Lehmann, Kurt Gustav Ernst 

Geburtsdatum/-ort: 19.04.1892;  Dossenbach bei Schopfheim
Sterbedatum/-ort: 27.07.1963;  Mannheim
Beruf/Funktion:
  • ev. Pfarrer, Mitglied der Kirchlich-Liberalen Vereinigung u. der Badischen Bekenntnisgemeinschaft, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1898–1910 Schulbesuch in Hornberg im Schwarzwald
1910–1916 Theologie- u. Philosophiestudium in Berlin, Marburg u. Heidelberg; 1914 I. theol. Examen, 1916 II. theol. Examen
1914–1918 Kriegsdienst, mit Unterbrechungen
1919 Vikar in Pforzheim
1920 Lic. theol. Heidelberg
1920–1927 zunächst Pfarrverweser, dann Pfarrer in Neuenweg, Kirchenbezirk Schopfheim
1921 Mitglied d. Kirchlich-liberalen Vereinigung
1927–1935 Pfarrer in Durlach
1933 Predigtverbot nach mehreren Konflikten
1935 zwangsweise Versetzung in den Ruhestand
1938–1945 Exil in d. Schweiz; die Familie in Hinterzarten
1946–1948 Auseinandersetzung mit d. Kirchenleitung wegen Rehabilitierung u. Wiederaufnahme in den Pfarrdienst
1948–1959 Pfarrer an d. Lutherkirche in Mannheim bis 1959, dann Ruhestand
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: I. 1919 Gerda Löhlein-Issel, geb. Issel, adopt. Löhlein (1893–1945)
II. 1948 Luise (Liesel), geb. Reinhardt (1900–1999)
Eltern: Vater: Ernst Josef (1861–1948), ev. Pfarrer in Mannheim u. Religiöser Sozialist, 1884 während des Philosophiestudiums vom Judentum zum Christentum konvertiert, Dr. phil.
Mutter: Marie, geb. Faißt (1869–1950)
Geschwister: 3; Karl Anton (geboren 1890), Walter Gerhard (1891–1917, stud. med., gefallen) u. Heinrich Helmuth (geboren 1894)
Kinder: aus I.
Gerhart Gottfried (1923–1944, gef.),
Gerhild (geboren 1928, ab 1944 rk.),
Waltraud (geboren 1929)
GND-ID: GND/1012407977

Biografie: Gerhard Schwinge (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 234-236

Durlach war mehrheitlich evangelisch und in den 1920er-Jahren etwa zur Hälfte von Industriearbeitern bewohnt, die in der Weltwirtschaftskrise mit der wachsenden Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten. Hier sammelte Lehmann um 1930 den Schülerbibelkreis „Jungenwacht“ um sich, aus dem Vikare und Mitkämpfer gegen das NS-Regime hervorgingen: Paul Menacher (1911–2007), Rudolf Deuchler (1913–1942, gef.), Hermann Marx (1913–1999) und Ernst Münz (1915–1969). Im Februar 1932 unternahm der Liberale Lehmann den unrealistischen Versuch, sämtliche kirchenpolitischen Gruppen in Baden zu einen, Positive, Liberale und Religiöse Sozialisten. Er wandte sich dabei ausgerechnet an seinen NS-Amtsbruder und Kirchenbezirksleiter des NS-Pfarrerbundes Fritz Voges. Schon zu den Landessynodalwahlen im Juli 1932 trat auch die neue „Kirchliche Vereinigung für positives Christentum und deutsches Volkstum“ an, evangelische Nationalsozialisten. Sie nannten sich später „Deutsche Christen“, DC. Nachdem im Juli 1933 dann die Religiösen Sozialisten, mit denen Lehmann sympathisiert hatte, damals die im Durlacher Kirchengemeinderat zweitstärkste Gruppe, verboten worden waren, erlangten die DC mit 13 Sitzen die Mehrheit bei den Durlacher Kirchenältesten; die Positiven hatten noch 7 Sitze. Doch es gelang Lehmann trotz der Spannungen in der Gemeinde, für die Badische Bekenntnisgemeinschaft, die badische Variante der Bekennenden Kirche, Mitglieder zu gewinnen und damit Helfer bei seiner offen gezeigten antinationalsozialistischen Haltung.
