Freiherr Marschall von Bieberstein, Fritz Adolf Hans 

Geburtsdatum/-ort: 11.04.1883;  Karlsruhe
Sterbedatum/-ort: 17.10.1939;  Freiburg im Breisgau
Beruf/Funktion:
  • Rechtslehrer
Kurzbiografie: 1901 Abitur in Karlsruhe, dann Studium d. Rechtswissenschaft in Genf, Berlin, München u. Heidelberg
1905–1906 I. Jurist. Staatsprüfung, dann Einjährig-Freiwilliger
1906–1911 Rechtspraktikant
1910 II. Jurist. Staatsprüfung
1910 X.14 Promotion zum Dr. iur. in Heidelberg bei Gerhard Anschütz: „Armeebefehl u. Armeeverordnung in d. staatsrechtl. Theorie des 19. Jh.s“
1912 I. 26 Regierungsassessor
1912 IV. 24 Habilitation: „Verantwortlichkeit und Gegenzeichnung bei Anordnungen des obersten Kriegsherrn“; Privatdozent in Berlin
1914 VIII. 3–1919 VII. 4 Militärdienst, zuletzt Hauptmann d. R., dann Gefangenschaft
1913 ao. Professor in Halle
1915 Berufung als Ordinarius an die Staatswissenschaftl. Fakultät Tübingen als Nachfolger Rudolf Smends
1920 II. 27 o. Professor des Staats-, Verwaltungs- u. Völkerrechts, d. Staatslehre sowie d. dt. Rechtsgeschichte als Nachfolger von Heinrich Rosin (➝ IV 242) in Freiburg im Br.
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: EK II (1914); EK I (1917); Ehrenritter des Johanniterordens (1926)
Verheiratet: 1927 (Freiburg im Br.) Nora, geb. Kübler (1894 –1981)
Eltern: Vater: Adolf (1848–1920), zuletzt bad. Minister des Großherzogl. Hauses u. d. Auswärt. Angelegenheiten
Mutter: Lisa, geb. von Porbeck (1857–1910)
Geschwister: 2; Erika (1882–1953) u. Hellmuth (1884–1945), ermordet im KZ Groß-Rosen
Kinder: 4; Wolfgang (1928–2003), Prof. d. Rechte in Bonn, Walther (* 1930), Botschafter, Ruth (* 1933) u. Helmuth (* 1937)
GND-ID: GND/116791756

Biografie: Alexander Hollerbach (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 268-270

