Stein, Edith 

Andere Namensformen:
  • Hl. Teresia Benedicta vom Kreuz
Geburtsdatum/-ort: 12.10.1891; Breslau
Sterbedatum/-ort: 09.08.1942; Auschwitz-Birkenau
Beruf/Funktion:
  • Philosophin, Opfer des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1911 Abitur in Breslau
1911–1915 Studium d. Germanistik, Geschichte, Psychologie u. Philosophie in Breslau u. Göttingen
1916 Promotion in Philosophie bei Edmund Husserl an d. Univ. Freiburg: „Zum Problem der Einfühlung“
1916–1918 Privatassistentin Edmund Husserls
1916–1921 Umfangreiche philosophische Tätigkeit; erster Habilitationsversuch: „Psychische Kausalität“, „Individuum u. Gemeinschaft“
1922 Taufe in Bergzabern, Pfalz
1923–1931 Lehrerin am Seminar d. Dominikanerinnen von St. Magdalena in Speyer
1925–1934 Übertragung d. „Quaestiones disputatae de veritate“ von Thomas von Aquin ins Deutsche
1931 Zweiter Habilitationsversuch: „Potenz u. Akt“
1932–1933 Dozentin am Dt. Institut für wissenschaftl. Pädagogik in Münster
1933 Eintritt in den Kölner Karmel „Maria vom Frieden“ als Schwester Teresia Benedicta a Cruce
1935–1937 Philosoph. Hauptwerk: „Endliches u. ewiges Sein“
1938 Emigration in den Karmel im niederländischen Echt
1941–1942 Letztes Werk: „Kreuzeswissenschaft“
1942 Deportation u. Ermordung in Auschwitz
1987 V. 1 Seligsprechung in Köln
1998 X. 11 Heiligsprechung in Rom
1999 X. 1 Erhebung zur Patronin Europas
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr., ab 1922 rk.
Auszeichnungen: Ehrungen: Namensgeberin von Institutionen und Straßen sowie zahlreiche Gedenktafeln, z. B. in Freiburg seit 1986 Ecke Loretto-Goethestraße unweit von Husserls ehemaliger Wohnung; Edith-Stein-Fenster (2001) von Hans-Günther Look im Freiburger Münster
Eltern: Vater: Siegfried (1844–1893), Holzhändler
Mutter: Auguste, geb. Courant (1849–1936)
Geschwister: 4 Brüder u. 6 Schwestern; Paul (1872–1943) Selma (verst. 31. 5. 1874), Else (1876–1956), Arno (1879–1948), Hedwig (verst. 1880), Frieda (1881–1942), Ernst (verst. 1882), Rosa Adelheid (1883–1942), Richard (verst. 27. 1. 1887), Erna (1890–1978)
GND-ID: GND/118617230

Biografie: René Raschke (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 384-389

Stein wurde als jüngstes von elf Kindern einer jüdischen Holzhändlerfamilie am Versöhnungstag Jom Kippur geboren. Gerade für die fromme Mutter war es bedauerlich, dass ihre Tochter, die an jenem höchsten jüdischen Festtag geboren wurde, einen anderen Glaubensweg einschlagen sollte. Der Vater starb, als Stein noch keine zwei Jahre alt war, auf Geschäftsreise an einem Hitzschlag, umso enger gestaltete sich der Zusammenhalt innerhalb der Familie. Besonders das Verhältnis Steins zur Schwester Erna sowie zur Mutter, die fortan sowohl die Erziehung der Kinder als auch das wirtschaftliche Unternehmen ihres Mannes übernahm, sollten für sie eine wichtige Rolle spielen.
Die Kindheit Steins war vom Familienunternehmen geprägt, somit wirtschaftlich abgesichert, dennoch bescheiden. Jüdische Frömmigkeit wurde in diesem Haushalt zwar gelebt, das kulturelle Verständnis aber war preußisch. Stein, die als aufgewecktes und neugieriges Mädchen auffiel, wurde an der Breslauer Viktoriaschule eingeschult. Überraschend verließ sie Ostern 1906 nach erfolgreicher Absolvierung die Höhere Mädchenschule und ging für einige Zeit zu ihrer Schwester Else nach Hamburg, um ihr bei der Hausarbeit zu helfen. Nach acht Monaten kehrte sie zurück und holte 1911 das Abitur am Oberlyzeum der Viktoriaschule nach. Das kulturinteressierte und wissbegierige Mädchen zählte sich selbst zu jener Generation, die das Selbstverständnis der jüdischen Herkunft zwar teilte und aus Gewohnheit die traditionellen Riten pflegte, selbst jedoch ungläubig war.
