Steimle, Eugen Karl 

Geburtsdatum/-ort: 08.12.1909;  Neubulach
Sterbedatum/-ort: 06.10.1987;  Wilhelmsdorf
Beruf/Funktion:
  • SS-Standartenführer im Sicherheitsdienst und Gymnasiallehrer
Kurzbiografie:

1916–1929 Volksschule in Neubulach, ab 1920 Real- in Calw, ab 1926 Oberrealschule in Pforzheim bis Abitur

1929–1935 Studium: Geschichte, Deutsch, Französisch und Philosophie, in Tübingen bis 1931, im WS 1931/32 in Berlin, dann wieder in Tübingen bis Staatsexamen für das höhere Lehramt

1932 und 1933 Mitglied der NSDAP Nr. 1 075 555, Mitglied der SS Nr. 272 575

1936 Assessorenexamen; Leiter des Büros des Sicherheitsdienstes, SD, in Stuttgart

1936–1939 Stabsführer des SD-Unterabschnitts Württemberg

1939–1943 Stabsführer des SD-Leitabschnitts Stuttgart

1936–1945 Beförderungen vom Untersturmführer bis zum Standartenführer der SS

1941 Leiter des Sonderkommandos 7a der Einsatzgruppe B im Krieg gegen die Sowjetunion bei Smolensk

1942–1943 Leiter des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C bei Kursk

1943–1945 Abteilungsleiter der Gruppe VI B im Reichssicherheitshauptamt Berlin, zuständig für Italien, Frankreich, Belgien, Holland, Schweiz, Spanienund Portugal

1945 Gefangennahme in Oberbayern; französische und amerikanische Haft

1947–1948 Prozess in Nürnberg gegen die an den Einsatzgruppen Beteiligten; Haft im Gefängnis Landsberg/L.; Verurteilung zum Tode

1951 Umwandlung des Todesurteils in 20 Jahre Haftstrafe

1954 Haftentlassung auf Bewährung; Beschäftigung bei einer Aufzugsfirma in Stuttgart

1955–1973 Lehrer am evangelischen Gymnasium der Zieglerschen Anstalten in Wilhelmsdorf bei Ravensburg

Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet:

1936 Margarethe, geb. Häußler (1913–2003), römisch-katholisch, aus Hechingen


Eltern:

Vater: Hermann Friedrich (1870–1952), Landwirt und Milchhändler

Mutter: Anna Maria, geb. Merkle (1871–1940)


Geschwister:

7, davon 2 früh verst.; Hermann Friedrich (1900–1974), Luise Karoline (1902–1987), Ernst Wilhelm (1905–1968), Emma Maria (1907–1987) und Berta Klara (1915–2003)


Kinder:

3

GND-ID: GND/1012414612

Biografie: Martin Frieß (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 525-527

Steimle wuchs in einem von der pietistischen Liebenzeller Gemeinschaft geprägten Elternhaus auf. Nach dem Besuch der Volksschule in Neubulach, der Realschule in Calw und der Oberrealschule in Pforzheim legte er 1929 das Abitur ab. Mit Beginn seines Studiums in Tübingen trat er in die Burschenschaft Normannia ein. Bereits im WS 1931/32 in Berlin hatte sich Steimle für NS-Ideen begeistert. 1932 trat er in die NSDAP und den NS-Deutschen Studentenbund ein. Der Beitritt zur SA schloss sich an. Zu seinen Aufgaben im Studentenbund gehörte u. a. die Organisation von Hilfsaktionen für „volksdeutsche“ Studenten im Sudetenland.

Vom September 1933 bis Mai 1934 war Steimle Führer der Tübinger Studentenschaft und vom Studium freigestellt. Anschließend war er bis 1936 Gaustudentenführer von Württemberg-Hohenzollern. In Steimles Zulassungsarbeit zur II. Dienstprüfung zum Thema „Was versteht man heute unter politischer Erziehung?“ zeigt sich bereits deutlich, wie tief er das NS-Gedankengut verinnerlicht hatte: „Unser Ziel kann immer nur […] das deutsche Volk sein, dem wir ja dienen dürfen; […] und so bedeutet uns politische Erziehung die Forderung auf Mobilmachung aller physischen und geistigen Kräfte der deutschen Menschen, um Deutschland groß und stark zu machen“ (StA Ludwigsburg E 203 II, Bü 601).

