Kraepelin, Emil Wilhelm Magnus Georg 

Geburtsdatum/-ort: 15.02.1856; Neustrelitz, Mecklenburg
Sterbedatum/-ort: 07.10.1926; München
Beruf/Funktion:
  • Psychiater
Kurzbiografie: 1874 –1878 Studium d. Medizin in Würzburg u. Leipzig, ab 1. 7. 1877 Assistent bei Rinecker am Julius-Spital in Würzburg
1878 IX. 1–1881 Assistent bei von Gudden an d. Oberbayerischen Kreis-Irrenanstalt
1881 Promotion bei Rinecker in Würzburg: „Über den Einfluss acuter Krankheiten auf die Entstehung von Geisteskrankheiten“
1882 II. 15–1885 Assistent bei Flechsig an d. psychiatr. Klinik in Leipzig, Habilitation im Fach Psychiatrie: „Über die psychologischen Symptome d. Dementia paralytica“, ab 23. 10. 1882 Assistent bei Erb an d. Nervenpoliklinik in Leipzig, ab 1. 11. 1883 Assistent bei von Gudden in München, ab Aug. 1884 2. Arzt an d. Prov. Irrenanstalt Leubus, Schlesien, ab 1. 5. 1885 Oberarzt am Stadtkrankenhaus Dresden
1886 VI. 1–1891 o. Professor für Psychiatrie u. Direktor d. Klinik für Nerven- u. Geisteskranke in Dorpat; 1888 Kaiserlich russischer Staatsrat
1891 XII. 5–1903 o. Professor für Psychiatrie u. Direktor. d. akad. Irrenklinik in Heidelberg; 1902 Hofrat
1903 X. 1–1922 o. Professor für Psychiatrie u. Direktor d. psychiatr. Klinik in München, ab 3. 8. 1916 Geheimer Hofrat; am
13. 2. 1917 Errichtung d. Stiftung „Dt. Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in München
1922 IV. 1 Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Bayer. Verdienstorden vom Hl. Michael, IV. Klasse (1908), III. Klasse (1914) u. Ehrenkreuz (1918); Preuß. Rote-Kreuz-Medaille, III. Klasse (1916)
Verheiratet: 1884 (Bölkow, Niederschlesien) Ina Marie Wilhelmine, geb. Schwabe (1855–1944), Tochter des Gutsbesitzers Christian Samuel Ernst Schwabe
Eltern: Vater: Karl Wilhelm (1817–1882), Hofschauspieler, Musiklehrer, Rezitator (ADB XVII 47–48)
Mutter: Emilie Dorothea Auguste Johanne, geb. Lehmann (1819–1896)
Geschwister: 3; Otto (1845–1893), Karl (1848–1915), Biologe u. Dir. d. Naturhistorischen Museums in Hamburg, u. Emma (1849–1924)
Kinder: 7; Marie (*/† 1885), Antonie (1887–1962), Wera (1888–1890), Hans (1890–1891), Eva (1892–1983), Ina (1894–1959) u. Hanna (1896–1972)
GND-ID: GND/118565915

Biografie: Eric J. Engstrom (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 216-219

Seit dem Ende der 1890er Jahre zählte Kraepelin zu den international renommiertesten Vertretern des Faches Psychiatrie. Während seiner Tätigkeit als Ordinarius in Heidelberg legte er das klinische Fundament für sein einflussreiches Lehrbuch und die bis heute maßgebliche Unterscheidung der endogenen Psychosen in manisch-depressive und schizophrene Formen.
Kraepelin entstammt einem Elternhaus, das alle Mühe hatte, das äußerliche Erscheinungsbild bürgerlicher Respektabilität zu wahren. Der Vater war bis 1848 als Opernsänger und Schauspieler am Hoftheater in Neustrelitz, danach als Musiklehrer und von den frühen 1860er Jahren an als Rezitator der Werke des niederdt. Schriftstellers Fritz Reuter tätig. Selten zu Hause, dem Trunk zugeneigt und von Geldsorgen chronisch geplagt, zerbrach seine Ehe mit Kraepelins Mutter, die ihre vier Kinder über weite Strecken alleine großziehen musste. Während Kraepelin Zeit seines Lebens eine enge Beziehungen zu seiner Mutter pflegte, erlebte er den Tod seines Vaters 1882 wie den eines Fremden, „an den uns nur noch das lockere Band einer sterilen Pietät fesselte.“ (Brief Kraepelins vom 11. 8. 1882, Nachlass Kraepelin im A des MPI München)
Während des Studiums arbeitete Kraepelin in Leipzig am experimentalpsychologischen Labor Wilhelm Wundts, wo er sich vor allem mit Fragen der Psychophysik und der Kriminalpsychologie befasste. Wundt hat Kraepelins Wissenschaftsverständnis nachhaltig geprägt, so dass Kraepelin sich zur Aufgabe machte, Wundts experimentalpsychologische Ansätze in die Psychiatrie einzuführen. In zahlreichen Reiz-Reaktionsexperimenten erforschte Kraepelin die Wirkung von Arzneimitteln, Alkohol, Müdigkeit etc. auf die psychische Leistungsfähigkeit des Menschen. Dabei hoffte er, Durchschnittswerte für verschiedene kognitive Leistungen zu ermitteln und entsprechende Normabweichungen für die psychiatrische Diagnostik brauchbar zu machen.
