Thorbecke, Paul 

Geburtsdatum/-ort: 10.06.1882;  Heidelberg
Sterbedatum/-ort: 27.08.1928; Oberstdorf/Allgäu
Beruf/Funktion:
  • Rechtsanwalt, Generalsekretär der Bad. Nationalliberalen Partei, Bürgermeister
Kurzbiografie: 1901–1905 Studium d. Rechtswissenschaften in Heidelberg u. Leipzig, I. jurist. Staatsexamen
1905–1909 Tätigkeit als Rechtspraktikant u. a. bei d. Stadtverwaltung Heidelberg u. beim Bezirksamt Kehl, II. jurist. Staatsexamen
1909 Rechtsanwalt in Karlsruhe
1909–1913 Generalsekretär d. Nationalliberalen Partei Badens
1912–1919 Bürgermeister von Singen am Hohentwiel
1919–1927 Rechtsanwalt in Konstanz
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1909 (Heidelberg ?) Klara, geb. Kall (1885–1972)
Eltern: Vater: Friedrich August (1839–1912), Philologe u. Historiker
Mutter: Bertha, geb. Moldenhauer (* 1843)
Geschwister: 3; Ella (* 1872), Franz (1875–1945) u. Kurt (* 1878)
Kinder: 5; Dorothea Anna (* 1912), Erika (* 1915), Lisbeth Christina (1922–1923), Franz Heinrich August (* 1923) u. Klara (* 1924)
GND-ID: GND/1016162499

Biografie: Michael Kitzing (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 400-403

Thorbeckes Vater war Privatdozent für Geschichte an der Heidelberger Universität und ist zudem als Gründer und erster Leiter der Höheren Mädchenschule Heidelbergs und des daraus erwachsenen Lehrerinnenseminars hervorgetreten.
Bereits während seines Jurastudiums in Heidelberg und Leipzig hat sich Thorbecke mit der bad. Geschichte und insbesondere der Geschichte des bad. Liberalismus zwischen Vormärz und Reichsgründung auseinandergesetzt und einige kleinere wissenschaftliche Arbeiten, u. a. zu Friedrich Daniel Bassermann, veröffentlicht.
Nach der I. juristischen Examen war Thorbecke in den Jahren 1905 bis 1909 als Rechtspraktikant u. a. bei der Stadtverwaltung Heidelberg und beim Bezirksamt in Kehl tätig und nach dem II. Staatsexamen 1909 hat er sich als Anwalt in Karlsruhe niedergelassen und zugleich die Leitung des neu geschaffenen Generalsekretariats der bad. Nationalliberalen übernommen, was fraglos bedeutender war.
Die Nationalliberalen hatten seit den 1860er Jahren den Kurs der bad. Politik maßgeblich geprägt, waren jedoch nach der Gründung der Bad. Zentrumspartei 1888 durch Theodor Wacker (➝ II 294) und dem Aufkommen der Sozialdemokraten gegen Ende des Jahrhunderts, je länger desto mehr, in die Defensive geraten. 1893 ging die über viele Jahrzehnte als selbstverständlich angesehene absolute Mehrheit in der II. Kammer der bad. Landstände verloren, 1904 mussten die Nationalliberalen auf Druck von Zentrum, SPD und der linksliberalen Gruppen in die Verabschiedung einer Wahlrechtsreform einwilligen. Deren Kernstück war die Einführung des direkten Wahlrechts, was für die Nationalliberalen schwerwiegende Folgen hatte: so war es den Nationalliberalen nicht mehr möglich, mit Hilfe der ihnen nahestehenden Beamten die Wahlmänner bei der Abgeordnetenwahl zu beeinflussen. Zudem war ein politischer Massenmarkt entstanden, mit dem sich die NLP angesichts ihrer schwachen organisatorischen Grundlage recht schwer tat. Im Gegenzug gelang es der Zentrumspartei, die auf die Unterstützung des kath. Vereinswesens zählen konnte, und der SPD, der die Unterstützung von Gewerkschaften und Arbeitervereinen sicher war, weitaus besser als den Nationalliberalen, ihre Wähler- und Anhängerschaft zu organisieren und schließlich bei Wahlen für sich einzunehmen. Im Ergebnis führte dies zu schweren Niederlagen der Nationalliberalen bei den Landtagswahlen 1905 und 1909. Beide Male konnte die absolute Mehrheit von Zentrum und Konservativen nur durch die Bildung des sogenannten „Großblockes“, eines Wahlkampfabkommens von Nationalliberalen, SPD, Demokraten und Freisinn, verhindert werden.
