Reinhardt, Anton 

Geburtsdatum/-ort: 10.06.1927;  (Dornhan-)Weiden
Sterbedatum/-ort: 31.03.1945;  bei Bad Rippoldsau
Beruf/Funktion:
  • Sinto, Verfolgter des NSRegimes
Kurzbiografie:

1941–1944 Volksschulabschluss in Waldshut, dann dort Hilfsarbeiter bei der Maschinenfirma „Mann“

1944 25.VIII Zwangsweise Einlieferung zur Sterilisation ins Krankenhaus Waldshut, von dort Flucht in die Schweiz und Einlieferung ins Bezirksgefängnis Zurzach

1944 8.IX Ausweisung aus der Schweiz ins deutsch besetzte Elsass; hier aufgegriffen und ins Schutzlager Schirmeck-Vorbruck deportiert

1945 III 4 Letzter Brief Reinhardts aus dem Lager Rotenfels/Gaggenau, wohin er nach Auflösung des Lagers Schirmeck-Vorbruck deportiert war

1945 III 30 Nach Deportation von Rotenfels ins Lager Sulz zunächst erfolgreiche Flucht, bald von einer Volkssturmeinheit bei Bad Rippoldsau aufgegriffen

1945 III 31 durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und nach schwerer Misshandlung erschossen

1959–1961 Verurteilung der Mörder Reinhardts Karl Hauger (1906–1985) und Franz Wipfler wegen „gemeinschaftlichen Totschlags“ zu 7 1/2 Jahren Zuchthaus bzw. 3 1/2 Jahren Haft durch das Schwurgericht Offenburg

1961 auf 7 bzw. 3 Jahre herabgesetzt durch das Landgericht Karlsruhe. Wipfler nach Verbüßen der U-Haft, Hauger zwei Monate nach dem neuerlichen Urteil auf Bewährung freigelassen

1999 Fernsehfilm „Ein einzelner Mord“ von Karl Fruchtmann (1915–2003) über Ermordung Reinhardts

2000 Reinhardt-Gedenkstein auf dem Friedhof Bad Rippolsau

Weitere Angaben zur Person: Religion: römisch-katholisch
Verheiratet:

unverheiratet


Eltern:

Vater: Ludwig (gest. 1933), Musiker

Mutter: Elvira, geb. Reinhardt, später verh. Bühler (geb. 1903)


Geschwister:

3 Schwestern


Kinder:

keine

GND-ID: GND/1012711951

Biografie: Michael Kitzing (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 432-435

Wie die jüdische Minderheit fielen auch Sinti und Roma unter die Nürnberger Rassegesetze von 1935 und waren vergleichbaren Gräueltaten ausgesetzt.

Seit der späten Mitte der 1930er Jahre bemühten sich der „Rasseforscher“ Robert Ritter (1901–1951) und Mitarbeiter um eine Erfassung aller Sinti und Roma. Ritter entwickelte Tabellen auf der Grundlage genealogischer Forschungen: „Ergebnisse über Nasenlänge, Ohrengröße, Kopfgröße etc. der deutschen Sinti und Roma“ (Udo Engbring-Romang, 2017, S. 59). Auf dieser Grundlage klassifizierte Ritter Sinti, Roma u. a. als „rassereine Zigeuner“ oder „Zigeunermischlinge“. Sämtliche Arbeiten Ritters zielten letztendlich auf eine „wissenschaftliche“ Unterfütterung, um an Sinti und Roma Sterilisationsmaßnahmen vorzunehmen.

Der zentrale Runderlass des Reichsführers SS vom 8. Dezember 1938 definierte dann als Ziel die „Bekämpfung der Zigeunerplage“ und stellte fest, die „Zigeunerfrage [müsse aus dem] Wesen dieser Rasse“ gelöst werden. Im Herbst 1939 folgte der sogenannte „Festsetzungserlass“, der Sinti und Roma die Freizügigkeit raubte. Ab 1940 wurden Sinti und Roma ins Generalgouvernement Warschau verschleppt und im Dezember 1942 befahl Heinrich Himmler (1900–1945) im „Auschwitzerlass“ Sinti und Roma in Konzentrationslager einzuweisen und dort zu töten. Ihre Deportationen nach Auschwitz begannen im März 1943.

