Wunder, Ludwig 

Geburtsdatum/-ort: 05.05.1878; Lauf an der Pegnitz
Sterbedatum/-ort: 07.03.1949;  Michelbach
Beruf/Funktion:
  • Pädagoge der Landerziehungsheimbewegung und Leiter des Landerziehungsheims Schloss Michelbach an der Bilz
Kurzbiografie: 1884-1896 Volksschule und Realgymnasium Nürnberg
1897-1900 Studium der Naturwissenschaften in München
1899/1900 Verbands-und Oberlehrerexamen in Naturwissenschaften und Chemie
1900-1902 Assistent an dem Realgymnasium in Schweinfurt
1902–1911 Lehrer im Landerziehungsheim von H. Lietz in Haubinda und Bieberstein (Leiter 1907-1911)
1911 ff. Privatier in Sendelbach bei Lohr
1917/1918 Soldat an der Westfront
1919 Leiter des Landerziehungsheims Haubinda
1921-1924 Gründung und Leitung des Landerziehungsheims Walkemühle bei Melsungen (Hessen)
1922 Anschluss an Leonard Nelson und Abtretung der Walkemühle an den Internationalen Jugendbund (IJB)
1925 Gründung des Landerziehungsheims Herrlingen bei Ulm zusammen mit Claire Weimersheimer; Umzug nach Beeghof (Gemeinde Ellrichshausen bei Crailsheim)
1926-1945 Gründung und Leitung des vegetarischen Landerziehungsheims Schloss Michelbach an der Bilz
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev. (ausgetreten 1942)
Verheiratet: 1924 Lina, geb. Schwarz (1890-1966)
Eltern: Vater: Justin Wunder (1838-1910), Chemiker und Fabrikdirektor
Mutter: Auguste, geb. Weichlein (1836-1899)
Geschwister: 4 Brüder, darunter Wilhelm (1874-1926), Direktor des Stuttgarter Elektrizitätswerks
1 Schwester
Kinder: 2 Söhne
1 Tochter
GND-ID: GND/138481482

Biografie: Bernd Wunder (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 300-302

Ludwig Wunder gehört zu der Gruppe junger Reformpädagogen, die in enger Verbindung zur Jugendbewegung unter Leitung von Hermann Lietz (1868-1919) nicht nur die Pädagogik reformieren, sondern auch das Schulwesen verändern wollten und die nach einigen Jahren der Tätigkeit in den Lietzschen Landerziehungsheimen Ilsenburg (1898 ff.), Haubinda (1901 ff.) und Bieberstein (1904 ff.) eigene Landerziehungsheime gründeten, so Gustav Wyneken (1875-1964) Wickersdorf, Paul Geheeb (1870-1961) die Odenwaldschule, Martin Luserke (1880-1968) die „Schule am Meer“ oder Alfred Kramer (1868-1910) die Sollingschule. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung der autoritären Wissensvermittlung der wilhelminischen Staatsschule und ihre Ersetzung durch eine harmonische Charakterbildung auf der Basis der Selbsttätigkeit in natürlicher Umgebung. Trotz mancher Konflikte waren die Landerziehungsheime ein Beispiel erfolgreicher deutsch-jüdischer Symbiose.
Als Einserabiturient wurde Wunder in das staatliche bayrische Universitätsstipendium Maximilianeum aufgenommen und studierte Naturwissenschaften mit besonderer Berücksichtigung der Chemie in München. Seine erste Schulstelle in Schweinfurt befriedigte ihn nicht. Bei einem Besuch in Haubinda im Frühjahr 1902 faszinierte ihn die Persönlichkeit und Pädagogik von Lietz so stark, dass er den Staatsdienst quittierte und 1903 den Unterricht in Physik, Chemie und Biologie für die Mittelstufe in Haubinda übernahm. Bei der Einrichtung der Oberstufe auf Schloss Bieberstein baute er dort den naturwissenschaftlichen Unterricht auf und übernahm von 1907– 1911 die Leitung dieser Schule. Lietz ließ dabei Wunder freie Hand. Aus pädagogischen und finanziellen Gründen erarbeitete sich Wunder mit seinen Schülern Apparate und Versuche selbst. So entstanden auch die Wasser- und Elektrizitätsversorgung in Bieberstein, Walkemühle und später in Michelbach im Eigenbau.