Marschall von Bieberstein entstammt der Unteribentäler Linie der um die bad. und deutsche Geschichte hochverdienten „Dynastie“ der gleichnamigen Freiherrn. So war etwa Adolf Hermann von Marschall von Bieberstein (➝ IV 195) ein Vetter seines Vaters. Nach Abschluss seines juristischen Studiums wurden seine Promotion und Habilitation von Gerhard Anschütz (➝ III 6) gefördert. Wegen des I. Weltkriegs, den er von Anfang bis Ende bei der kämpfenden Truppe mitmachte, konnte er seine akademische Wirksamkeit erst 1919/20 entfalten. In Freiburg war er neben Wilhelm van Calker (1869–1937) und ab 1935 Theodor Maunz (1901–1993) Fachvertreter für den Gesamtbereich des Öffentlichen Rechts, engagierte sich aber auch für die deutsche Rechtsgeschichte. Unter den Juristen, deren Promotion er betreut hat, ragt Hermann Kopf (BWB II 283) mit seiner Dissertation „Der Rhein im internationalen öffentlichen Recht unter besonderer Berücksichtigung des Versailler Vertrags und der seitherigen Rechtsentwicklung“ (1925) heraus. 1930 fand unter seiner Ägide die Habilitation von Ernst Forsthoff (➝ I 121) statt, eines Schülers von Carl Schmitt (1888–1985). Mitbedingt durch die Folgen eines Unfalls, den er 1930 erlitten hat, war er gesundheitlich angeschlagen und ist schon mit 56 Jahren an einer Blutvergiftung gestorben.
Marschall von Bieberstein hat nur ein schmales wissenschaftliches Œuvre hinterlassen. Mit seiner Habilitationsschrift, in der er gegen die herrschende Meinung die These verfocht, dass auch Akte der Kommandogewalt der Gegenzeichnung durch den verantwortlichen Minister bedürfen, hat er seinen Ruf als eines außerordentlich gründlichen und gewissenhaften Wissenschaftlers begründet. Nicht von ungefähr wurde ihm deshalb später das Thema Ministerverantwortlichkeit im repräsentativen „Handbuch des Deutschen Staatsrechts“ anvertraut. Bekannt wurde er aber vor allem durch den „Fall Marschall“, einen damals stark beachteten und kontrovers diskutierten Hochschulkonflikt, der durch seine am 17. Januar 1925 gehaltene Rede zum Reichsgründungstag ausgelöst wurde. Die in Versform konzipierte Rede handelte „Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze“. In ihr wandte sich Marschall von Bieberstein gegen den vorherrschenden Formalismus und Positivismus, den er in einem Parlamentsabsolutismus zum Ausdruck kommen sah, und bekannte sich zu einer Fundierung des Rechts im „Rechtsgewissen“, das seine Maßstäbe in einer von der Sittlichkeitsanschauung des deutschen Idealismus und vom Kulturprotestantismus geprägten Tradition findet. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtsphilosophie darf diese Rede noch heute Beachtung beanspruchen, weil sie das Grundproblem des Verhältnisses von Gesetz und Recht und damit die Möglichkeit von Unrecht in Gesetzesform – gesetzliches Unrecht – kenntnisreich diskutiert. Damals aber ist sie in erster Linie als Ausdruck des Kampfes gegen die Weimarer Demokratie verstanden worden. Die deutschnational-rechtskonservative Schlagseite trat deutlich in dem Passus hervor, in dem Marschall von Bieberstein von den „Herren Haase, Ebert und Genossen“ als „Usurpatoren“ sprach, deren Willensakte „nichts als Hochverrat“ gewesen seien, „de facto freilich die Gesundung vorbereitend“, wie abschwächend hinzugefügt wurde. Das hat im Zusammenhang mit heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit und im bad. Landtag auch Auseinandersetzungen um das Prinzip der akademischen Lehrfreiheit ausgelöst und zu einem Disziplinarverfahren geführt. Dieses ist zwar eingestellt worden; es blieb aber bei einem Verweis als dienstpolizeiliche Ordnungsstrafe. Zu seinen politischen Grundüberzeugungen passt, dass sich Marschall von Bieberstein 1926 im Streit um die Fürstenenteignung aus betont monarchistischer Gesinnung aktiv für das Scheitern des von der Linken angestrebten Volksentscheids einsetzte.
Nach 1933 ist keine Zeile mehr von ihm erschienen. Mag er den „Kampf gegen Versailles“ begrüßt und bejaht haben, gegen die NS-Ideologie, insbesondere gegen ihren Antisemitismus, blieb er immun. Man hat ihm zum Vorwurf gemacht, dass er in seiner Reichsgründungsrede eine Sondergesetzgebung gegen die Juden für unvereinbar mit der Verfassung gehalten habe; doch konnte er sich dagegen geschickt verteidigen. Als einer von ganz wenigen Kollegen hat er im April 1938 am Begräbnis von Edmund Husserl (➝ III 135) teilgenommen. Offizielle Studentenvertreter bescheinigten ihm, er habe „als alter konservativer Deutschnationaler den Weg zum Nationalsozialismus nicht gefunden“ und erfülle deshalb nicht die Aufgaben, „die einem Dozenten an einer nationalsozialistischen Hochschule gestellt sind“. Er war in der Tat, wie es der Historiker Gerhard Ritter (BWB I 299) formuliert hat, „das Gegenteil eines Nationalsozialisten“. So war es nur konsequent, dass er und seine Frau nach den Ereignissen vom 9. November 1938, zu denen er auch im Hörsaal kritisch Stellung genommen hatte, das sog. Freiburger Konzil mitbegründet haben, einen Gesprächskreis, in dem widerständiges Denken gepflegt wurde.
Quellen: UA Freiburg Personalakten u. (Teil-)Nachlass; Auskünfte von Walther von Marschall von Bieberstein.
Werke: Armeebefehl u. Armeeverordnung in d. staatsrechtl. Theorie des 19. Jh.s ‚ Diss. iur. Heidelberg, 1910; Verantwortlichkeit u. Gegenzeichnung bei Anordnungen des obersten Kriegsherrn. Studie zum dt. Staatsrecht, 1911; (Hg.) Verfassungsrechtl. Reichsgesetze u. wichtige Verordnungen. Systematisch zusammengest. u. mit Verweisungen u. Sachregister versehen, 1924 (= Sammlung dt. Gesetze 54), 2. Aufl. 1929; Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze. Akad. Rede zum Gedächtnis d. Reichsgründung, gehalten am 17. Januar 1925 in d. Aula d. Albert-Ludwigs-Universität, 1927; Die Gefährdung d. dt. Universität, in: Die Tatwelt V, 1929, 92–102; Geheimer Rat O. Lenel. Ein Nachklang zum achtzigsten Geburtstag, in: Akad. Mitteilungen, 5. Folge, X. Semester, 1929, 74–76; Die Verantwortlichkeit d. Reichsminister, in: Handb. des Dt. Staatsrechts, hg. v. Gerhard Anschütz u. Richard Thoma, Bd. I, 1930, 520–544.
Nachweis: Bildnachweise: UA Freiburg D 13/327, Foto einer Zeichnung in: Marcon/Strecker, 2004, 425.

Literatur: Der „Freiburger Kreis“. Widerstand u. Nachkriegsplanung 1933–1945, hg. v. D. Rübsam u. H. Schadek, 1990; M. Stolleis, Geschichte des öffentl. Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, 56 u. ö.; A. Hollerbach, Recht gegen Gesetz? Zum Fall Marschall in wissenschaftsgeschichtl. Perspektive, 2001, in: ders., Jurisprudenz in Freiburg, 2007, 253–269; 200 Jahre Wirtschafts- u. Staatswissenschaften an d. Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Leben u. Werk d. Professoren, hg. u. bearb. v. H. Marcon u. H. Strecker, Bd. 1, 2004, 425–428.
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