Der in Waldshut aufgewachsene Reinhardt verlor seinen Vater bereits mit fünf Jahren, die Mutter ehelichte 1934 den Korbmacher Johann Bühler. Ab 1941 wohnte Reinhardt mit Mutter und Stiefvater im Barackenlager der Firma Lonza in Waldshut. Nach dem Abschluss der Volksschule war er als Hilfsarbeiter bei der Maschinenbaufabrik „Mann“ tätig, wo er zunächst von der Deportation verschont blieb. Als Sinto bereits ortsgebunden wurde er dann am 17. Juni 1944 zur Zwangssterilisation ins Krankenhaus Waldshut einbestellt. Weil er dem nicht folgte, wurde er am 25. August durch die Polizei ins Krankenhaus Waldshut gebracht. Falls er nicht bereit sei, die Unfruchtbarmachung durchführen zu lassen, wurde ihm mit Deportation ins Konzentrationslager gedroht.

Reinhardt gelang es, aus dem Waldshuter Krankenhaus zu fliehen. Er schwamm abends über den Rhein und betrat bei Koblenz im Aargau die Schweiz. Kurze Zeit später wurde er von der schweizerischen Grenzpolizei wegen „illegalen Grenzübertritts“ aufgegriffen und ins Bezirksgefängnis nach Zurzach eingeliefert. Im zweiten Verhör schilderte er die wahren Gründe seiner Flucht und wies darauf hin, dass mehrere seiner Verwandten bereits ins Konzentrationslager verschleppt worden seien. Von den Schweizer Behörden erhoffte er sich auch deshalb Unterstützung, weil seine Mutter in der Schweiz geboren war. Das Verhörprotokoll Reinhardts schließt mit seiner flehentlichen Bitte, in der Schweiz bleiben zu dürfen.

Die für Schweizer Behörden gültigen Richtlinien vom Juli 1944 legten zwar fest, dass Ausländer aufgenommen werden müssten, die aus politischen oder anderen Gründen verfolgt würden und deren Leben bedroht sei. Jedoch herrschten auch in der Schweiz schon vor 1933 Ressentiments, die wohl den Ausschlag für die Abschiebung Reinhardts gaben. Reinhardt wurde er am 8. September aus der Schweiz abgeschoben.

Immerhin konnte Reinhardt erreichen, dass er nicht unmittelbar deutschen Behörden übergeben wurde, sondern in der Nacht zum 9. September 1944 am Benkenspitz, südlich von Basel, in das deutsch besetzte Elsass ausgewiesen wurde. Hier verliert sich seine Spur zunächst, jedoch muss er nach kurzer Zeit festgenommen worden sein; denn er tauchte im Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck bei Straßburg wieder auf. Mit dem Näherrücken der alliierten Frontlinie wurde dieses Lager aufgelöst, Reinhardt kam ins Außenlager Rotenfels bei Gaggenau. Noch am 4. März 1945 hatte er aus diesem Lager seinen Eltern geschrieben, kurze Zeit später wurde er in ein Lager bei Sulz am Neckar abtransportiert, von wo aus ihm Mitte März erneut die Flucht gelang.

Am 30. März 1945 griff ihn dann eine Volkssturmeinheit als vermeintlichen Deserteur in der Nähe von Bad Rippoldsau auf. Auf Befehl des SS-Sturmbannführers Karl Hauger (1906–1985), dem „kleine[n], aber […] gefährliche[n] Hitler des Kreises Wolfach“ (M. Rappenecker, 2016, S. 173), wurde ein Standgericht eingesetzt, das Reinhardt „wegen Fahnenflucht“ zum Tode verurteilte. Das Urteil wurde vom Befehlshaber der Volkssturmeinheit, Franz Wipfler (geb. 1915), bestätigt.

Am 31. März 1945 wurde Reinhardt in der Nähe von Bad Rippoldsau in den Wald getrieben. Er musste erst sein Grab schaufeln, wurde dann schwer misshandelt und endlich per Genickschuss von Hauger ermordet. Die Leiche Reinhardts wurde im Sommer 1945 gefunden, als französische Offiziere auf der Suche nach toten Bomberpiloten waren, die nach ihrem Abschuss von der deutschen Bevölkerung gelyncht worden waren. Der Ortsgeistliche und die französischen Besatzungstruppen veranlassten die Umbettung des Leichnams auf den Friedhof Bad Rippoldsau.

Nach dem Ende des II. Weltkrieges gelang es Hauger zunächst unterzutauchen und an verschiedenen Orten unter falschem Namen zu leben. Da er u. a. auch an der Erschießung französischer Widerstandskämpfer beteiligt war, wurde er in Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Ein Jahr nach Inkrafttreten des Deutschlandvertrages lief dann das Recht der Franzosen aus, in deutsche Gerichtsverfahren einzugreifen. Haugers Anwalt sondierte 1956, ob sein Mandant an Frankreich ausgeliefert würde. Da dies nicht der Fall war, stellte sich Hauger 1957 der Justiz. Zwei Jahre später wurde ihm und Wipfler vor dem Schwurgericht in Offenburg der Prozess gemacht und beide wegen gemeinschaftlichen Todschlags verurteilt. Sie legten Rekurs ein und das Strafmaß wurde durch das Landgericht Karlsruhe im Sommer 1961 um jeweils ein halbes Jahr auf sieben und drei Jahre herabgesetzt. Im Falle Wipflers wurde die Untersuchungshaft angerechnet, so dass er gleich freikam. Haugers Strafe wurde im September 1961 zur Bewährung ausgesetzt.

