Gmelin, Paul Ludwig Christoph 

Geburtsdatum/-ort: 08.10.1885;  Pinache, heute: Enzkreis
Sterbedatum/-ort: 23.09.1967;  Mannheim
Beruf/Funktion:
  • Physiker
Kurzbiografie: 1904 VII. Abschluss des Dillmann-Realgymnasiums in Stuttgart
1904–1909 Studium d. Mathematik u. d. Naturwissenschaften an d. TH Stuttgart, WS 1904/05–SS 1905, u. an d. Univ. Tübingen, WS 1905/06–SS 1909
1908 XII. 18 Promotion magna cum laude: „Der Zeemaneffekt einiger Quecksilberlinien in schwachen Magnetfeldern. Absolut gemessen“
1907 X.–1910 XI. Assistent am Physikalischen Institut, auf Antrag von Professor Paschen, WS 1907/08–SS 1908 u. WS 1909/10, als Hilfsassistent; Apr. bis Nov. 1910 als II. Assistent; für zwei Semester unterbrochen wegen Promotion u. Staatsexamen
1910 XII. 1 Eintritt bei d. BASF als wiss. Mitarbeiter des Physikalischen Laboratoriums
1914 I. Leiter d. Abteilung d. Betriebskontrolle u. des physikal.-techn. Labors, Werk Oppau
1914 V. Umzug nach Mannheim
1930 VI. Hauptversammlung des Vereins Dt. Chemiker, Vortrag: „Physikalische Technik in d. anorgan. chemischen Technik“
1937 IX. 13. Tagung Dt. Physiker, Vortrag: „Physikal. Messverfahren in chemischen Betrieben“
1947 I. 1 Pensionierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: (1914) (Mannheim) Elisabeth, geb. Seuffer (1983–1972)
Eltern: Vater: Ludwig Eugen (1851–1929), Pfarrer
Mutter: Pauline Karoline Julie, geb. Fueß (1854–1953)
Geschwister: 2; Irmela Julie Martha (1887–1974) u. Elisabeth Johanna Maria (1889–1978)
Kinder: 2;
Waltraut, verh. Reichle (1915–1991), Musiklehrerin,
Wolfgang (1918–1989), Dr. med., Medizinoberrat
GND-ID: GND/1047263106

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 118-120

Gmelin war sehr stolz auf seine alte, weitverzweigte Familie, über deren Geschichte er 1938 bis 1940 drei Aufsätze verfasste: einen kurzen Essay über seinen Großvater Paul Albrecht Ferdinand (1822–1875), Apotheker in Rottenburg, Dozent in pharmazeutischer Botanik an der TH Stuttgart, Chemiker und Teilhaber der Mineralölraffinerie Zeller&Gmelin, ein rührendes Porträt seines Vaters, des evangelischen Pfarrers Eugen, wie auch seine eigene kurze Lebensbeschreibung.
Gmelins Vater hatte ab 1877 als Pfarrer gewirkt. Er war ein mannigfaltig begabter Mensch, u.a. leidenschaftlicher Imker, guter Musiker sowie Restaurator der baufälligen Kirchen der drei Gemeinden seines Sprengels. Obwohl seine Frau zwei Totgeburten hatte, wurde der einzige Sohn nie durch die Eltern verwöhnt. Besonders der Vater förderte seinen Fleiß, die Gewissenhaftigkeit und Anständigkeit, aber auch Liebe zur Musik und Natur sowie die Neigung zum Basteln. Diese Eigenschaften bestimmten letztendlich Gmelins beruflichen Weg.