Der impulsive und autokratische Leitungsstil von Lietz führte zu zahlreichen Konflikten in seinem Lehrerkollegium. Wunder hielt bei diesen Auseinandersetzungen unverbrüchlich zu Lietz. Als 1906 ein Teil des Lehrerkollegiums von Haubinda unter Führung von Wyneken gegen Lietz rebellierte und die Eltern mobilisierte, schickte Lietz Wunder mit einer Vollmacht nach Haubinda. Nach einer stürmischen Vollversammlung erteilte Wunder am 1. Juli 1906 einem Drittel des Kollegiums, darunter Wyneken, Geheeb und Luserke sofortiges Hausverbot. Durch diesen Hinauswurf, von den Betroffenen beschönigend Sezession genannt, wurde Haubinda zwar Lietz erhalten, doch konnte der Austritt von zwei Dritteln der Schüler nicht verhindert werden, die den Entlassenen in die Freie Schulgemeinde Wickersdorf folgten. Aber auch Wunder war wiederholt, so Ende 1904 und 1908, nahe daran, Lietz den Dienst wegen Überarbeitung und mangelhafter Unterstützung aufzukündigen. Lietz konnte ihn jedoch immer wieder zum Bleiben überreden. 1911 kam es schließlich zum Bruch und Wunder, der ohne Gehalt gearbeitet hatte, verließ Bieberstein unter Verzicht auf alle ausstehenden Zahlungen.
Da Wunder Lietz zugesagt hatte, nicht wie Wyneken eine Konkurrenzschule zu gründen, kaufte er sich im Spessart ein Haus, in dem er sich mit pädagogischen und populärwissenschaftlichen Publikationen beschäftigte. Damals trat er auch in näheren Kontakt zu Georg Kerschensteiner (1857-1932) und seinem Konzept der Arbeitsschule. 1914 meldete sich der ungediente Wunder als Kriegsfreiwilliger, wurde aber erst im Sommer 1917 eingezogen und an der Westfront eingesetzt. 1918 kehrte er als Soldatenrat zurück.
Nach dem Tod von Lietz übernahm Wunder 1919 für kurze Zeit die Leitung von Haubinda, doch machte er sich im Frühjahr 1921 selbständig. Er kaufte die stillgelegte Walkemühle bei Melsungen und errichtete dort ein eigenes Landerziehungsheim. Über Minna Specht (1879-1961) lernte er Leonard Nelson (1882-1926), seit 1919 außerordentlicher Professor für Philosophie in Göttingen, kennen. In dessen auf Kant und Fries beruhender Philosophie der Gesinnungsethik fand Wunder die theoretische Begründung für seine Erziehertätigkeit, die er bei Lietz vermisst hatte. Insbesondere sagte ihm die von Nelson den Naturwissenschaften zugeschriebene Rolle im Erziehungsprozess zu und die von ihm propagierten Ideen der sokratischen Erziehungsmethode und des ethischen Rigorismus. Nelson hatte sich bei Kriegsende vom Liberalismus ab- und dem Sozialismus zugewandt und suchte über die Gründung eines Internationalen Jugendbundes (IJB) eine elitäre Kaderorganisation zu schaffen. Der Versuch, die SPD zu unterwandern, führte 1925 zum Ausschluss des Internationalen Jugendbundes aus der SPD. Im Frühjahr 1922 einigten sich Nelson, Specht und Wunder auf die Nutzung der Walkemühle als Ausbildungszentrum für den Internationalen Jugendbund. Wunder,1923 bis 1925 auch SPD-Mitglied, übereignete die Walkemühle dem Internationalen Jugendbund. Da Wunder sich der politischen Autorität Nelsons aber nicht bedingungslos unterordnen wollte, kam es Ende 1924 zum Bruch und Wunder verließ die Walkemühle unter Verzicht auf seinen gesamten Besitz. Unter der Leitung von Specht nahm die Walkemühle die Unterrichtung von Kindern der politischen Aktivisten wieder auf, bis sie 1933 emigrierte.