Auf Wundts Vorschlag hin verfasste Kraepelin erstmals 1883 ein „Compendium der Psychiatrie“, das von der fünften Auflage 1896 an zu einem der einflussreichsten Lehrbücher im deutschsprachigen Raum wurde. Darin entfaltete Kraepelin eine Krankheitslehre, die sich von zwei zeitgenössischen Grundannahmen absetzte. Einerseits lehnte er die Vorstellung einer sogenannten Einheitspsychose ab, wonach alle psychischen Störungen auf eine einzige Grunderkrankung des Gehirns zurückgeführt wurden. Er ging stattdessen von der Annahme mehrerer unterschiedlicher psychischer Krankheiten aus, die jeweils spezifische Ursachen, klinische Erscheinungsbilder, Verläufe und Ausgänge besaßen. Andererseits stand Kraepelin einer stark somatisch ausgerichteten Hirnforschung skeptisch gegenüber. Seiner Ansicht nach hatte die pathoanatomische Forschung allzu spekulative und theorielastige Verbindungslinien zwischen ihrem – teils nur am tierischen Hirn ermittelten – somatischen Befund und dem klinischen Erscheinungsbild kranker Patienten gezogen. In Abgrenzung dazu sah Kraepelin die künftige wissenschaftliche Entwicklung der Psychiatrie in der systematisch organisierten klinisch-empirischen Beobachtung am Krankenbett.
Deshalb baute Kraepelin neben seiner experimentalpsychologischen Laborforschung ab 1891 in Heidelberg ein ambitioniertes klinisches Forschungsprogramm auf. Von dem Anstaltspsychiater Karl Kahlbaum und Ewald Hecker beeinflusst versuchte er, den gesamten Krankheitsverlauf seiner Patienten in den Blick zu nehmen und hoffte auf diese Weise die spezifischen Charakteristika von Krankheitseinheiten zu ermitteln. Das dazu benötigte diagnostische Werkzeug schuf Kraepelin in einem elaborierten Kartensystem – inkl. seiner sogenannten Zählkarten, worin er die Symptome einzelner Patienten erfasste – in Verbindung mit der Umfunktionierung der Heidelberger Universitätsklinik in eine diagnostische Durchgangsstation. Indem es ihm gelang, den Patientendurchsatz seiner Klinik zu erhöhen und auf akribische Weise die Krankengeschichten unzähliger Patienten zu erfassen, konnte er die Grenzen seiner als natürliche Entitäten gedachten Krankheitsbilder schärfer umreißen.
Dieses klinische Forschungsprogramm bildete die empirische Grundlage für die im Lehrbuch gebotene umfassende Klassifikation psychiatrischer Störungen. Danach wurde v. a. dem Krankheitsverlauf und -ausgang eine entscheidende Rolle bei der Unterscheidung der zwei großen endogenen Formenkreise, dem manisch-depressiven Irresein und der dementia praecox bzw. Schizophrenie, eingeräumt. Diese Aufteilung wurde von Fachkollegen zunächst skeptisch beurteilt, u. a. vom Freiburger Ordinarius für Psychiatrie Alfred Hoche. Hoche hielt die Aufstellung von festumrissenen Krankheitseinheiten für wissenschaftlich verfrüht und plädierte für eine nosologisch bescheidenere Syndromenlehre. Trotzdem konnten sich Kraepelins Kategorien rasch durchsetzen, so dass er bereits bei seiner Berufung nach München 1903 ein internationales Renommee besaß.
In den Jahren vor dem I. Weltkrieg wandte sich Kraepelin zusehends Fragen der sozialen und psychischen Hygiene zu. Vor allem setzte er sich für den Kampf gegen den Alkoholismus und für die Errichtung von Sanatorien für Alkoholkranke ein. Er griff auch seine frühen Arbeiten zur Kriminalpsychologie wieder auf und schlug eine grundlegende Reform des Gefängniswesens vor. Kraepelin warnte schließlich vor Geschlechtskrankheiten, Degeneration und Homosexualität, die er als Gefahren für die Vitalität des dt. Volkes betrachtete. In all diesen Bereichen seines sozialen und gesundheitspolitischen Engagements deutete er gesellschaftliche Probleme aus einer sozialdarwinistischen Perspektive heraus. Dementsprechend verstand er viele sozialhygienische Probleme als Ausdruck degenerativer Kräfte, die das Volk im „Kampf ums Dasein“ schwächten. Die Therapie dieser Probleme erblickte er zunächst in der Prävention bzw. in eugenischen Maßnahmen am sog. „Volkskörper“. In diesem Kontext zählte Kraepelin zu den frühesten Förderern der erbpathologischen Forschung des Rassenhygienikers Ernst Rüdin.