Ihre Laufbahn führte Stein im April 1911 als eine der ersten Frauen an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau. Sie studierte Lehramt für Deutsch, Geschichte und Latein, worin sie eine sinnvolle Einbindung von Philosophie und Literatur sah. Erste fachlich prägende Einflüsse erhielt Stein von dem pädagogischen Psychologen William Stern (1871–1938) und vom Neukantianer Richard Hönigswald (1875–1947). Die Thematik der menschlichen Person, die Stein ein Leben lang begleiten sollte, wurde ihr bereits in Breslau eröffnet. Sie wechselte aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber der empirischen Psychologie im SS 1913 an die Universität Göttingen, zur Blütezeit der dort ansässigen Phänomenologenschule. Denn unter der vom Begründer Edmund Husserl (➝ III 135) ausgegebenen Losung „zu den Sachen selbst“ hatte sich eine Wende in der Philosophie vollzogen und eröffnete bislang unbekannte Forschungsfelder. Stein studierte Husserls bahnbrechendes Werk „Logische Untersuchungen“ (1900/01) und besuchte seine Vorlesungen, Seminare und Übungen, fand in der phänomenologischen Gesellschaft und in Göttingen eine geistige Heimat. Zu ihren engeren Freunden zählten Hedwig Conrad-Martius (1888–1966), Fritz Kaufmann (1891–1951), Hans Lipps (1889–1941) und Roman Ingarden (1893–1970). Außerdem machte sie dort Bekanntschaft mit den Phänomenologen Max Scheler (1874–1928) und Dietrich von Hildebrand (1889–1977). Besonders Adolf Reinach (1883–1917), Privatdozent Husserls, wurde für sie zu einer einflussreichen Gestalt.
Während der Prüfungsvorbereitung für ihr Staatsexamen begann der I. Weltkrieg, der auch für Stein zu einer Grenzerfahrung werden sollte. 1915 ging sie nach erfolgreichem Examen mit Auszeichnung freiwillig zum Lazarettdienst nach Mährisch-Weißkirchen. Doch auch bei der Studentin wich die aufopferungsvolle Begeisterung rasch der Kriegsmüdigkeit. Sie kehrte nach Breslau zurück und begann dort Ostern 1916 nach dem Graecum das obligatorische Seminarjahr für eine weitere Ausbildung im Lehrberuf.
Eigentlich aber hatte sich Stein parallel zu Studium, Kriegs- und Schuldienst bereits seit dem ersten Göttinger Jahr eines Desiderates der Phänomenologie Husserls angenommen: der Erfahrung von fremdem Bewusstsein. Die Promotion Steins erfolgte 1916 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, wohin Husserl auf den Lehrstuhl des Neukantianers Heinrich Rickert (➝ IV 229) gewechselt war. Bereits im Juni 1916 reiste Stein erstmals nach Freiburg, um sich mit der dortigen Universitätslandschaft vertraut zu machen. Mit dem Prädikat „summa cum laude“ für ihre Dissertation „Zum Problem der Einfühlung“ erhielt sie am 3. August 1916 den „Ritterschlag“ in der Männerdomäne Philosophie.
