Wurster, Carl 

Geburtsdatum/-ort: 02.12.1900;  Stuttgart
Sterbedatum/-ort: 14.12.1974; Frankenthal, Pfalz
Beruf/Funktion:
  • Chemiker und Industrieller
Kurzbiografie: 1906-1918 Besuch des humanistischen Eberhard-Ludwig-Gymnasiums in Stuttgart bis Abitur
1918 Jul.-Dez. Militärdienst beim Feldartillerie-Regiment 13
1919 Jan.-1923 Feb. Chemiestudium an der Technischen Hochschule Stuttgart bis Promotion „mit Auszeichnung“ zum Dr.-Ing.: „Beiträge zur Kenntnis des Deaconschen Chlorprozesses“ bei A. Gutbier, Okt. 1922 bis Dez. 1923 Assistent am anorganisch-chemischen Laboratorium der Technischen Hochschule Stuttgart
1924 2. Jan.-1938 Eintritt in die BASF Ludwigshafen und bis 1928 Tätigkeit im Anorganischen Labor, 1926 dessen Leiter und gleichzeitig Leiter der anorganischen Versuchsbetriebe, 1930 Leiter der anorganischen Betriebe, Jan. 1932 Stellvertretender Leiter der anorganischen Abteilung, Apr. 1934 Prokurist der IG Farbenindustrie AG, Jun. 1936 Titulardirektor , ab Jan. 1938 Vorstandsmitglied und Betriebsleiter der Werke Ludwigshafen-Oppau
1941-1945 Präsident der Industrie- und Handelskammer der Pfalz
1947 25. Apr. Verhaftung und Anklage von dem Nürnberger Militärgericht (Fall 6), Jul. 1948 Freispruch
1949 Sep.-1968 Sep. Verwaltungsrats- bzw. Vorstandsmitglied des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft
1952 Jan.-1965 Mai Vorstandsvorsitzender der BASF
1952 Mär. Honorarprofessor der Chemie und chemischen Technologie an der Universität Heidelberg
1953 Apr.-1959 Mär. Senator und Kuratoriumsmitglied der Deutschen Forschungsgemeinschaft
1958 Feb.-1967 Jan. Mitglied des Wissenschaftsrats
1958 Jan.-1959 Dez. Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker
1960 Mai-1972 Jun. Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft
1962 Jan.-1963 Dez. Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie
1965 Mai-1974 Jul. Aufsichtsratsvorsitzender der BASF
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Dr. rer. nat. h. c. der Universität Tübingen (1952); Dr.-Ing. h. c. der Technischen Hochschule München (1953); Großes Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1955); Dr. rer. pol. h. c. der Wirtschaftshochschule Mannheim, Ehrenbürger der Stadt Ludwigshafen, Ehrensenator der Universität Heidelberg, Ehrenbürger der Technischen Hochschule Stuttgart, Ehrensenator der Universität Mainz und der Technischen Hochschule Karlsruhe (1960); Ehrensenator der Universität Tübingen (1963); Ehrenmitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und Schillerpreis der Stadt Mannheim (1966); Harnack-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft (1970); Ehrensenator der Max-Planck-Gesellschaft (1972)
Verheiratet: 1926 (Stockholm) Anna Margareta, geb. Bergman (1902-1984)
Eltern: Vater: Karl (1860-1941), Vorstand des Stadtpolizeiamts Stuttgart
Mutter: Clara Julie, geb. Sippel (1873-1962)
Geschwister: 4:
(Halbschwester) Marie Charlotte, verheiratete Christmann (1887-1973)
(Halbbruder) Oskar (1890-1907)
Friedrich (Fritz, 1898-1996)
Maria, verheiratete Motz (1904-1983)
Kinder: 2:
Birgitta (1929-1951)
Monika (Mona), verheiratete Ruef (geb. 1933), Dr. med.