Der Sinti und Roma und auch Reinhardts wurde jahrzehntelang nicht gedacht. Erst 1999 rekonstruierte Karl Fruchtmann im Fernsehfilm „Ein einzelner Mord“ das Schicksal Reinhardts, woraufhin ein Jahr später auf dem Friedhof von Bad Rippoldsau ein Gedenkstein aufgestellt wurde, der an den Mord an Reinhardt und die 500 000 getöteten Sinti und Roma während der NS-Diktatur erinnert.

Auch im 1997 errichteten Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg wird an Reinhardt erinnert und ein Abschiedsbrief Reinhardts, den er kurz vor seinem Tod verfasst hat, ist in der Dauerausstellung im Haus der Geschichte in Stuttgart zu lesen.

Quellen:

StA Freiburg F 179/ 6 Nr. 10–16, 119–123, Untersuchungsakten der Staatsanwaltschaft Offenburg im Verfahren gegen Karl Hauger und Franz Wipfler, F 196/1 Nr. 11111, Wiedergutmachungsakte Anton Reinhardt; Schweizerisches BundesA Bern E 4264 (-) 1985/ 196, 1072, u.a. Berichte der Station Koblenz an das kantonale Polizeikommando Aarau vom 25. und vom 29.8.1944, Abhörungsprotokoll vom 28.8. und 8.9.1944; Zentraler Runderlass vom 8.12.1938, in: Reichsministerialblatt für die innere Verwaltung (RMBliV) 1938, 2105–2110 und „Auschwitz-Erlass“ vom 16.12.1942 kommentiert und einsehbar auf: https://geschichtebewusst-sein.de/wp-content/uploads/2017/02/SNG_014_ RZ_Zusatz16–2017–02–23.pdf (eingesehen am 28.1.2019).

Nachweis: Bildnachweise: Foto (1944), einsehbar auf: http://www.sintiundroma.de/sinti-roma/ns-voelkermord/vernichtung/kriegsende/antonreinhardt.html (einges. am 28.1.2019).

Literatur:

Ulrich König, Sinti und Roma unter dem Nationalsozialismus. Verfolgung und Widerstand, 1989; Karl Fruchtmann, Ein einzelner Mord, Fernsehfilm Deutschland 1999; Thomas Huonker/Regula Ludi, Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, 2001; Ralf Bernd Herden, Anton Reinhardt zum Gedenken: Ein einzelner Mord …, in: Jahrbuch des Lkr. Freudenstadt 2002, 176; Anita Awosusi/AndreasPflock, Sinti und Roma im KZ Natzweiler-Struthoff, 2006; Manfred Dietenberger, Zum mahnenden Gedenken an Anton Reinhardt – Opfer grenzenlosen Rassenhasses, in: Land zwischen Hochrhein und Südschwarzwald, 2011, 108–117; Bernd Ralf Herden, Der Karsamstagsmord von 1945 in Bad Rippoldsau, in: Die Ortenau 92, 2012, 173–198; Frank Reuter, Zentrale Direktive und lokale Dynamik: Der NS-Völkermord an den deutschen Sinti und Roma, in: Reinhold Weber/Sibylle Thelen u.a. (Hgg.), Entrechtet – Verfolgt – Vernichtet. NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten 2016, 281–327; Monika Rappenecker (Hg.), Nazi-Terror gegen Jugendliche, 2016, bes. 172–177; Frank Reuter, Anton Reinhardt 1927–1995 und Oskar Rose 1906–1968 – Flucht und verweigerte Hilfe für Sinti und Roma, in: Reinhold Weber/Sibylle Thelen/ Angela Borgstedt (Hgg.), Mut bewiesen. Widerstandsbiographien aus dem Südwesten, 2017, 341–349; Udo Engbring-Romang, „Mit einer Rückkehr ist nicht mehr zu rechnen…“ Die Verfolgung der Sinti und Roma in Mannheim, 2017; http://gedenkorte.sintiundroma.de/index.php?ortID=4 (eingesehen am 26.1.2019); http://www.sintiundroma.de/sinti-roma/ns-voelkermord/vernichtung/kriegsende/anton-reinhardt.html (eingesehen am 26.1.2019).

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