Stein quittierte ihren Schuldienst, zog nach Freiburg-Wiehre und wurde für knapp anderthalb, dafür aber umso arbeitsintensivere und folgenreiche Jahre die Privatassistentin ihres „Meisters“, wie Husserl von seinen Schülern genannt wurde. Hier lernte sie auch den jungen Philosophen und Privatdozenten Martin Heidegger (➝ I 162) kennen. In dieser Zeit erlebte Stein einen wissenschaftlichen Aufstieg. Sie betreute Husserls „philosophischen Kindergarten“, der die jungen Studenten für die anspruchsvollen Seminare vorbereiten sollte, und war als Mitarbeiterin in Ordnung, Edition und Fortführung seiner Forschung gänzlich eingespannt. Stein leistete entscheidende Arbeit für Husserls „Ideen zu einer reinen Phänomenologie II“ sowie für seine Vorlesungen zur „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“. Letzteres nahm Husserl zum Anlass, die gesamte Problematik in zwei, teilweise gemeinsamen Ferienaufenthalten in Bernau im Schwarzwald neu zu durchdringen. Dennoch weigerte er sich, sie als Frau zu habilitieren. Dass er Stein ferner wenig Raum zum philosophischen Austausch bot, mündete umso mehr in Steins eigenständige philosophische Arbeit. Schließlich löste sie das Arbeitsverhältnis im Frühjahr 1918 auf und ging nach Breslau zurück. Sie weilte von da an aber immer wieder im geliebten Freiburg. Der persönliche und gedankliche Kontakt mit Husserl blieb ebenso bestehen.
Weitere Versuche, sich in Göttingen, Breslau, Hamburg oder Kiel zu habilitieren, zerschlugen sich für Stein aus universitätsstrategischen wie geschlechtsspezifischen Gründen. Im Dezember 1919 bat sie daraufhin den preußischen Wissenschaftsminister die Frage der Habilitation von Frauen zu verhandeln. Sie erteilte sich selbst die „Venia legendi“ und veranstaltete im Haus ihrer Mutter in Breslau private Vorlesungen zur „Einführung in die Philosophie“. Zu ihren Schülern zählte dort der spätere Soziologe Norbert Elias (1897–1990). Stein begriff sich während ihres phänomenologischen Schaffens stets als „Arbeiterin“ im Dienste einer Arbeitsphilosophie. Kritisch blickte sie daher nach Freiburg, wo sie Husserls phänomenologisches Werk durch Heideggers abweichende Ansätze gefährdet sah. Im „Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung“ veröffentlichte Stein 1922 ihre von der Assistentenzeit motivierten und als Habilitationsschrift gedachten Analysen „Psychische Kausalität“ sowie „Individuum und Gemeinschaft“, außerdem 1925 noch „Eine Untersuchung über den Staat“.
Während der wissenschaftlichen Laufbahn eröffnete sich Stein ein Zugang zum christlichen Glauben, den sie zum philosophischen Denken in Beziehung setzte. Die jüdische Religiosität ihrer Kindheit hatte sie in den Studienjahren bereits vollständig abgelegt. Ihr Leben jedoch geriet in eine Krise: die Selbstkritik während der Examens- und Dissertationszeit steigerte sich bis zur Depression; die Assistenz bei Husserl gestaltete sich schwierig; ihre Habilitation wurde aus uneinsichtigen Gründen abgelehnt; ihre Liebe zu den Kommilitonen Ingarden und Lipps blieb unerwidert; ihr guter Freund Reinach fiel 1917 in Westflandern. Die aufstrebende Zeit in Freiburg war für Stein damit zugleich auch voller innerer Abgründigkeit. Jedoch sorgte die Begegnung mit der gefassten Witwe Anne Reinach (1884–1953) für einen bleibenden Eindruck. Die Auseinandersetzung mit religionsphilosophischen Überlegungen während der gemeinsamen Ordnung von Reinachs Nachlass drängten Stein schließlich zu einer offenen und intensiven Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben. Bereits im Oktober 1918 schrieb sie, sie habe sich mehr und mehr zu einem „positiven Christentum durchgerungen“. Letztendlich aber wies Stein die biographischen Erklärungsversuche ihres eigenen Glaubensweges später stets mit dem Bekenntnis zurück: „secretum meum mihi“. Als sie im Herbst 1921 bereits weit in Glauben und religiöses Leben hinein und daran selbst gewachsen war, fand Stein im Lebenszeugnis der Reformatorin des Karmel Teresa von Ávila (1515–1582) einen „gelebten Glauben“, der ihr spirituelle Heimat werden sollte. Am 1. Januar 1922 wurde Stein in der Pfarrkirche von Bergzabern in der Pfalz getauft. Die religionsphilosophischen Überlegungen Steins in ihrem Frühwerk, insbesondere ihr Aufsatz „Natur, Freiheit, Gnade“, verweisen dabei von Anfang an auf ihre Wahrheit suchende und um Klarheit ringende wissenschaftliche Skepsis, die im lebendigen Dialog mit ihrem christlichen Glauben stand, so dass keineswegs von einem deutlichen Bruch im Denken Steins gesprochen werden kann.