Gmelin wurde im ersten Dienstort seines Vaters geboren. 1888 wurde der Familienvater nach Hegenlohe, heute: Lichtenwald, versetzt, wo Gmelin von 1892 bis 1895 die Volksschule besuchte. Danach unterrichtete ihn sein Vater zwei Jahre lang in den einleitenden Gymnasialfächern Deutsch, Latein und Mathematik. Mit zwölf Jahren kam Gmelin in die Lateinschule in Göppingen, blieb dort aber nur ein Jahr. 1898 wurde der Vater nach Gärtringen versetzt. Gmelin setzte seine Schulzeit zuerst im Reallyzeum in Böblingen fort, dann bis zum Abitur im Sommer 1904 im Realgymnasium Stuttgart.
Anschließend begann Gmelin Mathematik und Naturwissenschaften, hauptsächlich Physik, an der TH Stuttgart zu studieren. Nach zwei Semestern wechselte er an die Universität Tübingen, wo er die gleichen Fächer weiterstudierte. Den Mathematikprofessor Alexander Brill, an dessen Hauskonzerten sich Gmelin beteiligte, nannte er später seinen „verehrten Lehrer“. Außerdem hörte Gmelin anfangs auch Vorlesungen über Philosophie, Musik und sogar Anatomie. Ab 1906, „meiner bastlerischen Neigung folgend“, wie er später formulierte, wandte er sich ausschließlich der Experimentalphysik zu.
Den Lehrstuhl der Physik und das Physikalische Institut leitete damals Friedrich Paschen, ein hervorragender Experimentalphysiker und außerordentlich anspruchsvoller Lehrer. In dessen Praktikum und dem seiner Assistenten fand Gmelins physikalische Ausbildung statt. Wer sich der Physik widmen wollte, belegte diese Veranstaltung mehrere Semester lang. Bald wurde Gmelin an bessere Apparate gesetzt, bekam von Paschen Sonderdrucke und Monographien zum Studieren und wurde so gefördert. Paschen bestellte den fleißigen und begabten Studenten schon nach drei Semestern zum Hilfsassistenten in sein Institut in der Gmelin-Straße (!). Hier fertigte Gmelin, zusammen mit dem 1. Assistenten, außerordentlicher Professor Richard Gans (1880–1954), seine erste umfangreiche wissenschaftliche Arbeit über die Präzisionsmessung starker magnetischer Felder.
1907 bis 1908 stellte Gmelin „sehr sorgfältig durchgeführte Messungen mit für die Physik wertvollen Resultaten und sogar einer interessanten und wichtigen Entdeckung“ an, wie Paschen gutachtete. Daraus wurde Gmelins Dissertation. Es handelte sich um bestimmte Aspekte des Zeemaneffekts, d.h. der Aufspaltung der Spektrallinien in magnetischen Feldern. Paschen bewertete Gmelins Dissertation mit „gut“ und ließ ihn als Assistent weiter arbeiten. Zuvor aber sollte er eine Pause einlegen und sich auf sein Staatsexamen, das er 1909 ablegte, für das Lehramt vorbereiten. Danach war Gmelin vom Herbst an wieder am Physikalischen Institut tätig, ab April 1910 als 2. Assistent. Diese Stelle hatte Paschen für ihn beantragt.
Die Zeit in Tübingen war entscheidend für Gmelins Entwicklung zum Spezialisten. Außer einer sehr gründlichen allgemeinen Ausbildung in Physik wuchs seine Kenntnis über präzise physikalische Messungen. Der Messtechnik widmete er dann seine ganze Arbeit. Ende November 1910 wurde Gmelin auf eigenen Wunsch entlassen, um eine Stelle in der Industrie anzutreten. Einerseits wollte er so seine finanziellen Verhältnisse aufbessern, vielleicht fiel ihm die Arbeit unter dem autoritären Chef aber auch nicht leicht. Dennoch blieb Gmelin für die Schulung durch Paschen immer dankbar; 15 Jahre später betonte er in der Festschrift zu dessen 60. Geburtstag, dass er „ein gut Teil der Erfahrungen“, die zur Durchführung von Methoden der Messtechnik in der chemischen Industrie notwendig sind, seinem „hochverehrten Lehrer“ verdanke.