Schon im Dezember 1931 und dann wieder im Mai 1932 hatte „Der Führer“, das Hauptorgan der NSDAP Gau Baden, über die Zersetzungsarbeit des Halbjuden Lehmann in der Evangelische Landeskirche (1931, Folge 276, 9.12., S. 5; vgl. Folge 268, 1.12., S. 8) und den „roten Pfarrer Lehmann“ als „ein Stein des Anstoßes“ (1932, Folge 107 vom 3.5., S. 4) geschrieben. Dennoch scheute sich Lehmann nicht, Anfang 1933 ein von seinem Vater, der seit 1931 in Heidelberg im Ruhestand lebte, verfasstes Flugblatt „Deutschland wohin? Der Weckruf eines alten Nationalsozialen an das Gewissen der deutschen Nation“ in Durlach zu verbreiten. Kurz nach der „Machtergreifung“ vom 30. Januar 1933 hielt Lehmann am 12. Februar eine provozierende Predigt, in der er vom Juden Jesus und vom Juden Paulus sprach. Das hatte Folgen. Im Februar und dann wieder im April reagierte „Der Führer“ heftig. Danach bezeichnete der damalige Kirchenpräsident Klaus Wurth im April die Art der Predigt gegenüber dem Kirchengemeinderat, der damals noch mehrheitlich aus Liberalen und Religiösen Sozialisten bestand, als ungehörig und gänzlich unangebracht. Der Kirchengemeinderat aber stellte sich hinter Lehmann, und es kam zwischen Lehmann und Wurth zur Auseinandersetzung. Zuvor hatte Lehmann im März dagegen protestiert, dass anstelle der noch immer offiziellen schwarz-rotgoldenen Flagge die rote NS-Parteifahne mit dem schwarzen Hakenkreuz an einer Durlacher Schule gehisst worden war, in der Lehmann Religionsunterricht halten sollte. Am 28. Juni wurde Lehmann aus dem Religionsunterricht heraus in „Schutzhaft“ genommen, allerdings dank der Intervention des Kirchenpräsidenten noch am selben Tag wieder freigelassen. Gleichwohl verfügte die Kirchenleitung vor den für den 23. Juli staatlich angeordneten neuen Landessynodalwahlen gegen Lehmann ein vorübergehendes Predigtverbot.
Im November 1933 leitete der neue, mit „Deutschen Christen“ durchsetzte Oberkirchenrat ein Verfahren zur vorzeitigen Versetzung Lehmanns in den Ruhestand ein. Im Januar 1934 bot man Lehmann eine Versetzung in die Landgemeinde Immendingen im Kirchenbezirk Konstanz an, was dieser aber als diskriminierend ablehnte. So zog sich das Verfahren über eineinhalb Jahre hin. Auch in dieser Zeit blieb Lehmann bei seiner widerständigen Haltung. Unter anderem wurde ihm vorgeworfen, dass er – wie andere! – im Gottesdienst am 30. April nicht die vorgeschriebene Fürbitte für den Führer gesprochen hatte. Am 1.November veranstaltete er in der Durlacher Stadtkirche einen abendlichen Bekenntnisgottesdienst, in dem auch der Steiner Bekenntnispfarrer Egon Güß sprach. Unterdessen agierten die Durlacher DC und die Gestapo weiter gegen Lehmann. Er wurde schließlich am 15. Juli 1935 gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt, das heißt nicht endgültig aus dem Pfarrdienst entlassen, wie die Gestapo es gefordert hatte. Dagegen strengte Lehmann, der mit seiner Familie nach Hinterzarten umgezogen war, einen Prozess vor dem landeskirchlichen Verwaltungsgericht an, den er trotz Fürsprache des badischen Landesbruderrats verlor.