Beim SD wollte Steimle dann innen- und außenpolitische Erfahrung sammeln. Sein Ziel war, positiv bei der Entwicklung des NS-Staates mitwirken zu können. Als Leiter von Sonderkommandos zweier Einsatzgruppen zu „Säuberungen“ in Russland war Steimle für die Ermordung mehrerer hundert Juden, Partisanen, anderer „politisch Verdächtigen“, Kommunisten, Roma, psychisch Kranker sowie geistig und körperlich Behinderter verantwortlich.

Danach ging Steimles Karriere im Reichssicherheitshauptamt in Berlin weiter. Anfangs war er mit dem Aufbau und der Führung des Auslandsgeheimdienstes der SS in Westeuropa betraut und für das deutsch-italienische Einflussgebiet in Europa, Afrika und im Nahen Osten zuständig. Ab August 1944 führte er noch die Abteilung Mil. B im Militärischen Amt des Reichssicherheitshauptamts, wo er auch für Spionage zuständig war. Sein Vorgesetzter Walter Schellenberg (1910–1952), beurteilte ihn bei Steimles Beförderung zum SS-Standartenführer, was einem Oberst beim Heer entspricht: „Er besitzt eine überdurchschnittliche geistige Veranlagung, ist in seinem Auftreten geschmeidig, in seinem Wesen diplomatisch (letzteres scheint aber mehr anerzogen als natürliche Veranlagung zu sein)“ und hebt auch die „jederzeit vorbildliche [NS-Weltanschauung und] stets fanatische gefestigte NS-Haltung und Lebensführung“ hervor (BA Berlin, Personalunterlagen Eugen Steimle).

Steimle hatte auch mit dem „Verkauf“ von 1 200 Juden an die Schweiz zu tun, der am 12. Januar 1945 beim Treffen von Heinrich Himmler (1900–1945) mit dem Schweizerischen Bundespräsidenten Jean Marie Musy (1876–1952) in Wildbad beschlossen wurde. Weitere Transporte waren verabredet, fanden aber nicht mehr statt.

1945 in Gefangenschaft geraten wurde Steimle wegen seiner Verstrickung in Vernichtungsmaßnahmen in der Sowjetunion in Nürnberg angeklagt. Er verstand es, sich geschickt zu verteidigen. Nur Sabotage, Plünderungen und Partisanentätigkeit habe er gemäß Kriegsrecht geahndet. Verantwortung für die unter seinem Kommando durchgeführten Exekutionen versuchte er auf Untergebene abzuwälzen. Von Staatsanwalt Benjamin Ferencz (geb. 1920) gefragt, wie viele Personen in der russischen Stadt Welikije Luki unter seiner Verantwortung ermordet worden seien, antwortete er „weniger als Tausend“ (Musmanno, 8. April 1948, S. 168).

Dank einer breiten Unterstützung der Öffentlichkeit im Nachkriegsdeutschland einschließlich der Parteien, im Fall Steimle ganz besonders der Kirchen sowie namhafter US-Innenpolitiker, gelang es, einen so großen Druck auf den neuen Hochkommissar John Jay McCloy (1895–1989) auszuüben, dass dieser 79 von 89 Kriegsverbrechern am 31. Januar 1951 begnadigte oder ihre Strafen minderte. Unter Anrechnung von Untersuchungshaft und bei guter Führung erfolgten auf die Urteilsminderungen Entlassungen von über 30 Gefangenen. Steimles Todesstrafe wurde in 20 Jahre Gefängnis umgewandelt. Genauere Gründe für die umstrittenste der Entscheidungen von McCloy sind nicht bekannt; in einer von seinem Büro herausgegebenen Broschüre wird lediglich angeführt: „Zum großen Teil ist das auf die Beibringung neuen und überzeugenden Beweismaterials zurückzuführen, das kürzlich verfügbar geworden ist“ (Landsberg. Ein dokumentar. Bericht, o. J. [1951]).

Nach nochmaliger Haftverkürzung konnte Steimle am 28. Juni 1954 das Landsberger Gefängnis auf Bewährung verlassen und zu seiner Familie zurückkehren. Sein Ziel war nun, eine „politische Unbedenklichkeitsbescheinigung“ zu erhalten, und in den staatlichen Schuldienst zurückzukehren. Im Gnadengesuch an Ministerpräsident Gebhard Müller beschrieb sich Steimle als jemand, der „zwar dem Nationalsozialismus aus jugendlichem, verirrten Herzen gedient [habe, aber] mit reinem Herzen“ (LKA Stuttgart, Altreg. Gen. 104 f., 1959–1966). Er habe keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, sondern solche in seinem Amtsbereich verhindert. Müller überzeugte er mit dieser Argumentation genauso wenig wie Kultusminister Wilhelm Simpfendörfer  mit einem späteren Gesuch.

