Hermes, Hans 

Geburtsdatum/-ort: 12.02.1912; Neunkirchen
Sterbedatum/-ort: 10.11.2003;  Freiburg im Breisgau
Beruf/Funktion:
  • Mathematiker
Kurzbiografie: 1931–1937 Studium d. Mathematik, Physik, Philosophie, Chemie u. Biologie in Freiburg, München u. Münster
1937 Staatsexamen in Münster
1938 Promotion an d. Univ. Münster bei Heinrich Scholz, Mathemat. Logik, u. Adolf Kratzer, Theoretische Physik: „Eine Axiomatisierung d. allgem. Mechanik“; Stipendiat in Göttingen; Assistent an d. Univ. Bonn
1940–1945 Militärzeit, u.a. beim Chemisch-Physikal. Institut d. Marine, Kiel
1947 Habilitation an d. Univ. Bonn bei Ernst Peschl: „Analytische Mannigfaltigkeiten in Riemannschen Bereichen“; Diätendozent, ab 1949 Fachdozent für mathemat. Logik u. Grundlagenforschung an d. Univ. Münster
1950 Mitbegründer des Archiv für mathemat. Logik u. Grundlagenforschung
1953 Berufung als Nachfolger von Heinrich Scholz auf den Lehrstuhl für mathemat. Logik u. Grundlagenforschung an d. Univ. Münster
1959 Forschungsaufenthalt an der University of California, Berkeley
1962 Mitbegründer d. Dt. Vereinigung für Mathemat. Logik u. für Grundlagenforschung d. Exakten Wissenschaften
1964 Mitglied d. Rhein.-Westfäl. Akad. d. Wissenschaften
1965–1966 Forschungsjahr an d. University of California in Los Angeles
1966 Inhaber des neu einger. Lehrstuhls für mathemat. Logik an d. Univ. Freiburg; Gründung d. dortigen Abteilung für Mathemat. Logik
1967 Mitglied d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften
1977 Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1941 (Münster) Hedwig, geb. Breuer (1912–2004), Gymnasiallehrerin
Eltern: Vater: Josef (1881–1943), Gymnasialprofessor
Mutter: Eleonore, geb. Richter (1885–1963)
Geschwister: 3; Gisela (1914–2003), Heinrich (1916–1989) u. Elisabeth (geboren 1922)
Kinder: 3; Ulrich (geboren 1946), Barbara (geboren 1950) u. Annelore (geboren 1952)
GND-ID: GND/117712302

Biografie: Heinz-Dieter Ebbinghaus (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 157-159

Hermes gilt als ein Wegbereiter der mathematischen Logik in der Bundesrepublik Deutschland. In den 1930er-Jahren, Hermes’ Studienzeit, wurden die Grundsteine für die heutige mathematische Logik gelegt. 1931 bewies Kurt Gödel, dass formale, „rechnerische“ Verfahren eine ihnen wesenseigene Schwäche besitzen, und erzielte damit das bislang wohl bedeutendste wissenschaftstheoretische Resultat. Gleichzeitig gelang es, den Begriff der Berechenbarkeit adäquat zu präzisieren, u.a. durch die von Alan Turing 1936 als Modell eines idealen Rechners entwickelte Turing-Maschine. Aus der Berechenbarkeitstheorie der mathematischen Logik sollte später die theoretische Informatik hervorgehen.
An der Universität Freiburg kämpfte in dieser Zeit der ordentliche Honorarprofessor Ernst Zermelo, ein Vertreter der „alten“ Generation, gegen die neue mathematische Logik, weil er glaubte, sie reiche für die Mathematik nicht aus. An der Universität Münster wandte sich der Religionsphilosoph Heinrich Scholz begeistert der neuen Richtung zu und erreichte zwischen 1936 und 1950 in mehreren Schritten, dass seine Professur in eine Professur für mathematische Logik und Grundlagenforschung und sein Seminar in ein Institut gleichen Namens umgewandelt und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät zugeordnet wurden. Das Scholzsche Institut war das erste und für lange Zeit einzige seiner Art.
Bereits 1932 hörte Hermes in Freiburg eine Vorlesung Zermelos. Als er über München nach Münster gewechselt war, führte ihn der Zufall in eine Vorlesungsstunde von Scholz. Jetzt schlug ihn die mathematische Logik in ihren Bann. In seiner Dissertation verband er sie mit der theoretischen Physik. Bereits vorher hatte er in der Arbeit „Definite Begriffe und berechenbare Zahlen“ die Turingschen Maschinen vorgestellt. Fragen der Berechenbarkeit sollten ihn fortan begleiten und z.B. 1954, 1963 und 1981 Gegenstand von Veröffentlichungen Hermes’ sein.