Dem Generalsekretär Thorbecke kam die Aufgabe zu, das organisatorische Defizit seiner Partei zu beseitigen und ihr für die kommenden Reichs- und Landtagswahlen zu einer schlagkräftigen Organisation zu verhelfen. Am Beginn seiner Tätigkeit musste sich Thorbecke zunächst einen Überblick über den Organisationsgrad seiner Partei verschaffen, weshalb er an alle ihm bekannten Orts- und Bezirksvereine einen Fragebogen sandte, mit dessen Hilfe die Namen der örtlichen Parteivorstände ermittelt werden sollten. Auch galt es herauszufinden, inwieweit die einzelnen Ortsvereine Vertrauensmänner und Redner aufwiesen, die zu bestimmten Politikfeldern kompetent erschienen und sich bereiterklärten, auf Wahlkampfveranstaltungen außerhalb des eigenen Amtsbezirks aufzutreten. Die Ergebnisse der Fragebogenaktion wurden von Thorbecke in einer zentralen Kartothek und in einem Kartenregister erfasst.
Hauptaufgabe Thorbeckes war es vor allem, die Ortsvereine zu einer kontinuierlichen politischen Tagesarbeit anzuleiten, denn der Fehler der Nationalliberalen war es über lange Zeit gewesen, dass ihre Organisation nur im Vorfeld von Reichs- oder Landtagswahlen zusammengetreten oder aktiv geworden war. So bemühte sich der Generalsekretär um eine fortlaufende Korrespondenz mit den einzelnen Ortsvereinen, gab Anregungen für Veranstaltungen und vermittelte mit Hilfe des Kartenregisters und der Kartothek Redner oder trat selbst bei Orts- oder Bezirksvereinen als Redner auf. Auch organisierte das Generalsekretariat in Karlsruhe jährlich Rhetorikkurse, ebenso wie im ersten Amtsjahr Thorbeckes über 500 000 Flugblätter mit Agitationsmaterial an die Orts- und Bezirksvereine versandt wurden. Schließlich rief Thorbecke die Land- und Reichstagsabgeordneten seiner Partei zu einer intensiven und kontinuierlichen Präsenz und Arbeit in ihren Wahlkreisen auf.
Die Arbeit Thorbeckes war insgesamt erfolgreich, er konnte die Aktivität der liberalen Orts- und Bezirksvereine wiederbeleben und die Zahl der Vereine zwischen 1909 und 1913 von 135 auf 247 vermehren. Gleichzeitig war auch ein außerordentlicher Mitgliederzuwachs zu verzeichnen. Im Jahr 1911 zählte die NLP über 30 362 Mitglieder, im darauf folgenden Jahr waren es über 33 320, knapp 12 000 Mitglieder mehr als die bad. SPD zählte.
Zuletzt hat sich Thorbecke einer umfangreichen Strukturreform der Landespartei zugewandt. Auf seine Anregung wurde in Karlsruhe eine Landesgeschäftsstelle gegründet, die mit Organisations- und Agitationsfragen betraut war und der auch der Schriftenvertrieb sowie die Koordinierung der Pressearbeit im Großherzogtum Baden zukam. Nur kurze Zeit nach Thorbeckes Ausscheiden im Jahr 1913 wurden drei weitere Geschäftsstellen in St. Georgen, Freiburg und Mannheim gegründet. Die Parteileitung folgte auch einer Anregung Thorbeckes und fasste 1910 die Satzung neu, womit der Generalsekretär das Ziel verfolgt hatte, für eine effektivere Koordination der Wahlkämpfe auch eine Organisation der Nationalliberalen Partei für Reichs- und Landtagswahlkreise zu schaffen; bisher hatten neben der Landespartei nur Organisationen auf lokaler bzw. der Ebene der Amtsbezirke bestanden.