Mit Unterstützung des Speyerer Generalvikars Josef Schwind (1851–1927) wurde Stein 1923 an der Lehrerinnenbildungsanstalt der Dominikanerinnen von St. Magdalena in Speyer als Lehrkraft für Deutsch und Geschichte angestellt. Die von der Bildungsanstalt und den Seminaristinnen attestierten didaktischen Defizite des „Fräulein Doktor“ glich Stein durch ihre tiefgründige und sachorientiere Lehre aus. Sie begann zudem eine ausgedehnte Nebentätigkeit. Bereits 1923 übertrug sie zusammen mit ihrer Taufpatin Conrad-Martius das französische Werk Alexandre Koyrés (1892–1964) „Descartes und die Scholastik“ ins Deutsche. Anschließend übersetzte Stein John Henry Newmans (1801–1890) „Idea of University“ sowie Briefe und Texte vor seiner Konversion und übertrug, als erste überhaupt, „De veritate“ von Thomas von Aquin (1225–1274). Im Zeitraum von knapp zehn Jahren, von 1925 bis 1934, entstanden daraus zwei viel beachtete Bände. Durch die spürbaren Einflüsse der Phänomenologie war die eigenwillige Übertragung, die eben keine Übersetzung mehr war, nicht unumstritten. Stein aber legte damit den Grundstein für ihr weiteres geistiges Schaffen.
Bereits Mitte der 1920er Jahre war sie als kompetente Referentin gefragt, was zur Einschränkung der Arbeit an der Bildungseinrichtung zwang. Sie hielt öffentlichkeitswirksame Festreden, insbesondere aber Fachvorträge. Ursprünglich hatte Stein Interesse an der philosophischen und theologischen Grundlegung der menschlichen Person und deren Entfaltung in der Bildung. Inhaltliches Hauptaugenmerk waren jedoch auftragsbedingt Erziehungsfragen mit Blickrichtung auf die Frau. Der Bildende sei zugleich Gärtner und Bildhauer, so dass sich gemäß der Umwelt das je Eigene und das Ganze der menschlichen Person ohne gesetzliche Schranken frei entfalten könne. Zwar konturierte Stein Mann und Frau mit Bezug auf leiblich-geschlechtliche Identität, aber nicht davon dominiert. Der Mensch sei zuerst Person und dann Mann oder Frau. Das anspruchsvolle Niveau und die unzeitgemäß sachliche Erörterung der diffizilen Grundlagen einer kath. Mädchenbildung verfehlten hingegen gelegentlich den Wirkungskreis des Auditoriums. Der unbestrittene wissenschaftliche Tiefgang erschien nicht selten als Idealisierung einer Wirklichkeit und blieb zwar in der Breite, kaum aber nachhaltig wirksam.
Geistliche Begleitung suchte Stein im Benediktinerkloster in Beuron, zu dessen Erzabt Raphael Walzer (1888–1966) sie ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Auf den zahlreichen Reisen zu den liturgischen Hochfesten der berühmten Abtei bot zudem das Kloster der Benediktinerinnen St. Lioba in Freiburg-Günterstal einen weiteren Bezugspunkt im von Stein stets geschätzten Raum Freiburg.
Die zunehmende wissenschaftliche Tätigkeit zwang Stein schließlich den Schuldienst in Speyer 1931 ganz zu beenden. Von den eigenen Ansätzen motiviert wollte sie sich auf Anraten des Freiburger Historikers Heinrich Finke (➝ II 87) erneut habilitieren, diesmal thematisch im Spannungsfeld von Phänomenologie und Scholastik. Heidegger, der Nachfolger Husserls in Freiburg, verwies Stein deswegen an den Konkordatslehrstuhl von Martin Honecker (1888–1941). Ihre Habilitation mit der Schrift „Potenz und Akt“ scheiterte schließlich sowohl aus fachlichen wie aus wirtschaftlichen Gründen. Freiburg war für Stein erneut zu Chance und Grenze geworden.
