Die Erniedrigungen waren am schlimmsten

Gespräch von Nadine Seidu, Kuratorin der Wanderausstellung des Projekts Heimerziehung mit Hartmut Deckert, Heimkind von 1960 bis 1962 und Betreiber der Website www.klabund.eu

von Nadine Seidu

 

Hartmut Deckert mit seiner Frau Hannelore Deckert in ihrem Garten [Quelle: Hartmut Deckert]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Hartmut Deckert mit seiner Frau Hannelore Deckert in ihrem Garten [Quelle: Hartmut Deckert]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Hartmut D. begrüßt mich in seinem schönen Haus mit Naturholzfassade in ländlicher Umgebung. Seine Einrichtung verrät, dass er es sich mit seiner Frau gemütlich gemacht hat. Heute geht es ihm gut, doch das war nicht immer so.

Als Kind war Hartmut D. in insgesamt drei Heimen. An die erste Einrichtung hat er so gut wie keine Erinnerungen. Er vermutet, dass er dort in der Zeit vor 1949 untergebracht wurde und dass sich die Einrichtung in Bad Kreuznach befand. Warum er dort war oder wie lange er sich dort befand, weiß er nicht. Aus dieser Zeit kann er sich nur an eine einzige Begebenheit erinnern: Es gab ein massives Gewitter. Die verängstigten Kinder wurden von einer Frau in Uniform getröstet. Diese Uniform identifiziert Hartmut D. heute als Tracht einer Diakonisse. Auch weitere Recherchen brachten seine Erinnerungen nicht zurück. Kein Wunder, denn er kann höchstens drei Jahre alt gewesen sein.

Anschließend berichtet Hartmut D. von dem zweiten Heim in Stuttgart-Sillenbuch, auch genannt KiSi. Dies war zeitweise ein staatliches Beobachtungsheim, in dem Kinder für die Dauer von bis zu einem Jahr analysiert wurden, um sie dann einer passenden Institution zuzuweisen. „Kein Heim ist besonders schön, aber ich habe in diesem Heim nichts Negatives erlebt“, erzählt er. Die Einrichtung wurde nur von Frauen geleitet, die für die 1950er-Jahre sehr fortschrittlich waren. Hartmut D. berichtet gerne von den gemeinsamen Freizeitaktivitäten: „Wir waren öfter im Kino, haben Wanderungen und Ausflüge gemacht.“ Ihm gefiel auch das Kulturprogramm. Die Kinder übten zum Beispiel das Ballett „Der Nussknacker“ von Tschaikowski ein. Eine weitere Besonderheit: Das Kinderheim war absolut gewaltfrei. Einmal musste er den Waschraum putzen. Das war die schlimmste Strafe, die er dort bekam. Trotz der allgemein positiven Umgebung litt er unter der mangelnden Privatsphäre. „Man war ständig unter Aufsicht. Nur auf dem Weg in die Schule konnte man tun und lassen, was man wollte.“

Eine Frage blieb trotzdem: Auch hier weiß Hartmut D. nicht, warum er in dieses Heim eingewiesen wurde. Trotz langer Bemühungen ließ sich seine Akte nicht auffinden. Er vermutet aber, dass seine Mutter die Heimunterbringung veranlasst hat. Denn ansonsten hat er „sich nichts zu Schulden kommen lassen“. Ein paar Jungenstreiche im Alter von 12 oder 13 Jahren seien nicht schwerwiegend genug, um die Aufmerksamkeit des Jugendamts auf sich zu ziehen. Seine Mutter hatte ihn jedoch, auch wegen seiner schlechten Schulnoten, stets als Störenfried betrachtet.

Die Empfehlung einer Bekannten führte dazu, dass Hartmut D. anschließend in ein evangelisches Kinderheim nach Altshausen gebracht wurde. Diese Einrichtung empfand er als Widerspruch in sich. Der Leiter des Heimes brüstete sich damit, dass er jedes Kind zu einem selbstständig handelnden und denkenden Menschen erziehe. Jedoch gab es überhaupt keinen Raum dafür, einmal irgendetwas selbstständig zu tun oder zu entscheiden. „Wir waren 24 Stunden am Tag unter Kontrolle“, berichtet Hartmut D. Schläge gab es regelmäßig, zum Beispiel, wenn man nach der Gartenarbeit seine Fingernägel nicht akribisch genug gesäubert oder beim Mittagessen gesprochen hatte.

