Steckelmacher, Moritz 

Geburtsdatum/-ort: 23.06.1851; Boskowitz (Mähren)
Sterbedatum/-ort: 23.05.1920;  Bad Dürrheim, beigesetzt auf dem jüdischen Friedhof Mannheim
Beruf/Funktion:
  • jüdischer Religionsphilosoph
Kurzbiografie: um 1870 Jeschiwa in Preßburg, Studium in Budapest
1872-1880 Jüdisch-theologisches Seminar Breslau; Studium der Philosophie in Breslau
1879 Dissertation „Die formale Logik Kants in ihren Beziehungen zur transcendentalen“, Promotion zum Dr. phil.
1880-1920 Stadtrabbiner in Mannheim
1889-1919 Konferenzrabbiner im Oberrat der Israeliten Badens
1892 Ritterkreuz vom Zähringer Löwenorden I. Klasse
1906 Ritterkreuz vom Zähringer Löwenorden I. Klasse mit Eichenlaub
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr.
Verheiratet: 1880 Bianca, geb. Reinberger (1859-1928)
Eltern: Vater: Salomon Steckelmacher
Mutter: Josephine, geb. Löwith
Kinder: 3 Söhne:
Ernst (1881-1943), Dr. phil., Bezirksrabbiner der Pfalz, ermordet im KZ Lublin-Maidanek
Fritz (1885-1987), Bankprokurist
Siegfried (1889-1962), Arzt
GND-ID: GND/101256195X

Biografie: Volker Keller (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 284-285