Ab Dezember 1910 trat Gmelin in die BASF in Ludwigshafen ein, wo er sein ganzes weiteres Berufsleben verbrachte. Im Jahr zuvor war das Physikalische Laboratorium der BASF unter der Leitung von Professor Jonathan Zenneck (1871–1959) eingerichtet worden. Dort begann Gmelins Arbeit. Hauptaufgaben des Laboratoriums waren die Weiterentwicklung eines Ofens zur Herstellung von Stickstoffoxid aus Luft in einer elektrischen Entladung sowie die Entwicklung der Messtechnik zur Beurteilung des Arbeitsgangs und der Leistung des Ofens. Obwohl diese Arbeit sich erfolgreich entwickelte, sollte sie bald abgebrochen werden, weil der Energieaufwand zu hoch, das Verfahren unrentabel war.
Im Herbst 1911 schied Zenneck aus der BASF aus; das Physikalische Laboratorium geriet zum Fremdkörper in der Säureabteilung. Die Physiker, so Zenneck, wurden „von den Chemikern […] mit unverhohlenem Misstrauen, wie etwa Fasanen, die auf einen Hühnerhof geraten sind, betrachtet“. Gmelin aber hatte das Glück, eine Aufgabe aus dem Bereich der Ammoniakabteilung zu erhalten. 1909 war unter der Leitung von Carl Bosch in der BASF die Arbeit an der industriellen Ammoniaksynthese begonnen worden. 1912 wurde die Ammoniakfabrik in Oppau gebaut. Bosch erkannte den dringenden Bedarf neuer Kontrollmethoden, Gmelins Fähigkeiten und Kenntnisse waren gefragt.
Zuerst musste die Kontrolle der Zusammensetzung von Gasgemischen gelöst werden und er fand schnell eine scharfsinnige und effektive Lösung: eine akustische Methode ohne Nutzung chemischer Reaktionen, die rasch verwirklicht und sofort als Patent angemeldet werden konnte. Auf Anregung Boschs verbesserte Gmelin diesen Ansatz durch ein selbsttätig registrierendes Gerät, den „BASF-Dichteschreiber“ zur Registrierung der Zusammensetzung von Gasgemischen. Daraufhin schlug Bosch Gmelin vor, eine Abteilung für „Betriebskontrolle“ in Oppau zu organisieren und zu leiten. Mit dieser Aufgabe aber gingen menschliche Probleme einher: Für die Wissenschaftler war Gmelin einfach der „Messknecht“ und für die meisten bedeutete „Betriebskontrolle“ Überwachung, was „ominös“ (Krönert) schien. Wie Gmelin später berichtete, wurde er „zunächst als Judas angesehen“. Er fand aber in dieser schwierigen Anfangsphase große Unterstützung beim Hauptingenieur des Werks Oppau, Franz Lappe (1878–1950).
Gmelin baute seine Abteilung aus, immer frei nach dem Motto Galileis: „Alles zu messen, was messbar ist, und versuchen, messbar zu machen, was es noch nicht ist“. Die automatische Registrierung von Dichte und Zusammensetzung von Gasgemischen, ihr Druck und ihre Temperatur bildeten erste Ergebnisse. Nach der Konstruktion des richtigen Dampfmessers wurde es möglich, die Fahrweise der Wassergasgeneratoren grundlegend zu verbessern, insbesondere mit etwa 40 Prozent des zuvor benötigten Dampfes auszukommen. Dann wurden Dosierungsgeräte entwickelt, vor allem aber für Sicherheitstechnik notwendige Geräte: die Anzeige von 0,01 Prozent Kohlenoxid in Luft und das Alarmsignal bei 0,1 Prozent, durchweg beispielgebende Leistungen der Abteilung Gmelins, die allmählich Anerkennung einbrachten. Immer „feinfühligere Meßmethoden aus Gebieten der Physik“ (Gmelin, 1940) wurden realisiert, z.B. die Infrarotspektroskopie. Gmelin begriff, dass man sich mit einer eigenen physikalischen Werkstätte rasch selbst helfen konnte, wo Fachfirmen aus technischen oder organisatorischen Gründen zumindest mehr Zeit brauchten, wenn nicht versagten. Unterstützt von Bosch und Lappe konnte Gmelin solch eine Werkstätte einrichten. Später wurde etwa ein Drittel der in der Firma benutzten Messgeräte in Oppau entwickelt, ein Viertel davon sogar dort gefertigt.