Neben der körperlichen Gewalt empfand er die verbalen und psychischen Erniedrigungen als besonders schlimm. Eindrücklich berichtet er, wie Bettnässer morgens beim Frühstück vor allen Anwesenden gedemütigt und vorgeführt wurden. Sie mussten vom Tisch aufstehen und laut und hörbar für alle bekennen, dass sie ins Bett gemacht hatten. „Auch Gefühle oder Zuneigung gab es nicht. Der Laden musste picobello funktionieren. An der Oberfläche musste alles in Ordnung sein“, sagt Hartmut D. abschließend.

In der Schule des Heims habe er hingegen Interesse am Unterrichtsstoff gefunden und seine Noten auch sehr verbessert. Zuvor in Stuttgart war er der Meinung gewesen, die Lehrer wollten ihn „mit ihrem Unterricht nur schikanieren“. In Altshausen vermittelten die Lehrkräfte interessantes Wissen über die Natur und die Gesellschaft. So lernten die Kinder bei Sonntagsspaziergängen einiges über die Pflanzen- und Tierwelt der Umgebung und studierten regelmäßig den politischen Teil der Tageszeitung. Auch über die Zeit des Nationalsozialismus wurde diskutiert – das sei in den Stuttgarter Schulen zu dieser Zeit nicht üblich gewesen. Bei aller Fortschrittlichkeit im Lehrstoff - geprügelt wurde auch hier.

Auch in Altshausen war die Toilette der einzige Ort, an dem man ungestört sein konnte. Privatsphäre gab es nicht. Auch Freundschaften unter den Heimkindern entstanden nur selten. Das Misstrauen untereinander war zu groß. Hartmut D. war als Kind sehr zierlich und litt vor allem unter den Hänseleien der stärkeren Jungen. Diese konnten die schwere körperliche Arbeit besser bewältigen, unter der er beinahe zusammenbrach. Von den Erziehern bevorzugt wurden vor allem die Kinder, deren Eltern großzügige Spenden an die Einrichtung richteten oder die besondere sportliche Leistungen brachten. Manchen Kindern wurden auch verantwortungsvolle Aufgaben zugeteilt. Sie sollten auf die anderen Zöglinge aufpassen und für Ruhe und Ordnung sorgen. Diese Aufpasser gingen zum Teil rigoros vor. Hartmut D. gibt ihnen für ihr Verhalten aber keine Schuld: „Sie wurden von den Erziehern instrumentalisiert. Kinder sind leicht beeinflussbar.“ Er fühlte sich in seiner Zeit in Altshausen völlig einsam. Wenn sich der Junge jemandem mit seinen Problemen anvertraute, wurde er ausgelacht.

Hartmut D. konnte lange nicht über die Geschehnisse in seiner Kindheit sprechen. „Wenn Sie vor 10 oder 15 Jahren versucht hätten, ein solches Gespräch mit mir zu führen, hätte ich gesagt: Das kommt nicht infrage.“ Er hat lange behauptet, er sei in einem Internat gewesen. Auch seine Frau war völlig überrascht, als er sein Schweigen brach. Daher war es für ihn völlig undenkbar, sich Hilfe zu holen. Außerdem glaubte er dem Spruch seiner Mutter: „Du wirst es schon verdient haben.“ Er schildert auch die Bedingungen in den 50er- und 60er-Jahren, in denen es häufig nicht üblich war, sich zu beschweren oder Probleme offen anzusprechen. Alpträume quälten ihn jahrzehntelang, bis er den Mut fand, seine Geschichte zu offenbaren.

Auf sein Leben blickt Hartmut D. dennoch positiv zurück. „Ich habe später eine gute Stelle gehabt und bei mir hat es mit meiner Familie und der Familie meiner Frau sehr gestimmt.“ Er hat Personen gefunden, bei denen er sich geborgen fühlt und mit denen er ehrlich auch über heikle Themen sprechen kann.

Als Kind hat Hartmut D. das Volkslied „Die Gedanken sind frei“ gelernt. Damals hat er über den Inhalt nicht nachgedacht. Heute kann er jedoch sagen: „Auch meine Gedanken sind nun frei.“

 

 

Zuerst veröffentlicht in: Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949 – 1975, Stuttgart 2015.

 

ZitierhinweisNadine Seidu, Die Erniedrigungen waren am schlimmsten, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 22.03.2022.

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