Beispiele aus den Aufsichtsakten des Landesjugendamtes
von Christoph Beckmann
Im Folgenden sollen Ausschnitte aus den Aufsichtsakten des Landesjugendamtes zu verschiedenen Einrichtungen einige Schlaglichter auf die tatsächliche Anwendung der vorgestellten Gesetze liefern. Der Fokus liegt dabei, wie die Quellengattung nahelegt, auf der Aufsicht durch das Landesjugendamt. Da sich die Aufsichtspflichten nicht nur auf klassische Einrichtungen der Jugendhilfe bzw. -wohlfahrt, sondern auch auf Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen Minderjährige untergebracht sind, erstrecken, stellt die Aufsicht durch das Landesjugendamt ein gutes Beispiel für die Interaktion der Institutionen der Jugend- und der Behindertenhilfe dar.
Die Aufsichtsakten sind dabei teils sehr unterschiedlich. Zufälle der Aktenführung und Überlieferung beeinflussen die Quellenlage: Einige Akten sind deutlich umfangreicher als andere, einige enthalten eine große Anzahl von Dokumenten einer Art, von denen in anderen kein einziges vorhanden ist. Es ist wichtig, sich an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen, dass die Abwesenheit von Beweisen für etwas im Umkehrschluss jedoch nicht beweist, dass etwas nicht stattgefunden hat. Wenn in einer Akte etwa eine bestimmte Anzahl von Ereignissen dokumentiert wurde, dann bedeutet das nicht, dass nicht weitere (auch gleichartige) Ereignisse stattgefunden haben. Die Akten stellen nur Schlaglichter dar, an denen einzelne Aspekte herausgestellt werden können. Die Organisation der Heimaufsicht wurde dabei schon von Nastasja Pilz in ihrem Aufsatz „Aufarbeiten im Archiv“ umfassend beschrieben, weshalb an dieser Stelle eine kurze Zugammenfassung genügen soll. Viele von ihr detailliert beschriebene Aspekte werden auch hier aufscheinen, etwa das Verhältnis zwischen Landesjugendämtern und lokalen Trägern oder der mehr oder minder konstante Personalmangel in den entsprechenden Einrichtungen. Bei ihr finden sich auch weitere Beispiele dafür, wie die Aufsicht über Einrichtungen der Jugendhilfe konkret aussehen konnte.
Aufsicht und Auflösung – Zwei gegensätzliche Beispiele
Im Kontext der Jugendwohlfahrtsgesetze wurde die Aufsichtspflicht des Landesjugendamtes erwähnt. Wie dieser nachgekommen wurde, zeigt exemplarisch ein Bericht über eine Besichtigung verschiedener Einrichtungen der Bruderhaus-Stiftung aus dem Jahr 1965. Zu diesen gehörte auch das Johann-Hinrich-Wichern-Heim, eine Einrichtung für Jugendliche mit geistigen Behinderungen und Krankheiten.[1]
Die besuchten Anlagen, insbesondere die Räumlichkeiten, in denen die jugendlichen Bewohnerinnen und Bewohner untergebracht waren, wurden dabei eingehend beschrieben, ebenso die Personalsituation. Auch die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner wird für jede der besuchten Einrichtungen genannt. Zusätzlich wurden Sorgen und Probleme der Heimleitung, die diese bei den Besichtigungen erwähnten, aufgenommen. Die besuchten Einrichtungen werden in diesem Beispiel wohlwollend beschrieben, einzelne Aspekte positiv hervorgehoben.
Das gilt jedoch keineswegs für alle Berichte und Einrichtungen. Öffnet man beispielsweise die eher dünne Akte zum Kinderheim Johanni in Herrischried[2] , so fällt einem sofort ein Brief über die Schließung des Kinderheims 1974 in die Hände. Alle Kinder seien in „geeignete Einrichtungen verlegt worden.“
Ein Aktenvermerk aus dem vorherigen Jahr[3] offenbart die Gründe: Im Heim war es bei einem zur Kur aufgenommenen Kind zu einem Todesfall gekommen. Bei einem unangekündigten Besuch durch das Jugendamt wenige Tage später offenbarten sich gravierende Mängel. So hatte die Heimleitung den von einer Ärztin für das erkrankte Kind ausgestellten Überweisungsschein ebenso ignoriert wie die vom Kind mitgebrachten medizinischen Unterlagen. Auch andere Kinder erkrankten, insgesamt 17 von 29 der zusätzlich zu den Heimbewohnern zur Kur aufgenommenen. Die eigentlichen Heimbewohnerinnen und Heimbewohner waren zusätzlich in einem aus Brandschutzgründen ungeeigneten Raum untergebracht. Auch die Personalsituation war, im krassen Gegensatz zur zuvor gemeldeten Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erschreckend: Geeignete Fachkräfte fehlten völlig und die Kinder wurden zwischenzeitlich nur von der Heimleiterin und einem Hausmeister betreut.