Kraepelins Sorgen um den dt. „Volkskörper“ erreichten ihren Höhepunkt im I. Weltkrieg und bewegten ihn dazu, sich auf mehreren politischen Bühnen zu betätigen. Unzufrieden mit der seiner Ansicht nach viel zu moderaten Kriegszielpolitik der dt. Regierung beteiligte er sich an der sog. Kanzlerstürzbewegung, die 1917 im Rücktritt des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg und der Errichtung einer de facto Militärdiktatur gipfelte. Im gleichen Jahr wirkte er bei der Gründung des „Bayerischen Landesvereins der dt. Vaterlandspartei“ aktiv mit. Gesundheitspolitisch arbeitete er in zahlreichen Gremien und Foren, um die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten und des Alkoholismus zu bekämpfen und die psychische Hygiene der Bevölkerung im Krieg zu verbessern.
Die Lösung dieser biopolitischen Aufgaben sah er als eine wissenschaftliche Herausforderung. Deshalb verfolgte er mit Nachdruck die bereits vor dem Krieg anvisierte Gründung einer psychiatrischen Forschungsanstalt. Mit der maßgeblichen Unterstützung privater Stifter gelang es ihm 1917, die „Dt. Forschungsanstalt für Psychiatrie“, das spätere „Max-Planck Institut für Psychiatrie“, in München zu gründen. Als Stätte sowohl der wissenschaftlichen Forschung, als auch der nationalen Regeneration bestand die Aufgabe der Forschungsanstalt darin, „der Volksgesundheit zu dienen und mit an der Heilung der schweren Wunden zu arbeiten, die ein hartes Schicksal unserem Vaterlande geschlagen hat.“ (Zs. für die ges. Neurologie 70, 1921, 349) Bis zu seinem Tod 1926 widmete sich Kraepelin ganz diesen Zielen.
Quellen: Hist. A des Max Planck Instituts (MPI) für Psychiatrie, München Nachlass Kraepelin; UA Heidelberg A–219/PA; UA Leizpig Nachlass Wilhelm Wundt.
Werke: Schriftenverzeichnis: Edition Kraepelin, Bd. 1, 2000, 244–266. (vgl. Literatur) – Auswahl: Die Abschaffung des Strafmaßes, 1880; Über den Einfluss akuter Krankheiten auf die Entstehung von Geisteskrankheiten, in: Archiv für Psychiatrie u. Nervenkrankheiten 11 u. 12, 1881/2, 137 ff., 295 ff. u. 649 ff. resp. 65 ff. u. 287 ff.; Psychiatrie, 1883, 8. Aufl. 1909–1915; Über geistige Arbeit, 1894, 3. Aufl. 1901; Der psychologische Versuch in d. Psychiatrie, in: Psycholog. Arbeiten 1, 1896, 1–91; Die Arbeitskurve, in: Philosophische Arbeiten 19, 1902, 459–507; Zur Entartungsfrage, in: ZBl. für Nervenheilkunde u. Psychiatrie 19, 1908, 745–751; Über Hysterie, in: Zs. für die gesamte Neurologie u. Psychiatrie 18, 1913, 261–279; Hundert Jahre Psychiatrie, 1918; Psychiatrische Randbemerkungen zur Zeitgeschichte, in: Süddt. Monatshefte vom 16. 2. 1919, 171–183; Die Erscheinungsformen des Irreseins, in: Zs. für die gesamte Neurologie u. Psychiatrie 62, 1920, 1–29; 2. Bericht über die Dt. Forschungsanstalt für Psychiatrie in München […]am 30. 4. 1921, ebd. Bd. 70, 1921, 342–359; H. Hippius u. a. (Hgg.), Emil Kraepelin, Lebenserinnerungen, 1983; W. Burgmair u. a. (Hgg.), Emil Kraepelin, Persönliches, Edition Emil Kraepelin Bd. 1, 2000 (vgl. Literatur).
Nachweis: Bildnachweise: Portraitbüste von I. von Twardowski, 1926/7, Foto in: Edition Emil Kraepelin Bd. 1, 183 u. passim.

Literatur: P. Hoff, Emil Kraepelin u. die Psychiatrie als klinische Wissenschaft, 1994; W. Burgmair, E. J. Engstrom u. M. Weber, Edition Emil Kraepelin, 8. Bde., 2000–2011; E. J. Engstrom, Die Ökonomie klinischer Inskription: Zu diagnostischen u. nosologischen Schreibpraktiken in d. Psychiatrie, in: C. Borck u. A. Schäfer (Hgg.), Psychographien, 2005, 219–240; Eric J. Engstrom (Hg.) www.historypsychiatry.wordpress.com/: Emil Kraepelin.
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