GND-ID: GND/118771485

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 411-414

Wurster wurde als fünftes von sechs Kindern eines Stuttgarter Amtmanns geboren. In seinem Elternhaus lernte er, so er selbst, „eine bescheidene Lebensführung kennen, verbunden mit der glücklichen Harmonie eines auf Heim und Familie abgestellten Milieus“. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums, das er „mit gutem Erfolge“ abgeschlossen hat, und nach einem halbjährigen Militärdienst begann Wurster ein Chemiestudium an der Technischen Hochschule Stuttgart; ursprünglich wollte er Medizin studieren, wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie konnte er sich aber ein Studium außerhalb des elterlichen Wohnorts nicht leisten. Die Mittel für sein Studium verdiente Wurster, indem er Nachhilfestunden für Gymnasiasten gab und während der Hochschulferien 1919 bis 1921 als Werkstudent im Laboratorium der BASF in Ludwigshafen arbeitete. Im Dezember 1921 bestand Wurster „mit Auszeichnung“ seine Diplomprüfung und schloss sein Studium mit einer Promotion „summa cum laude“ auf dem Gebiet der anorganischen Chemie ab; gleichzeitig arbeitete er als Unterrichtsassistent. Nach der Charakteristik seines Doktorvaters A. Gutbier hat sich Wurster „in jeder Beziehung als ein hervorragend begabter, durchaus zuverlässiger Chemiker erwiesen, der mit größtem Fleiß und peinlicher Gewissenhaftigkeit alle Arbeiten erledigt hat.“
Bald verließ Wurster die akademische Laufbahn, teilweise wegen seiner „verhältnismäßig sehr niederen Vergütung“, teilweise, weil die Arbeit bei der BASF interessante wissenschaftliche Aussichten bot. Ab Mitte 1924 arbeitete Wurster dort im „Säurelaboratorium“ und erreichte viel in der Verbesserung alter und der Ausarbeitung neuer Verfahren, insbesondere erfand er ein neues Verfahren zur Herstellung von wasserfreien Metallchloriden. Diese Ergebnisse wurden in 11 deutschen und 22 ausländischen Patenten fixiert und im Betrieb eingeführt. C. Bosch wurde aufmerksam und begann ihn zu fördern, zuerst als Leiter der Anorganischen Betriebe, dann als Leiter der Anorganischen Abteilung und schließlich, ab 1938, als Leiter der Werke Ludwigshafen/Oppau. 1925 bis 1945 gehörte die BASF unter Leitung von C. Bosch zur IG Farbenindustrie AG. Aufgrund der Entscheidung des Aufsichtsrats der IG Farbenindustrie vom 18. Dezember 1937 „übernahm er [Wurster] die soziale Führung des Betriebes“. Verantwortlich für die anorganische Produktion teilte Wurster die technische Leitung mit zwei anderen Direktoren.
Der neue „Betriebsführer“, so seine damalige Bezeichnung, sah sich bald zwangsweise in die NSDAP aufgenommen, ohne dies auch nur beantragt zu haben; schon früher hatte er Angebote, in die Partei einzutreten, abgelehnt. Er blieb aber ausschließlich sachbezogen und versetzte seine Arbeit nie mit politischen Faktoren.
Wurster erscheint als ein sehr gewissenhafter Vorgesetzter. Fast täglich besuchte er die Fabrikanlagen mit dem Fahrrad und gab den Leuten so die Möglichkeit, direkt mit ihm zu sprechen. „Frischen Wind“ für das Unternehmen soll dieser Stil gebracht haben. Ausgestattet mit Klarheit und Schnelligkeit des Denkens bewältigte Wurster scheinbar spielend seine Aufgaben, aber trotz seiner erstaunlich raschen Arbeitsweise hielt er sich bis in die späten Abendstunden in der Fabrik auf und beschäftigte sich samstags und sonntags häufig mit größeren Planungen. Eine der größten seiner organisatorischen Innovationen im Bereich der Forschung war schon Anfang 1938 die Wiederaufnahme der Technischen Direktionsbesprechungen.
Seit Kriegsbeginn, so sagte er 1941, „waren gewaltige soziale Probleme zu lösen ... die Absorption der ausländischen Arbeitskräfte ... der Einbau der Frauenarbeit in unsere Werke“. Seine besondere Sorge galt der Sicherheit der Belegschaft. Bekanntlich wurden Ludwigshafen und das Werk durch Luftangriffe 1944/1945 fast völlig zerstört. Auf eigene Faust verweigerte Wurster vor dem Abzug der deutschen Truppen den militärischen Befehl, die Reste der Anlagen zu sprengen; er blieb beim Werk bis zum Einmarsch der Amerikaner, die ihn, wie später auch die Franzosen, als dessen Leiter bestätigten.