Wunder unternahm anschließend einen zweiten Versuch einer Schulgründung in Herrlingen bei Ulm. Zusammen mit Claire Weimersheimer (1883-1963) wollte er ihr dortiges Kinderheim im Frühjahr 1925 zu einem Landerziehungsheim ausbauen. Doch scheiterte dieses Projekt an der Finanzierung. Erst 1926 gelang Anna Essinger (1889-1960), der Schwester von C. Weimersheimer, die Errichtung eines Landschulheims, das als jüdische Heimschule bis 1939 Bestand haben sollte. Wunder übertrug seine Planungen im Sommer 1925 auf den Beeghof bei Crailsheim und im Herbst 1926 auf das Schloss Michelbach, ein unbewohntes Spätrenaissanceschloss. Die Fürstlich Löwenstein-Wertheimsche Domainenkanzlei vermietete Wunder das Gebäude auf 50 Jahre praktisch mietfrei gegen die Auflage, es auszubauen. Wunder plante wie in der Walkemühle und Herrlingen nur eine kleine Schule mit ca. 30 Schülern und einigen Lehrern und hatte immer wieder, besonders 1933, als seine jüdischen ausländischen Schüler (ein Drittel aller Schüler) Deutschland verließen, mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Mitte der 30er Jahre versuchte Wunder – der nicht nur wie Lietz Antialkoholiker und Nikotingegner, sondern nach dem Vorbild von Nelson auch Vegetarier war – vergeblich, sein Heim in eine vegetarische Stiftung umzuwandeln. Erst als ihm 1938 provisorisch und 1940 endgültig das Recht zur Abnahme des Abiturs zuerkannt wurde, trug sich das Landerziehungsheim finanziell, insbesondere da nun kriegsbedingt die Zahl der Schüler auf 100 stieg. Die Nutzung des Schlosses nach Kriegsende 1945 als DP-Lager führte zur völligen Zerstörung der Innenausstattung. Da auch der zum Nachfolger ausersehene Sohn von Wunder Robert gefallen war, verzichtete er auf eine weitere Nutzung des Schlosses zugunsten der Evangelischen Landeskirche, die seit 1935 Besitzerin des Schlosses war, und 1946 hier eine Kirchliche Lehreroberschule einrichtete.
Wunders Pädagogik orientierte sich an Lietz, Kerschensteiner und Nelson, wobei Nelson ihm die philosophische Begründung und Kerschensteiner die Methode der Arbeitsschule boten. Lietz blieb ihm immer das Vorbild, was sich auch daran zeigte, dass er über dem Schuleingang in Michelbach die Lietzsche Devise „Licht, Liebe, Leben“ (Herder) einmeißeln ließ. Aus den Konflikten um Lietz – dem Verhältnis zwischen Leiter und Lehrerkollegium, der Arbeitsüberlastung der Lehrer und der Disziplinlosigkeit der Schüler – zog Wunder die Konsequenz, sein eigenes Landerziehungsheim 1925 als „Erzieherarbeitsgemeinschaft und Versuchsschule“ zu begründen. Geprüfte Lehramtskandidaten sollten vor einer Anstellung im Staatsdienst hier den Arbeitsschulgedanken (Kerschensteiner) und die sokratische Methode (Nelson) als antiautoritäre, die Selbständigkeit der Schüler fordernde Methode erproben. Diesem Ziel galten auch zahlreiche dreitägige Fortbildungskurse in Physik für Volksschullehrer, die Wunder zusammen mit dem Badischen Lehrerverein seit 1926 abhielt und anschließend in den Ferien auf Schloss Michelbach anbot. Wunders Versuch, auf die staatliche Lehrerausbildung Einfluss zu nehmen und eine staatliche Anerkennung seiner Reformschule zu erreichen, scheiterte trotz der Unterstützung von Kerschensteiner.
An Lietz erinnerte nicht nur die ländliche Lage von Wunders Landerziehungsheim, sondern auch die Verbindung von Unterricht, Sport (Dauerlauf) und Gartenarbeit, die Ganztagesschule (nachmittägliche Betreuung) und die sogenannte Kapelle (abendliche Lesungen aus der Literatur). Wunder begründete den naturwissenschaftlichen Experimentalunterricht für die Oberstufe. Er führte hier auch Projekttage ein (D-Tag). Von 1921 bis 1935 praktizierte er auch die Koedukation. Exkursionen mit Schülern führten Wunder schon vor 1914 von den Gletschern Islands bis in die Wüste Tunesiens (Erlebnispädagogik). Als begeisterter Bergsteiger setzte er seinen Ehrgeiz darein, ohne Bergführer auszukommen. Einen Höhepunkt seines Projektunterrichts bildeten prähistorische Ausgrabungen nach der verbesserten Cohausenschen Methode. Opernbesuche mit den Schülern und regelmäßige Konzerte im Schloss mit Hermann Keller oder Hans Greschkat (1903-1977) wurden auch zu regionalen kulturellen Ereignissen.
