen und rechtschaffenen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen, war ein Abbild und Produkt seiner Zeit. Die daraus resultierende Erziehungspraxis im Heim ergab ein Konglomerat aus Zwang, Disziplin, Anpassung, Unterordnung, Gehorsam, Fleiß und Arbeit, dem die Kinder ausgesetzt waren. Gewalt wurde als Mittel der Erziehung eingesetzt. Die tatsächliche Heimerziehungspraxis stand also in starkem Kontrast zu dem grundsätzlich positiven Gründungsgedanken des Projektes „Erstes Deutsches Reichswaisenhaus“.

Im Laufe der Jahrzehnte ging die Kinderzahl zurück. Dadurch hatte das Reichswaisenhaus auch weniger Geld zur Verfügung, da die staatlich gezahlten Pflegesätze pro Kind ausgezahlt wurden. Weniger Kinder bedeuteten daher auch weniger finanzielle Mittel für das Heim. Reformen in den Richtlinien der Heimerziehung machten zudem eine Überarbeitung des Konzeptes der Einrichtung unumgänglich. Es fehlte außerdem an qualifiziertem Personal für die Betreuung und Erziehung der Kinder. Darüber hinaus tauchten Vorwürfe wegen Veruntreuung und sexuellem Missbrauch von Kindern durch den damaligen Leiter des Heimes auf. Das Verfahren wurde eröffnet und nach belastenden Zeugenaussagen erließ die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl. Es wurde allerdings eingestellt, da sich der Heimleiter nach Kanada abgesetzt hatte. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen sah sich der Verwaltungsrat des Heimes gezwungen, den Betrieb des Ersten Deutschen Reichswaisenhauses im Laufe des Jahres 1977 einzustellen. Ab 1978 betrieb die Arbeiterwohlfahrt ein Mädchenheim auf dem Gelände. Seit 2008 steht das Areal weitestgehend leer, es soll aber neu bebaut werden. Eine Bürgerinitiative sprach sich gegen die Bebauung und für die Sicherung der Baudenkmäler aus.

 

Literatur

  • Fritsche, Sina, Zwang als ständiger Begleiter? Zur Lebenssituation der Heimkinder am Beispiel des Ersten Deutschen Reichswaisenhauses in Lahr 1948 bis 1977 - Anpassung bis zur Konformität? Unveröffentlichte Masterarbeit, Universität Stuttgart 2020.
  • Jacob, Michael, Erstes Deutsches Reichswaisenhaus Lahr. Ein einmaliges soziales Zeugnis in der Geschichte der Stadt Lahr. Eine Dokumentation von 1877 bis 1979, Lahr 2016.

 

Quellen

  • Akten des Reichswaisenhauses, Bestand Reichswaisenhaus RWH, Stadtarchiv Lahr.
  • Landesarchiv BW, GLAK 499-1 Nr. 211 – 220.
  • Landesarchiv BW, GLAK 499-1 Nr. 264 – 268.

 

Zitierhinweis: Sina Fritsche, Das Erste Deutsche Reichswaisenhaus in Lahr, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.

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