Weniger kritisch war Heinrich Gutbrod, der Leiter des evangelischen Gymnasiums der Zieglerschen Anstalten Wilhelmsdorf, der Steimle als Geschichts-, Deutsch- und Französischlehrer an der Oberstufe einstellte. Steimles NS-Vergangenheit blieb dabei keineswegs unbekannt. Für viele seiner Schüler galt er dennoch als Autorität, war ein bewunderter Lehrer, dem es gelang, in ihnen Liebe zur Literatur zu wecken, besonders zu Goethe. Es wird aber auch berichtet, dass er zur Strenge neigte, ja zuweilen etwas Furcht Einflößendes verbreitete. Sein Umgang sei oft barsch gewesen, oft im Befehlston. Das trug dem Kettenraucher, der fast nie gelacht habe, den Beinamen „Barras“ ein. Steimle sei bis zum Schluss „ein alter Nazi“ geblieben, der unliebsame Schüler durchaus durch das Abitur habe fallen lassen (mündliche Berichte seiner Schüler an den Verfasser).

Schulleiter Gutbrod versuchte dennoch immer wieder, die Kirchenleitung, den Oberkirchenrat und den Landesbischof für eine Rehabilitation von Steimle zu gewinnen. Noch sein Nachruf auf Steimle ist voll von Lob: Steimle „konnte junge Menschen anleiten, motivieren und begeistern, er war von allen Seiten geschätzt“ (Wilhelmsdorfer Blätter Nr. 3/4, 1987, S. 45). Dem schloss sich bei Steimles Beerdigung auch der Wilhelmsdorfer Pfarrer an: „Auch dieses Leben war von der Barmherzigkeit Gottes geprägt! […] Verwickelt […] in den dunkelsten Abschnitt deutscher Geschichte kehrte er [Steimle] erst 1954 […] zurück. Von 1955 bis 1975 war er in Wilhelmsdorf ein hochgeschätzter Lehrer.“ (ebd. S. 43).

Diese eher einseitigen Sichtweisen ändern nichts daran, dass Steimle einen Eindruck tiefer Zwiespältigkeit, Ratlosigkeit, ja von Entsetzen hinterlassen hat, nicht nur bei seinen Schülern, und er war keineswegs der einzige ranghohe Nationalsozialist in der jungen Bundesrepublik, der nahezu unbehelligt leben, hier sogar: die Jugend lehren konnte.

Quellen:

UA Tübingen 364/27105 Studentenakte Eugen Steimle; BA Berlin, ehem. Berlin Document Center, Personalunterlagen Eugen Steimle; Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Volume IV, Nuernberg, October 1946 – April 1949, u.a. Vernehmungsprotokolle von Steimle; BA, Aussenstelle Ludwigsburg, B 162, Vernehmungsakten Eugen Steimle, 1960–1977; StA Ludwigsburg E 203 II, Bü 601, Zulassungsarbeit zur II. Dienstprüfung; BA Bern, E4320B#1973/17#1324*, Az. C.02–17052 Rechtsextreme Bewegungen, Steimle, Eugen.

Nachweis: Bildnachweise: Foto (1947), S. 521, Steimle als Häftling, US Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.

Literatur:

Michael A. Musmanno, UNDS.N.R., Miltiary Tribunal II, Case 9: Opinion and Judgement oft the Tribunal, 8. Apr. 1948; Landsberg. Ein dokumentarischer Bericht, hgg. von der Information Services Division, Office of the U.S. High Commissioner for Germany, o. J. [1951]; Rainer Lächele, Vom Reichssicherheitshauptamt in ein evabgelisches Gymnasium. Die Geschichte des Eugen Steimle, in: Das ev. Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau, hgg. von Rainer Lächele und Jörg Thierfelder, 1996, 261 ff.; 175 Jahre Wilhelmsdorf – FS – Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, 1999; Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, 2007, 599; Gymnasium Wilhelmsdorf (Hg.), 150 Jahre Gymnasium Wilhelmsdorf (früher Knabeninstitut), 2007, 16; Ausstellungskatalog „Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941–1944, hgg. von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und von der Stiftung Topographie des Terrors, 2016; Martin Frieß, Vom NS-Täter zum lehrenden „Barras“. Eugen Steimle und seine Wandlungen, in: Einst & Heute. Historisches Jahrbuch für den Lkr. Calw, hgg. vom Kreisgeschichtsverein Calw, 2017, 27–46.

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