Vom Wander- und Vortragsleben ermüdet, dann in Beuron über den Jahreswechsel ausgiebig erholt, sah Stein ihre neue Aufgabe in der Grundlegung einer kath. Bildungstheorie. Im März 1932 war sie dafür an das „Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik“ in Münster berufen worden. In ihren Vorlesungen griff sie systematisch ihr Frühwerk und ihr gesamtes Vortragsschaffen sowie die begleitenden Studien auf, um alles auf eine philosophische und theologische Anthropologie hin zuzuspitzen. Sie pflegte Freundschaften zu dem christlichen Philosophen Peter Wust (1884–1940) und zu der bedeutenden kath. Schriftstellerin Gertrud von le Fort (1876–1971). Doch auch in Münster blieb ihr die Vollendung des wissenschaftlichen Vorhabens versagt. Stein wurde als gebürtige Jüdin aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums für das SS 1933 beurlaubt und kündigte schließlich freiwillig.
Am 14. Oktober 1933, zwei Tage nach ihrem Geburtstag, betrat Stein die Schwelle zum Karmel „Maria zum Frieden“ in Köln. Sie erbat sich den Namen Teresia Benedicta a Cruce. Mit dem klar abgesetzten Lebensabschnitt im Äußeren lässt sich aber weder im Briefstil ihrer beibehaltenen umfangreichen Korrespondenz noch in ihrem Denken eine deutliche Bruchlinie verbinden. Stein begann aufgrund des sich über dem jüdischen Volk zusammenziehenden Unheils bereits vor Eintritt in den Karmel als Zeugnis ihres eigenen Lebens die Niederschrift einer Autobiographie. Noch im April des Jahres 1933 hatte sie Papst Pius XI. (1857–1939) schriftlich um eine Stellungnahme gegen die NS-Politik gebeten.
Selbst im streng kontemplativen Orden durfte Stein weiter wissenschaftlich arbeiten. Sie überarbeitete ihr liegengebliebenes Manuskript „Potenz und Akt“. Zwischen 1935 und 1937 entstand daraus ihr „philosophisches Abschiedsgeschenk“ an Deutschland, ihr Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein“. Darin macht sie den Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins. Es war auch der spannende Versuch, den notwendigen Bezug von Vernunft und Glauben sinnvoll auszuweisen. Die menschliche Person war für Stein nicht nur als sündiges und irrendes Geschöpf ins Dasein geworfen und darin gefangen, sondern stets als wahrheitsfähig schaffende Person auch darin geborgen und frei. Das war zugleich ihre philosophische Kritik an Heideggers fundamentalontologischem Werk „Sein und Zeit“. Das Wesen der menschlichen Person war für Stein transparent als In-Beziehung-Tretendes bestimmt und komme nur in seinem ganzheitlichen Sinn zur Realisierung. Aufgrund drohender Repression gegen Verleger von „jüdischer Literatur“, konnte Stein ihr Hauptwerk nicht veröffentlichten, was sie stark belastete.
Nach der „Reichskristallnacht“ im November 1938 emigrierte Stein am Jahresende in den niederländischen Karmel nach Echt. Hier begann sie 1941 ihr letztes großes Werk „Kreuzeswissenschaft“, eine Bündelung ihres geistigen und geistlichen Schaffens in einer ihr aufgetragenen Interpretationsstudie über die Mystik und das Gedicht „La noche oscura“ des spanischen Mystikers und Heiligen Johannes vom Kreuz (1542–1591). Stein beschrieb darin einen vom eigenen Selbst ausgehenden und durch den Verlust der vorgestellten Glaubenswahrheiten in eine abgründige Maßlosigkeit führenden Weg zum Selbstgewinn in der erfüllenden Liebe Gottes: „Im Dunkel wohl geborgen“.