Als Lehmann im November 1938 auf einer Vortragsreise in der Schweiz weilte und mit der Reichspogromnacht Judenverfolgungen vehement einsetzten, kehrte er nicht zu seiner Familie nach Deutschland zurück, sondern blieb im schweizerischen Exil. Das war auch die Flucht vor der drohenden Verhaftung durch die Gestapo. Seine Familie wurde vom Pfarrernotbund finanziell unterstützt; er selbst arbeitete in Zürich bei einem Schweizer kirchlichen Flüchtlingshilfsdienst. Während der Kriegsjahre stand er in intensivem Briefkontakt zum Vater in Heidelberg.
Im November 1945 konnte Lehmann nach Deutschland zurückkehren; seine Frau war im Januar verstorben, der Sohn 1944 gefallen. Die Auseinandersetzungen über seinen Antrag vom Januar 1946, wieder in den Pfarrdienst in seiner Durlacher Gemeinde aufgenommen zu werden, verbunden mit seiner Rehabilitierung, zogen sich über zwei Jahre lang hin. Der Briefwechsel mit dem neuen Landesbischof Julius Bender ist überliefert. Im Rechtsstreit war Oberkirchenrat Otto Friedrich (1883–1978), seit 1924 bis 1958 Rechtsreferent der Landeskirche, Lehmanns Kontrahent. Das Verfahren zog weite Kreise; u.a. schalteten sich der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, der württembergische Landesbischof Theophil Wurm, die Theologen Karl Barth und Eduard Thurneysen, der Kreisdekan Hermann Maas und der Staatsrechtler Friedrich Smend ein, ebenso die Durlacher Kirchengemeinde und die Theologische Sozietät in Baden mit Pfarrer Egon Güß. Die Durlacher Pfarrstelle aber war längst besetzt, und die Kirchenleitung wollte Lehmanns Forderung nicht nachkommen und nicht erklären, dass er „aus kirchlich nicht zu rechtfertigenden Gründen“ sein Pfarramt verloren habe. Lehmann sah sich lediglich als ein Opfer der NS-Herrschaft. Die verweigerte Rehabilitation durch die Landeskirche erweckte dagegen den Anschein, „sein undiplomatisches Verhalten, sein renitentes Beharren auf Rechtsansprüchen und seine kirchlich-liberale und politisch links-demokratische Vergangenheit seien die eigentlichen Ursachen für sein Geschick“ gewesen (Marggraf, 2006, S. 78).
Im Januar 1948 willigte Lehmann schließlich ein, als Pfarrer an die Lutherkirche in Mannheim-Neckarstadt (West), einem ausgesprochenen Arbeiterstadtteil, berufen zu werden, wo Jahrzehnte vorher sein Vater Pfarrer gewesen war. Er trat die Stelle im April an, hatte sie bis zum Ruhestand 1959 inne und blieb auch danach in Mannheim.
Quellen: LKA Karlsruhe PA 4339. 7250–7252. 7253 (2 Sonderhefte). 8626 (4 Bde.), Personalakten; Nachlass Ernst u. Kurt Lehmann 150.041, Findbuch Sept. 2012 (vgl. Literatur, Löber, 2012); Ernst-u.-Kurt-Lehmann-Gedenkbibliothek in Mannheim; H. Rückleben, H. Erbacher, G. Schwinge (Hgg.), Die Ev. Landeskirche in Baden im Dritten Reich/ELBDR. Quellen zu ihrer Geschichte, Bd. I–VI, 1991–2005, hier Bd. VI, 429f. (mit Biogramm u. Register zu den Quellentexten).