Darauf wurde die Schließung der Einrichtung beschlossen, ein Vorgang, der eigentlich nur ca. drei Monate in Anspruch nehmen sollte, sich aber tatsächlich über mehr als ein Jahr hinzog.
In dieser Zeit, in der das Landesjugendamt und andere Institutionen intensiv nach Plätzen in anderen Einrichtungen für die Bewohnerinnen und Bewohner des Kinderheims suchten, weitete das Landesjugendamt auch seine Aufsichtstätigkeit massiv aus. Dabei stellte sich heraus, dass die Heimleiterin versucht hatte, die drohende Verlegung der Kinder und Schließung ihrer Einrichtung zu verhindern, indem sie gegenüber dem Landesjugendamt wahrheitswidrig behauptete, es sei jetzt für die Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner durch Fachkräfte gesorgt. Ebenso hatte sie entgegen der nach dem ersten unangekündigten Besuch des Landesjugendamtes festgelegten Auflagen weiterhin Kinder aufgenommen, sodass das Heim sogar zwischenzeitlich überbelegt war. Das Landesjugendamt kontaktierte auch ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtung, von denen mehrere angaben, sie hätten wegen der „mangelnden pflegerischen Betreuung der Kinder“ gekündigt. Sie äußerten teils massive Kritik an der Heimleitung und ihrem Umgang mit den Kindern.[4]
Diese Erkenntnisse bestärkten die zuständigen Behörden in ihrer Entscheidung, den Heimbetrieb zu untersagen. Leider beginnt die Akte erst im Jahr 1973, weshalb unklar ist, wie die Aufsicht durch das Landesjugendamt in den Jahren davor aussah. Es liegt nahe, dass das Kinderheim Johanni erst durch den tragischen Todesfall im Jahr 1973 in das Visier der Behörde geriet. Dies wird jedoch an keiner Stelle in der Akte bestätigt. Lediglich der zeitliche Ablauf bildet hier einen Anhaltspunkt.
An verschiedenen Stellen wird jedoch auf bereits zuvor erlassene Auflagen des Landesjugendamtes verwiesen, die offenbar Ergebnis vorheriger Besuche durch Mitarbeiter der Behörde waren. Welche Mängel bei diesen Inspektionen durch die Behörde übersehen worden waren, welche noch gar nicht vorhanden waren, über welche die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gar getäuscht wurden, wie oft die Einrichtung überhaupt besucht wurde, all diese Fragen müssen an dieser Stelle offenbleiben. Deutlich wird jedoch, wie energisch das Landesjugendamt, nachdem es einmal auf die gravierenden Missstände aufmerksam geworden war, in diesem Fall vorging, nur gebremst von den Schwierigkeiten, die Bewohnerinnen und Bewohner anderweitig unterzubringen.
Anmerkungen
[1] Besichtigungsbericht vom 1.10.67, geändert am 1.3.1968, Aufsichtsakte des Landesjugendamtes über das Johann-Hinrich-Wichern-Heim, Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 90 V Bü 2029.
[2] Brief Dr. Dahlingers an das Landesjugenamt, 19.11.74, Aufsichtsakte des Landesjugendamtes über das Kinderheim Johanni, Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 90 V Bü 40.
[3] Aktenvermerk vom 20.8.1973, Aufsichtsakte des Landesjugendamtes über das Kinderheim Johanni, Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 90 V Bü 40.
[4] Brief des Landesjugendamtes an das Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung vom 28.2.74, Aufsichtsakte des Landesjugendamtes über das Kinderheim Johanni, Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 90 V Bü 40.
Bildnachweis
- Bundesgesetzblatt online https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=//*%5B@attr_id=%27bgbl161s1205.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl161s1205.pdf%27%5D__1656322397721 (aufgerufen am 01.07.2022)
Zitierhinweis: Christoph Beckmann, Beispiele aus den Aufsichtsakten des Landesjugendamtes, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.