Wunder, der sich ohne Rücksicht auf materielle Verluste immer um die Einheit von Idee und Tat bemüht hatte, handelte zweimal opportunistisch, als es um die Selbständigkeit seiner Schule ging. 1922 trat er, der wie Lietz einem dogmenfreien Gottglauben anhing, aus Rücksicht auf die Schulbehörde und mit Billigung des Internationalen Jugendbundes nicht aus der Kirche aus. Und Ende 1934 trat er rückdatiert auf das Frühjahr 1933 in die NSDAP ein, um eine Gleichschaltung seines Landerziehungsheims durch die Partei zu vermeiden. Im Frühjahr 1933 hatte er noch den aus Berlin geflüchteten Pazifisten und Schriftsteller Magnus Schwantje (1877-1959) bei sich ausgenommen, doch Ende der 30er Jahre wandelte er sich zum überzeugten Nazi. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass ein Intellektueller wie Wunder noch 1949 wie zahlreiche damalige Deutsche am Faschismus viel Gutes fand. Als überzeugter Kantianer reihte er die Volksgemeinschaft in die transzendentalen Werte ein:der freiheitsbewusste Erzieher definierte wie die Jugendbewegung und Nelson den Lehrer als Führerpersönlichkeit und der bedingungslose Gehorsam wurde zur Selbstüberwindung. Die Wendung zu Nelson hatte Wunder den Lietzschen Schulen entfremdet, die unter der Leitung von Alfred Andreesen (1886-1944) sich während der Weimarer Republik in völkischer Richtung entwickelt hatten. Für die Pädagogen in der Emigration war er durch sein Ausharren in Deutschland zum Renegaten geworden, so dass er bei seinem Tod isoliert und vergessen war.
Quellen: NL (Privatbesitz): dort (Fünf-)Jahresberichte des LEH Schloss Michelbach 1931-1940/41 (gedr.), 24 Rund- und Feldpostbriefe an die Altschüler und Freunde des LEH (1940-44, gedr. und vervielfältigt); Briefwechsel Wunder-Lietz: BAK N1 Lietz no. 6o. – Walkemühle: StA Marburg 166/64437; Herrlingen: STAL E 202 Bü 1470, E 204 I/1, EL 902/9 Bü 10830; Kerschensteiner-Archiv Prof. Dr. G. Wehle Düsseldorf/Wesel.
Werke: Streifzüge im Reiche der Physik/Elektrizität, 1913; Chemische/Physikalische Plaudereien, 1913; Physik/ Chemie für Lehrer aller Schulgattungen, 1914/20 (= Der naturwissenschaftliche Unterricht auf der Grundlage des Arbeitschulgedankens Bd. 1-2); Hilfsbuch für den Physiklehrer der Volksschule: I Mechanik, II: Elektrizität, Wärme, Licht, Schall, 1927/28; zahlreiche Aufsätze in pädagogischen, natur- und populärwiss. Zs. 1901-1943.
Nachweis: Bildnachweise: Foto in: Sedlaczek (vgl. Lit.).

Literatur: Monika Wunder, Ludwig Wunder und die Landerziehungsheimbewegung, Pädagogische Zulassungsarbeit 1967; Paul G. Staiger, Die LEH Bewegung und Ludwig Wunder, Zulassungsarbeit 1976; Jürgen Ziechmann, Theorie und Praxis der Erziehung bei Leonard Nelson und seinem Bund, 1970; Rudolf Giesselmann, Geschichten von der Walkemühle, 1997; Inge Hansen-Schaberg, Minna Sprecht. Eine Sozialistin in der Landerziehungsheimbewegung, 1992; Doris Beatrix, Heimat oder Zuflucht. Landschulheime Herrlingen und Bunce Court, Kent, Diplom-Arbeit, 1999; Giszlen Sedlaczek, Geschichte des Vegetarischen LEH Schloß Michelbach a. d. B., in: Gemeindeverwaltung (Hg.), Michelbach a. d. B. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, 1980, 310-327.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)