Eine weitere wichtige Aufgabe Thorbeckes bildete die Koordination der Parteipresse: Zwar gab es knapp 60 nationalliberale Presseorgane in Baden, doch stand lediglich die „Bad. Landeszeitung“ im unmittelbaren Besitz der Partei. Bei den anderen Organen handelte es sich um Zeitungen, deren Verleger und Redakteure sich zwar als prinzipiell liberal verstanden, aber gleichwohl für sich die Freiheit in Anspruch nahmen, in politischen Tagesfragen ihren eigenen Standpunkt zu vertreten, der durchaus erheblich von dem der Partei abweichen konnte. Vor allem schien die Versorgung vieler dieser Organe mit Informationsmaterial durch die Landesparteileitung sehr verbesserungsbedürftig. Um dem entgegenzuwirken, gründete Thorbecke die „Bad. Nationalliberale Korrespondenz“, BNC, die während Landtagssitzungen täglich erschien und Artikel, Stimmungsberichte aus den Sitzungen sowie parteiinterne Informationen enthielt. Ziel der BNC war es, eine einheitliche Ausrichtung der nationalliberalen Presse zu erreichen. Gleichwohl ist dieses Vorhaben nur bedingt gelungen; denn nur wenige liberale Zeitungen waren bereit, die Herausgabe der BNC finanziell zu unterstützen. Zudem wurde von vielen Zeitungen die Herausgabe der BNC als ein „unberechtigter Versuch einer Bevormundung der Redaktion durch das Parteisekretariat angesehen, der sich eine unabhängige Redaktion nicht unterwerfen darf“ (BNC vom 13. 4. 1910).
Thorbecke bemühte sich auch, möglichst breite Schichten für seine Partei zu gewinnen. Es kam während seiner Amtszeit zur Bildung von vier Partei-Sonderausschüssen, die sich an unterschiedliche Berufs- und Wirtschaftskreise wandten: ein Ausschuss für Landwirtschaft, einer für Industrie- und Handelsfragen, einer zu Fragen der Kommunalpolitik und schließlich ein Ausschuss zur Arbeiterfrage, mit dessen Hilfe Thorbecke mehr Arbeiter für die NLP zu gewinnen suchte. Vertrauensmänner der Nationalliberalen sollten in möglichst jedem Betrieb wirken; auch Bildungskurse für Arbeiter wurden abgehalten und Agitationsbroschüren veröffentlicht, die sich an Arbeiter wandten. Ein ständiges Anliegen Thorbeckes wie seines Nachfolgers war es schließlich, eine solide finanzielle Grundlage für die Partei zu schaffen. Dieses Ziel jedoch wurde verfehlt.
Das Amt des Generalsekretärs der NLP hat Thorbecke am 1. Februar 1913 aufgegeben, nachdem er bereits im Dezember 1912 als Kandidat des Großblockes zum Bürgermeister der Stadt Singen gewählt worden war. In dieser Funktion musste Thorbecke sich insbesondere mit dem schon chronischen Problem der Wohnungsnot in der schnell wachsenden Industriestadt auseinandersetzen. Seine Wirkungsmöglichkeiten im neuen Amt waren begrenzt, da bereits anderthalb Jahre später der I. Weltkrieg ausbrach. Höhepunkte seiner Tätigkeit als Bürgermeister bildeten im Februar 1913 der erste Singener Flugtag sowie im November desselben Jahres die Eröffnung der Randenbahn von Singen über Beuren nach Büßlingen – ein Projekt, in das die Stadt Singen maßgeblich investiert hatte. Investitionen plante die Stadt auch für eine Erweiterung des Bahnhofes, und 1913 konnte ein neuer Schlachthof gebaut werden.
Vor organisatorische Herausforderungen sah sich der Bürgermeister mit dem Beginn des I. Weltkrieges gestellt. Singen war Durchgangslager für deutsche Zivilinternierte, die aus Frankreich und Italien über die neutrale Schweiz in ihre Heimat zurückkehrten. Außerdem fanden sich in Singen auch französische und italienische Zivilinternierte ein, die während des Krieges über die Schweiz an ihre Heimatländer zurückkehren sollten. Zudem war Singen Lazarettstadt, in der u. a. Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) gewirkt hat. Auf sozialpolitischem Sektor richtete Thorbecke auf der Grundlage des Hilfsdienstgesetzes einen kommunalen Arbeitsnachweis und ein Wohnungsamt ein. Zudem kam dem Bürgermeister die schwierige Aufgabe zu, die Milch- und Lebensmittelversorgung der Stadt zu gewährleisten. Wenn auch in Singen wie andernorts Versorgungsprobleme aufkamen, so erlebte die Stadt gleichwohl eine nennenswerte Kriegskonjunktur, was im Gemeinderat zu hochgesteckten Planungen führte, insbesondere sollte der Hochrhein kanalisiert und Singen durch einen Stichkanal mit dem Fluss verbunden werden.