Wurster und seine Belegschaft hatten, so er selbst, „ein Verhältnis zur Fabrik wie der Bauer zu seinem Acker“. Unter „unbeschreiblichen Verhältnissen“ wurde mit der Erzeugung der chemischen Grundprodukte der Betrieb wieder aufgenommen und gleichzeitig an der Behebung der Zerstörungen gearbeitet. „Ohne das menschliche Sich-Wieder-Zueinanderfinden, ganz von unten her in der Familie und im Betrieb, hätte nicht sofort 1945 der Wiederaufbau einsetzen können“, bemerkte er später. Mitten aus dieser Wiederaufbauarbeit heraus wurde Wurster durch den Nürnberger Militärgerichtshof plötzlich herausgerissen. Mitarbeiter und Mitbürger standen hinter ihm wie in kaum einem anderen Falle eines Wirtschaftsführers, bis nach 15 Monaten Haft der Freispruch erfolgte.
Enorme Schwierigkeiten kennzeichneten die 8-jährigen Verhandlungen über die Entflechtung der IG Farbenindustrie und die daraus folgende Notwendigkeit, das eigene wirtschaftlich-kaufmännische System für die BASF wieder aufzubauen; außerdem galt es, Demontagen und Besatzungsinterventionen zu bewältigen. Unter diesen Vorzeichen fand 1952/1953 die zweistufige Neugründung der BASF statt, eine der größten Leistungen Wursters. Das von ihm entworfene Wiederaufbaukonzept, in dem von Anfang an Forschung die vorderste Stelle einnahm, und seine weitere Leitung haben die BASF zu einer der modernsten chemischen Betriebsstätten der Welt werden lassen. Seine Offenheit, seine gewinnende Warmherzigkeit, seine Achtung und sein Vertrauen Mitarbeitern gegenüber prägten die Atmosphäre. Wurster leitete die Firma bis zur Pensionierung 1965.
Neben dem Lebenswerk, das der BASF galt, hatte Wurster viel Kraft und Zeit auf die Förderung der Wissenschaft verwandt. 1952 wurde er zum Honorarprofessor in Heidelberg ernannt und las von 1953 bis 1961 über „Ausgewählte Kapitel aus dem Gebiet der chemischen Technologie.“ Er überschaute die gesamte Entwicklung und die Probleme von Wissenschaft und Forschung innerhalb und außerhalb der Hochschulen und konnte in zahlreichen Gremien angemessene Wege empfehlen. Unermüdlich wiederholte er dabei die These, dass nur die Forschung die Blüte der Wirtschaft sichern könne, insbesondere der chemischen Industrie; er wollte ihr „ein Stück idealistischer Grundlage und Ethik“ sichern und meinte auch, dass nichts weniger zum Organisiertwerden und für die Betätigung von Funktionären aller Kategorien sich eignet als die Wissenschaft: „Jegliche Einschränkung der Freiheit der Wissenschaft, Freiheit im besten Sinne des Wortes, in dieser Sphäre kann sich auf die Dauer nur negativ auswirken“.
In den 1950er und 1960er Jahren hielt Wurster Dutzende von Vorträgen, Reden und Ansprachen, die ihn nicht nur als glänzenden Redner, sondern auch als Vermittler, sachlichen und ideenreichen Denker und Staatsbürger zeigen. Sie enthalten viele Aspekte, die bis heute der Überlegung wert sind: über Bildungspolitik, den gesetzlichen Rahmen der Wirtschaft, menschliche Beziehungen in Betrieben, Unternehmensmanagement.
Wurster, Naturwissenschaftler aus Leidenschaft, war zugleich ein Liebhaber der alten Sprachen, der Dichtung und der Kammermusik. Als Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) beispielsweise sprach er mit zwei zeitgenössischen Komponisten und gab ihnen die vier Noten G-D-C-H als Motiv für die musikalische Umrahmung der Festsitzungen der Gesellschaft: ein voller Erfolg! Wursters geistige und menschliche Qualitäten ebenso wie seine großen Leistungen machen ihn zu einer leuchtenden Gestalt in der Geschichte der Wirtschaft und Wissenschaft im Nachkriegsdeutschland.