Die ausgehaltene Paradoxie Steins, sich ohne sichtbaren Erfolg dieser Liebe bedingungslos hinzugeben und die stets wachsende Gewissheit für eine Stellvertretung vorgesehen zu sein, erfüllten die tief gläubige Karmelitin und stellten dabei ihre große intellektuelle Herausforderung dar. Als im Juli 1942 als Reaktion auf einen Protest der niederländischen Bischöfe sämtliche kath. Juden – besonders die Ordensleute – interniert und zum scheinbaren „Arbeitseinsatz im Osten“ abtransportiert werden sollten, wurde auch Stein am 2. August verhaftet, über Westerbork nach Auschwitz deportiert und vermutlich direkt nach der Ankunft am 9. August ermordet.
Da ein wesentlicher Teil ihres Werkes zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb, ist eine kritische Würdigung Steins erst postum durch die abenteuerliche Rettung ihres Nachlasses und die kontrovers diskutierte Kanonisierung möglich geworden. Dank der kritischen und erstmalig vollständig bei Herder in Freiburg erschienenen Neuausgabe ihrer Werke weisen die jungen Forschungen, die zunehmend vom nur spirituellen und biographischen Interesse absehen, Stein als eine ebenso besondere wie vielfältige, philosophische wie theologische, intellektuelle wie kontemplative Dialogfigur des 20. Jh.s aus. Der Facettenreichtum ihres Lebens, Denkens und Wirkens versagt sich dem einseitigen thematischen Zugriff, so dass breite Öffentlichkeit und kritische Forschung gleichermaßen motiviert sind.
Quellen: Nachlass im Edith-Stein-Archiv Köln.
Werke: Edith-Stein-Gesamtausgabe (ESGA), Edith Stein Institut Würzburg K. Mass u. M. Linssen/Karmel „Maria vom Frieden“ zu Köln/H.-B. Gerl-Falkovitz (Hgg.), 27 Bände, 2000–2012; Zum Problem d. Einfühlung, Diss. phil. Freiburg 1916; Beiträge zur philosoph. Begründung d. Psychologie u. d. Geisteswissenschaften, in: Jahrb. für Philosophie u. phänomenolog. Forschung Bd. V, 1922; Übersetzung: Des hl. Thomas von Aquino, Über die Wahrheit, 2 Bde., 1931/1932; Endliches u. ewiges Sein, bearb. 1935–1937; Kreuzeswissenschaft, bearb. 1941–1942.
Nachweis: Bildnachweise: W. Herbstrith, Edith Stein: Jüdin u. Christin, 1995, passim; U. Hillmann, Apropos Edith Stein, 1995, 53–81; M. A. Neyer, Edith Stein: Ihr Leben in Dokumenten u. Bildern, 5. Aufl. 1999, passim; www2.erzbistum-freiburg.de/Edith-Stein.1036.0.html

Literatur: Bibliographie jeweils in: Edith Stein Jahrbuch 1 ff., 1995 ff.; H. Graef, Edith Stein, 1954; W. Herbstrith (Hg.), Edith Stein, 1983; W. Herbstrith (Hg.), Erinnere dich – vergiß es nicht, 1990; L. Elders (Hg.), Edith Stein, 1991; H.-B. Gerl, Unerbittliches Licht, 1991; R. L. Fetz / M. Rath / P. Schulz (Hgg.), Studien zur Philosophie von Edith Stein, 1993; P. Schulz, Edith Steins Theorie d. Person, 1994; H. Hecker, Phänomenologie des Christlichen bei Edith Stein, 1995; A. U. Müller / M. A. Neyer, Edith Stein, 1998; C. M. Wulf, Freiheit u. Grenze, 2002; B. Beckmann, Phänomenologie des religiösen Erlebnisses, 2003; B. Beckmann / H.-B. Gerl- Falkovitz (Hgg.), Edith Stein, 2003; B. Beckmann-Zöller / H.-B. Gerl-Falkovitz (Hgg.), Die unbekannte Edith Stein, 2006; F. J. S. Fermin, Loslassen – Edith Steins Weg von d. Philosophie zur karmelitischen Mystik, 2007; C. Haderlein, Individuelles Mensch-Sein in Freiheit u. Verantwortung, 2009; W. Herbstrith (Hg.), Edith Steins Unterstützer, 2010; W. Rieß, Der Weg vom Ich zum Anderen, 2010.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)