Werke: Anthroposophie u. religiöse Erneuerung, Lic.-Arbeit, zu Rudolf Steiner, 1922; (unter dem Namen Lehmann-Issel) Theosophie nebst Anthroposophie u. Christengemeinschaft, 1927; Wissenschaftliche u. pneumatische Bibelauslegung. Eine Besinnung auf die Prinzipien d. Bibelauslegung als Aufgabe d. theol. Wissenschaft, Vortrag im Bad. Wiss. Predigerverein 1927, 1928; Der Glaube. Eine Untersuchung d. Grundlagen d. ev. Religiosität, 1928; Zur Wahl bereit? [zur Landessynodalwahl im Juli 1932], in: Süddt. Bll. für Kirche u. freies Christentum, 1932, Nr. 6, 46-49, abgedr. in: ELBDR Bd. I, 1991, 167-273; Gewissensfreiheit! – eine Erinnerung an die Aufgaben des Liberalismus, ebd., Nr. 10, 82f., abgedr. ebd. 320-324; In Christus geborgen. 2 Predigten, [ca. 1936].
Nachweis: Bildnachweise: LKA PA 4339; Marggraf 2006, 70 (vgl. Literatur).

Literatur: H. Rückleben, Die bad. Kirchenleitung u. ihre nichtarischen Mitarbeiter zur Zeit des Nationalsozialismus, in: ZGO 126, 1978, 371-407, hier: 393-403; E. Weber/F. Geyer, Pfarrer Lehmann, Stein des Anstoßes, in: Mitt. d. Ev. Landeskirche in Baden 1984, H. 5, 9-14; – E. Röhm u. J. Thierfelder, Vater u. Sohn Lehmann u. die bad. Landeskirche, in: dies., Juden, Christen, Deutsche, 1990, 240-254; E. Marggraf, Die Auseinandersetzung um die nichtarischen Pfarrer Kurt Lehmann u. seinen Vater Ernst Lehmann. Ein Beispiel über die Zeit des Dritten Reiches hinaus, in: G. Schwinge (Hg.), Die Ev. Landeskirche in Baden im Dritten Reich, ELBDR. Quellen zu ihrer Geschichte, Bd. IV, 2003, 445-457 bzw. 466 (eingel. u. annot. Quellentexte); ders., Kurt Lehmann (1892–1963), ein Verkünder des Evangeliums gegen den Nationalsozialismus u. eine taktierende Kirchenleitung, in: H.-G. Ulrichs (Hg.), Gottes Haus am Markt. Das Ev. Gemeindehaus Am Zwinger Karlsruhe-Durlach, 2006, 68-81; ders., Der Durlacher Pfarrer Kurt Lehmann (1892–1963). Eine Gemeinde u. ihr Pfarrer widerstehen den Nationalsozialisten, in: Durlach auf d. Suche nach Gerechtigkeit, hg. vom Freundeskreis Pfingstgaumuseum, Beiträge zur Gesch. Durlachs u. des Pfinzgaus 4, 2009, 101-127; ders., Schuld – Vergebung – Recht. Der Kampf des Pfarrers Kurt Lehmann um Schuldanerkennung d. bad. Landeskirche bei seiner Wiedereinsetzung nach 1945 [Abdruck u. Kommentar von je einem langen Brief Lehmanns vom 20.12.1946 u. des Landesbischofs Julius Bender vom 6.1.1947], in: U. Wennemuth (Hg.), Unterdrückung, Anpassung, Bekenntnis. Die ev. Kirche in Baden im Dritten Reich u. in d. Nachkriegszeit, Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in d. Ev. Landeskirche in Baden/VVKG Baden 63, 2009, 319-333; H. Löber u. U. Wennemuth, Die Nachlässe d. Pfarrer Ernst u. Kurt Lehmann sowie der Musikerin u. Dichterin Clara Faißt (1872–1948) im LKA Karlsruhe, in: Jb. für bad. Kirchen- u. Religionsgesch. 6, 2012, 321-339; E. Marggraf, Kurt Lehmann, in: Biograph.-Bibliograph. Kirchenlexikon, BBKL XXXIV, (2013 in Vorb.).
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