Nach kriegsbedingter Unterbrechung und der Habilitation für Mathematik in Bonn ging Hermes 1947 als Diätendozent für Mathematik zurück nach Münster. 1953 folgte er Scholz auf dessen Lehrstuhl. Unter Hermes’ Leitung wurde das Scholzsche Institut zu einem Zentrum der jungen Disziplin. Dank seiner weitgespannten Interessen, die von der Mathematik über die Naturwissenschaften bis in die Philosophie reichten, wie seine Veröffentlichungen 1957, 1967 und 1969 zeigen, und dank seiner Aufgeschlossenheit für Fragestellungen der Berechenbarkeit vertrat Hermes die mathematische Logik in ihren interdisziplinären Bezügen noch stärker, als Scholz dies vermocht hatte. Die „Schule von Münster“ zog nicht nur Studierende, Gäste und Doktoranden aus der Mathematik an, hinzu kamen auch Philosophen, Juristen, Sprachwissenschaftler. Der bereits 1952 mit Scholz gelieferte Beitrag „Mathematische Logik“ bildete die vielbeachtete fachliche Ausgangsbasis.
Hermes’ Forschung zielte nicht unbedingt auf spezielle Resultate; oft versuchte er, einfachere Zugänge zu finden und dadurch neue Sichtweisen zu eröffnen. Beispielhaft ist hier die Arbeit über die Unlösbarkeit des sogenannten Entscheidungsproblems von 1971. Seine langjährigen Vorlesungen am Mittwochnachmittag, in denen er neue Entwicklungen vorstellte, wurden von Studierenden höherer Semester, Doktoranden und Kollegen gehört. Hermes war ein überragender akademischer Lehrer. Er verstand es, auch schwierige Themen und komplizierte Beweise verständlich zu vermitteln. Seine Lehrbücher von 1961 und 1963 überzeugen durch Originalität, Exaktheit und intuitive Klarheit. In zahlreiche Sprachen übersetzt und in mehreren Auflagen verfeinert, haben sie an vielen Orten die Ausbildung in mathematischer Logik begleitet.
Hermes’ Streben nach Einfachheit wurde von einer spielerischen Einstellung begleitet, die sich auf vielerlei Art äußerte. Er hielt Vorlesungen über Spieltheorie; er war ein ausgezeichneter Schachspieler; noch im höheren Alter spielte er wöchentlich mit den Mitgliedern seiner Freiburger Abteilung Basketball. Seinen Aufsatz „Zahlen und Spiele“, 1983, stellte er unter ein Motto von Francis Bacon: Poesis doctrinae tamquam somnium. Für diese traumhafte Poesie des Lehrens und Lernens gebe es eine Kontrollinstanz: das Spiel. Im Sinne von Huizingas Homo ludens schaffe es eine Brücke zu den ältesten Erfahrungen der Menschheit und zu frühesten Erfahrungen jedes einzelnen Individuums, der sich auch die oft auf Abstraktion ausgerichtete Mathematik bedienen könne. Hermes ist dem so verstandenen Motto Bacons stets gefolgt.
Bereits 1950 gründete Hermes mit dem Logiker Arnold Schmidt und dem Philosophen Jürgen von Kempski das „Archiv für mathematische Logik und Grundlagenforschung“, eine Zeitschrift, die sich einer Brückenfunktion verpflichtet fühlte und heute als „Archive for Mathematical Logic“ zu den bedeutenden Zeitschriften der mathematischen Logik zählt. 1962 rief er mit der damals noch kleinen Gruppe deutscher Logiker die Deutsche Vereinigung für Mathematische Logik und Grundlagenforschung der Exakten Wissenschaften ins Leben, um den Kontakt zwischen Vertretern der mathematischen Logik, der Philosophie und der Wissenschaftstheorie auch organisatorisch zu fördern. Zusammen mit den Philosophen Friedrich Kambartel und Friedrich Kaulbach gab er 1969 bis 1976 Gottlob Freges nachgelassene Schriften und Briefe heraus.
1965 erhielt Hermes einen Ruf auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Mathematische Logik an der Universität Freiburg, 30 Jahre nachdem Zermelo dort wegen Verweigerung des Hitlergrußes aus seiner Stellung gedrängt worden war. Hermes nahm den Ruf an und begann 1966 mit dem Aufbau einer gleichnamigen Abteilung. Diese sollte in der Mathematik verwurzelt sein, darüber hinaus aber auch, wie das Münstersche Institut, aufgeschlossen für interdisziplinäre Bezüge. Zahlreiche Vorträge in den Nachbarwissenschaften und im Studium Generale seiner neuen Universität legen Zeugnis von dieser Einstellung ab. Ausschlaggebend für die Annahme des Rufs war neben der Möglichkeit, nach dem Ausbau der Münsterschen nun auch eine Freiburger Schule gründen zu können, sicherlich Freiburg selbst. Bot doch jeder Frühling Gelegenheit, mit den Assistenten ins Umland zu ziehen, um Blumen zu bestimmen: schon früh mediterrane Arten im Kaiserstuhl und später alpine Pflanzen am Feldberg.