War es schon während des Krieges kaum zu Spannungen gekommen, so lief auch die Revolution des Jahres 1918 in Singen unspektakulär ab. Thorbecke sah seine Aufgabe vor allem darin, die Preise für Lebensmittel stabil zu halten und die Versorgung der Bevölkerung wie auch allgemein Ruhe und Ordnung zu garantieren. 1919 ist Thorbecke als Bürgermeister zurückgetreten, wofür die gewandelten Mehrheitsverhältnisse im Gemeinderat ausschlaggebend gewesen sein dürften.
Über die letzten Lebensjahre Thorbeckes fällt ein Schatten: Zunächst war er bis 1927 in Konstanz als Rechtsanwalt tätig, wurde dann jedoch wegen wiederholter Veruntreuung von Mandantengeldern aus der Bad. Rechtsanwaltskammer ausgeschlossen. Im darauf folgenden Jahr ist Thorbecke in Oberstdorf verstorben.
Quellen: GLA Karlsruhe 69 P 36/1–250 NLP Baden; StadtA Singen IV. 2/22-f, Lebenslauf Thorbeckes.
Werke: (Hg. mit Adolph Roth) Die bad. Landstände, insbesondere die II. Kammer: Landtagshandbuch, 1907; Die bad. Jungliberalen, 1908; Aus Deutschlands Sturm- u. Drangperiode. Bilder in Briefen an Gervinus, Mathy u. Fr. D. Bassermann, in: Dt. Revue 34, 2, 1909, 92–105 u. 208–225; Zentrum u. Sozialdemokratie in Baden, 1911; Vorschläge zur Neugestaltung d. Gemeindeordnung, in: Zs. für bad. Verwaltung u. Verwaltungsrechtspflege 50, 1918, 17–22; Die neue bad. Gemeindeordnung u. die mittleren Städte Badens, ebd. 52, 1920, 42–44, 53–61.
Nachweis: Bildnachweise: Kappes, 1994, 168, Porträt Thorbeckes (vgl. Literatur).

Literatur: Chronik d. Stadt Heidelberg für das Jahr 1912, 1915 (zu Leben u. Wirken von August Thorbecke); Thurgauer Volksfreund vom 17.12.1927 (zum Ausschluss Thorbeckes aus d. bad. Rechtsanwaltskammer); Jürgen Thiel, Die Großblockpolitik d. nationalliberalen Partei Badens 1905 bis 1914, 1976; Paul Rothmund, Kampf um die Macht – Die Blockpolitik in Baden, in: ders./Erhard R. Wiehn (Hgg.), Die F.D.P./DVP in B-W u. ihre Geschichte, 1979, 116–130; Fred Ludwig Sepaintner, Die Bad. Presse im Kaiserreich – Spiegelbild d. Parteienverhältnisse vor dem I. Weltkrieg, in: ZGO 128, 1980, 403–413; ders., Die Reichstagswahlen im Großherzogtum Baden, 1982; Alfred G. Frei (Hg.), Habermus u. Suppenwürze, 1987; Gert Zang, Die Sozialdemokraten ziehen mit Hilfe d. Liberalen in den Bürgerausschuss u. den Gemeinderat ein, in: Gert Zang (Hg), Arbeiterleben in einer Randregion, 1987, 104–111; ders., Die Diskussion über die Zukunftsperspektiven d. Stadt im Jahr 1917: Das unmerkliche Hinübergleiten in die Weimarer Zeit, ebd., 119–125; Beate Ehrismann, Der regierende Liberalismus in d. Defensive, 1993; Reinhard Brosig, Singen im I. Weltkrieg, in: Herbert Berner/Reinhard Brosig (Hgg.), Singener Stadtgeschichte Bd. 3, 1994, 43–54; Reinhild Kappes, Singener Bürgermeister u. Ehrenbürger von 1899 bis heute, ebd., 167–202; Mark Willock, Die Nationalliberale in Baden 1905–1913, in: Jahrb. d. Hambach Gesellschaft 9, 2001, 71–188; Frank Engehausen, Kleine Geschichte des Großherzogtums Baden 1806–1918, 2005.
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