Quellen: UnternehmensA d. BASF Ludwigshafen W1-Wurster, Nr. 1-2; StadtA Ludwigshafen Nachlass F. Wurster Wagner, N 25, Nr. 158, 159, 161, 164, 165, 166; UA Heidelberg Personalakte Wurster 6443, B 1884/22, Rep. 27-1877; Auskünfte des Stifterverbands für die Dt. Wissenschaft vom 14. 12. 2004, des StadtA Stuttgart vom 12. 10. 2004 u. von Dr. Mona Ruef.
Werke: Die techn. Gewinnung von wasserfreiem Aluminiumchlorid, in: Zs. für angew. Chem. 43, 1930, 877-880; Gedanken u. Beobachtungen zur Frage Grundlagenforschung u. Zweckforschung auf dem Gebiete d. Chemie, Vortrag in Tübingen am 8. Mai 1952, Broschüre, o. J. [1952]; Forschung als Grundlage d. chem. Industrie, in: Zs. d. Vereins Dt. Ingenieure 96, 1954, 797-801; Wiederaufbau u. Wandlung: Die BASF seit 1945, in: Jb. d. Max-Planck-Ges. 5, 1955, 244-259; Über die Verwendung von Sauerstoff für chem. Reaktionen, in: Chemie-Ingenieur-Technik 28, 1956, 1-8; Sinn u. Wert d. humanist. Bildung im geistigen u. wirtschaftl. Leben d. heutigen Zeit, in: Mitt. d. Vereins d. ehem. Schüler des Eberhard-Ludwig-Gymnasiums, Sonderh. April 1956, 12-16; Menschenbildung im Zeitalter d. Technik: Gedanken zur Schulreform, in: Die Rheinpfalz vom 7.10.1957, 6; Justus von Liebig 1803-1873, in: Große Deutsche, Deutsche Biographie, hg. v. H. Heimpel, Th. Heuss u. a., Bd. 3, 1958, 313-326; Analytische Chemie: „Unterentwickeltes Gebiet“ d. dt. Hochschulen?, in: Angew. Chem. 71, 1959, 96 f.; Impulsgebende Chemie, Der Volkswirt 13, 1959, Beilage zum H. 31, 52-55; Chemie u. Lebensstandard, in: Ruperto Carola 29, 1961, 7587; Gesellschaftliche Kräfte d. Wirtschaft, in: Offene Welt Nr. 71, 1961, 51-65; Das Zeitalter d. Kunststoffe hat erst begonnen!, in: Börsen-Ztg. Frankfurt/M vom 31.12.1961, 1-3; Aktuelle Probleme d. chem. Industrie, 1962; Kein Fortschritt ohne Wissenschaft, in: Der Volkswirt Frankfurt/M Beiheft zur Nr. 18, 1964, 10-12; Führungskräfte für die Zukunft d. Unternehmen, Vortrag anlässlich d. Veranstaltung „Zehn Jahre Baden-Badische Unternehmergespräche“, 6.11.1964, in: Die BASF 15 H. 1, 1965, 23-29 (gekürzte Version in: Junge Wirtschaft Nr. 12, 1964, 449-451); Die heutige Bedeutung d. Benzolchemie, in: Kekulé u. seine Benzolformel, Vier Vorträge, 1966, 79-93; Tradition – Verpflichtung zum Fortschritt, in: Pfälzisches Industrie- u. Handelsblatt 43, 1968, 336-343; Wandel d. Unternehmensführung durch Unternehmensforschung, in: Der Akademiker in Wirtschaft u. Verwaltung, 1970/71, 29-34.
Nachweis: Bildnachweise: UnternehmensA d. BASF; Eckart Henning u. Marion Kazemi, Chronik d. Max-Planck-Ges. zur Förderung d. Wiss. 1948-1998, 1998, 515 u. 522; BASF-Nachrichten H. 3, 1965, 18 u. H. 4, 1; Pfälzisches Industrie- u. Handelsblatt 43, 1968, 330, 336, 339.

Literatur: H. A. Staab, C. Wurster †, in: Jb. d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 1975, 77-80 (mit Bild); R. Lüst, C. Wurster †, Max-Planck-Ges., Berichte u. Mitteilungen, Sonderh. 1.1.1975-15.4.1975, 5-7 (mit Bild); Jens Ulrich Heine, Verstand u. Schicksal. Die Männer d. IG Farbenindustrie, 1990, 175-177; Werner Abelshauser (Hg.), Die BASF, eine Unternehmensgeschichte, 2002, bes. 279-358.
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