Hermes’ Vorlesungen und Seminare erfreuten sich großer Beliebtheit bei den Studierenden. Stipendiaten aus verschiedenen Ländern kamen nach Freiburg, um ihre logische Ausbildung im Sinne der interdisziplinären Weite zu ergänzen. Hermes wurde Vorstandsmitglied des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach und Mitorganisator der regelmäßigen Tagungen zur mathematischen Logik in diesem Institut. Als Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gelang es ihm, die Unterstützung der Akademie für das ehrgeizige Projekt „Perspectives in Mathematical Logic“ des Logikers Gert Heinz Müller zu gewinnen, das anstrebte, die mathematische Logik in wegweisenden Monographien darzustellen. Heute wird die Reihe von der Association for Symbolic Logic, der weltweit größten Logik-Vereinigung, weitergeführt.
Von seinen Kollegen wurde Hermes auch wegen seiner toleranten Grundeinstellung und seiner Fähigkeit geschätzt, Meinungsverschiedenheiten zum Ausgleich zu führen. Als nach der Auflösung der alten Großfakultäten 1970 ein Dekan für die Anfangsphase der Mathematischen Fakultät gesucht wurde, war es der einhellige Wunsch aller, Hermes in dieser Stellung zu wissen.
Bis zu seinem Tod nahm Hermes regen Anteil an der Fortentwicklung der Computer. Es bereitete ihm Freude, eigene Programme zu schreiben. Mit Genugtuung musste es ihn erfüllen, dass die Universität Freiburg in den späten 1980er-Jahren ein Institut für Informatik einrichtete und dass dessen Aufbau wesentlich von Thomas Ottmann getragen wurde, einem Informatiker aus der Schule von Münster.
Die Institutionen, die Hermes gegründet oder gestaltet hat, und die Vorstellungen, von denen er sich hat leiten lassen, leben weiter, auch dank der zahlreichen Wissenschaftler, die aus seinen Logikschulen hervorgegangen sind. Die Freiburger Abteilung für Mathematische Logik allerdings soll 2016 aufgelöst werden. Hermes wäre es wohl gelungen, die widerstreitenden Interessen, die zu diesen Plänen geführt haben, miteinander zu versöhnen.
Quellen: UA Freiburg B 15/160 Nat.-Math.-Fakultät, Berufungen Geschichte u. Grundl. d. Mathematik, 1962–1965, B 15/824 Nat.-Math.-Fakultät, PA Hans Hermes, 1965–1966, B 148/260 Math. Inst., PA Hans Hermes, 1966–1975, B 293/158 Berufungsakten des Rektorats, Lehrstuhl für Math. Logik u. Grundl. d. Mathematik, 1963–1988 (alle Akten derzeit noch gesperrt).
Werke: Bibliographie in: W. Oberschelp, 108-110 (vgl. Literatur). – Auswahl: Definite Begriffe u. berechenbare Zahlen, Semesterberichte Münster, 10. Semester, 1937, 110-123; Eine Axiomatisierung d. allgem. Mechanik, Forschungen zur Logik u. zur Grundlegung d. exakten Wissenschaften, Heft 3, 1938 (48 S.); (mit H. Scholz) Mathematische Logik, Enzyklopädie d. mathemat. Wissenschaften, neue Aufl., Bd. I, Teil 1. A, 1952, 1-82; Die Universalität programmgesteuerter Rechenmaschinen, Mathematisch-Physikalische Semesterberichte 4, 1954, 42-53; Über eine logische Begründung d. Wahrscheinlichkeitstheorie, Mathematisch-Physikalische Semesterberichte 5, 1957, 214-224; Aufzählbarkeit, Entscheidbarkeit, Berechenbarkeit, 1961; Einführung in die mathemat. Logik, 1963; Die Rolle d. Logik beim Aufbau naturwiss. Theorien, Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NRW, Natur-, Ingenieur- u. Gesellschafts-Wissenschaften, Klassenvortr. 168, 1967 (32 S.); Ideen von Leibniz zur Grundlagenforschung: Die „Ars Inveniendi“ u. die „Ars Iudicandi“, Studia Leibnitiana, Sonderh. 1, 1969, 78-88; A simplified proof for the unsolvability of the decision problem in the case AEA, in: Logic Colloquium 1969, edited by R. O. Gandy and C. M. E. Yates, 1971, 307-310; Recursion Theory – Modern Logic – A Survey, in: Historical, Philosophical and Mathematical Aspects of Modern Logic, ed. by E. Agazzi, 1981, 173-195; Zahlen u. Spiele, in: Zahlen, hgg. von H.-D. Ebbinghaus, H. Hermes, F. Hirzebruch et al., 1983, 234-255.
Nachweis: Bildnachweise: H.-D. Ebbinghaus, Hans Hermes zum Gedenken, Freiburger Universitätsbll. 162, 2003, 219.

Literatur: W. Oberschelp, Hans Hermes, 12.2.1012–10.11.2003, in: Jahresber. d. Dt. Mathematiker-Vereinigung 109, 2007, 99-110.
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