Steckelmacher, aus einer armen jüdischen Familie aus Mähren stammend, erhielt durch Unterstützung eines Gönners eine Ausbildung als Chasan (Vorsänger in der Synagoge). Man erkannte seine Begabung und ermöglichte ihm weiterführende religiöse und weltliche Studien, die zur Promotion in Philosophie und zum Rabbinerdiplom führten. Nach einer kurzen Tätigkeit in Hamburg wurde er 1880 an die Hauptsynagoge der liberalen jüdischen Gemeinde in Mannheim berufen, wo er sich als hervorragender Kanzelredner erwies. Entsprechend der Schule des Breslauer Seminars vertrat er den geschichtlichen, wissenschaftlichen Standpunkt, der „Leben und Lehre, Tradition und Gegenwart in Einklang sehen will, und schon aus diesem Grunde vor die religiöse Erfahrung die Kritik der religiösen Erfahrung setzt“ (Max Gruenewald). 1881 gab Steckelmacher das liberal reformierte Mannheimer Gebetbuch von 1855, das in Baden weit verbreitet war, als dritte, veränderte Auflage heraus. Als der Oberrat der Israeliten Badens 1905 eine von Steckelmacher redigierte erneute Auflage anregte, lebte der alte Kampf zwischen Orthodoxie und Liberalismus wieder auf und führte zu einem Proteststurm der Orthodoxen im ganzen Deutschen Reich. Eine Fülle von Streitschriften für und wider das Gebetbuch „spiegeln die tiefschürfenden, auf beiden Seiten gelehrten und ehrlichen Gedanken der Orthodoxie und des liberalen Judentums wider. Die Liberalen suchten und fanden eine Synthese von Wissenschaft, Philosophie und Glauben. Die Orthodoxen bestanden unverrückbar auf dem Vorrang der Offenbarung vor aller menschlicher Erkenntnis“ (P. N. Levinson). Um weitere Differenzen zu vermeiden, verzichtete Steckelmacher im Einklang mit dem Oberrat auf die Herausgabe des Buchs, er soll es später nie mehr erwähnt haben.
Einen Namen machte sich Steckelmacher als Autor religionsphilosophischer Werke, als deren bedeutendstes er selbst das 1904 in Mainz erschienene „Prinzip der Ethik vom philosophischen und jüdisch-theologischen Standpunkte aus betrachtet“ ansah. Steckelmacher war stets um das Aufzeigen der sittlichen Ideen des Judentums bemüht, wobei er sich als hervorragender Interpret Kants weitgehend auf dessen rationales System bezog. Als genauer Beobachter seiner Umwelt, seiner Mannheimer Großgemeinde, verarbeitete er seine Erfahrungen und Gedanken in den Predigten, die später gedruckt erschienen. Darin kommen die Philosophen aller Zeiten, die Romanliteratur der neueren Zeit, Erlebnisse Stanleys auf seinen Afrikareisen und Urteile des Mannheimer Schwurgerichts zu Wort. Entschieden trat Steckelmacher gegen judenfeindliche Auffassungen auf und wies nach, daß die sittlichen Forderungen des Christentums vom Judentum hervorgebracht worden waren.
Insgesamt vier Jahrzehnte diente Steckelmacher seiner Mannheimer Gemeinde, entschied als Konferenzrabbiner im Karlsruher Oberrat landesweit mit in religiösen Angelegenheiten und leistete als Religionsphilosoph einen bedeutenden Beitrag für sein Judentum, indem er dessen uralte ethische Inhalte mit Hilfe der rationalen Erkenntnis der neueren Philosophie bestätigte und bekräftigte.
Werke: (Auswahl) Die formale Logik Kant's in ihren Beziehungen z. transcentalen (v. d. philos. Facultät d. Univ. Breslau gekrönte Preisschrift), Dissertation Breslau 1879; Der bleibende Grundgedanke Jehuda Halewis, in: Jüd. Literaturblatt, IX, 53, 61, Berlin/Magdeburg 1880; Ein Bekenntnis in der Judenfrage, in: ebda. IX, 37, Berlin/Magdeburg 1880; Rede z. Gedächtnistag Adolphe Gremieux's, Mannheim 1881; Israelit. Gebetbuch f. d. öffentl. u. häusliche Andacht, 3. veränd. u. verb. Aufl., Mannheim 1882; Rede gehalten z. Feier d. 100-jähr. Todestages Moses Mendelssohn's, Mannheim 1886; Die Mäcenität in d. jüd. Gesch., in: Populär-wissenschaftl. Monatsblätter z. Belehrung über d. Judentum f. Gebildete aller Confessionen, VI, 73, 151, 178, Frankfurt/M. 1886; Zur Erd- u. Feuerbestattungsfrage, in: Jüd. Literaturblatt, XVI, 1, 5, Berlin/Magdeburg 1887; S. L. Steinheim als Dichter u. Religionsphilosoph, in: Populärwissenschaftl. Monatsblätter z. Belehrung über d. Judentum f. Gebildete aller Confessionen, VIII, 145, 178, 207, Frankfurt/M. 1888; Trauer-Reden auf s. Majestät d. hochseligen Kaiser Wilhelm I. u. s. Majestät d. hochseligen Kaiser Friedrich III., 1888; Die Gottesidee d. Offenbarung u. des Heidenthums im Lichte e. neuen Unterscheidungsmerkmals betrachtet, Mannheim 1890; Über die Stellung einiger neuerer Philosophen zum Judentum, in: Populär-wissenschaftl. Monatsblätter über das Judentum für Gebildete aller Confessionen, XII, Steckelmacher 97-121, Frankfurt/M. 1892; Der ideale Geist im Talmud, in: ebda., XII, Frankfurt/M. 1892; Die Teufelsidee u. das Judentum, in: Jüd. Literaturblatt XXI, 13, 17, 21, 25, 29, 33, Berlin/Magdeburg 1892; Fest-Predigten, Mannheim 1895; Das Judentum in Paulsens System der Ethik, in: Allg. Ztg. d. Judentums 1895; Predigten anläßl. gottesdienstl. Feier patriot. Feste, 1893-95; Über die Gründe d. jüd. Sympathien f. d. Kant'sche Philosophie – Nach einem im Januar 1898 gehaltenen Vortrag – FS für Rabbiner Dr. Gutmann; Der ideale Geist im Talmud, in: Populär-wissenschaftl. Monatsblätter z. Belehrung über d. Judentum f. Gebildete aller Confessionen, XXII, Frankfurt/M. 1902; Ethische Charakterbilder aus dem Talmud, in: ebda.; Etwas über die „leichten u. schweren Gebote“ in der Halacha u. Aggada, FS für Prof. Adolf Schwarz, Wien 1905; Rede gehalten anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Synagoge zu Mannheim am Sabbath Schelach-lecha 5665 (1. Juli 1905), Mannheim 1905; Gebetbuch, Erster Teil, hg. v. d. Großherzogl. Bad. Oberrat d. Israeliten Karlsruhe (als Manuskript gedruckt) mit Vorbemerkungen, 1906; Widerlegung des Sendschreibens des Dr. D. Hoffmann über den vom Großherzogl. Bad. Oberrat der Israeliten hg. Gebetbuchentwurf und die zugehörige Denkschrift von Dr. Moritz Steckelmacher, Mannheim um 1906; Die Psalmen in d. Beleuchtung einiger ihrer älteren u. neueren Christl. Interpreten, Sonderdruck aus der FS für Hermann Cohen: Judaica, Berlin 1912; Randbemerkungen zu Werner Sombarts „Die Juden und das Wirtschaftsleben“, Berlin 1912 (siehe auch Frankfurter Ztg. 5. 5. 1912, Besprechung; H. Graetz als Darsteller d. Systeme d. jüd. Religionsphilosophie (M. Steckelmacher).
Nachweis: Bildnachweise: StadtA. Mannheim, Bildnissammlung; K. O. Watzinger 1987, Abb. 42; V. Keller, Bilder v. jüd. Leben in Mannheim 1988, Abb. 132.

Literatur: Rabbiner Dr. M. Eschelbacher, Ein moderner Religionsphilosoph, in: Ost und West, Illustr. Monatsschrift f. d. ges. Judentum, April 1909, IX Jahrgang, Heft 4, Sp. 205-214; Vorwort von N. N. zu: M. Steckelmacher: Fest-Predigten, Mannheim 1895; Ernst Steckelmacher; Meinem seligen Vater z. Gedächtnis, in: Israelit. Gemeindeblatt Mannheim, 25. 6. 1930; Karl Otto Watzinger, Gesch. d. Juden in Mannheim, 1650-1945, 2. verbess. Aufl., Mannheim 1987; 136 f.; Pnina Navé Levinson, Aus dem religiösen Leben der Orthodoxie ..., in: Juden in Baden – 175 Jahre Oberrat der Israeliten Badens, Karlsruhe 1984, 91-108; V. Keller, Jüdisches Leben in Mannheim, Mannheim 1995.
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