Gmelins Ansatz bedeutete zähes, jahrelanges Arbeiten. Eine Fülle von Aufgaben konnte er lösen und für den Nachwuchs an Physikern und Ingenieuren in seiner Abteilung sorgen. Gegen 1930 leitete Gmelin in Oppau insgesamt über 400 Mitarbeiter. Bereits 1917 hatte er sein Betriebskontrollsystem auf das Tochterwerk in Leuna ausgeweitet. Die Vereinigung mehrerer chemischer Firmen zur IG Farbenindustrie 1925 verlangte von Gmelin noch mehr Einsatz, um die Betriebskontrolle in anderen chemischen Werken einzuführen: nach einem Jahrzehnt waren es insgesamt 35 Betriebskontroll-Abteilungen in Werken der IG Farben.
Dreimal, im Juni 1930, im September 1937 und im Juni 1940, fasste Gmelin seine Erkenntnisse in Vorträgen über die Messtechnik in der chemischen Industrie zusammen. Letztlich gelang es seiner systematischen Werbungs- und Aufklärungsarbeit und den Erfolgen in konkreten Verfahren, dass die Betriebskontrolle sich als „Sondergebiet aus dem Chemie-Ingenieur-Wesen“ (Gmelin, 1940) etablierte. Ende 1946 ließ sich Gmelin gesundheitsbedingt pensionieren. Fünf Jahre lang wohnte er dann im nicht kriegszerstörten Heidelberg, wo er eine Zweitwohnung hatte, 1951 kehrte er nach Mannheim zurück. Er verfasste noch einen Aufsatz für das Handbuch der Betriebskontrolle, das sein ehemaliger Mitarbeiter Josef Krönert (1891–1961) herausgab. In Übrigen genoss er seinen Ruhestand mit Lesen und Musizieren.
Gmelin ist also der Begründer der physikalischen Betriebskontrolle in der chemischen Industrie, dessen Tätigkeit ihren Niederschlag in zahlreichen Patenten fand. Sein literarisches Erbe dagegen ist nicht umfangreich; denn die BASF und später die IG Farben waren recht zurückhaltend mit Publikationsgenehmigungen. Mit Ausnahme der in Tübingen durchgeführten Arbeiten sind Gmelins Veröffentlichungen alle der Messtechnik in der chemischen Industrie gewidmet und hauptsächlich Übersichtsartikel und Aufsätze in Handbüchern, die aber Standardwerke ihrer Zeit waren.
Quellen: UA Stuttgart 10/9 u. 10/10, Studentenverzeichnisse für WS 1904/05 u. SS 1905; UA Tübingen 136/30, Promotionsakte Gmelin, u. Auskunft vom 3.3.2010; UnternehmensA d. BASF Ludwigshafen W 1, Gmelin, Auskünfte vom 1.3.2010; StadtA Mannheim, Meldekartei u. Auskunft vom 15.3.2010; Materialien des Familien-Verbands Gmelin e.V., Tübingen; Landeskirchliches A Stuttgart, Auskunft vom 17.3.2010; Auszüge aus dem Eheregister d. Gde. Lichtenwald, Auskunft vom 23.3.2010; Standesamt Wiernsheim, Familien Register d. Familie Eugen Gmelin u. Geburtseintrag Paul Gmelin, Auskunft vom 23.3.2010; Standesamt Mannheim, Auskunft vom 17.3.2010; StadtA Heidelberg, Auskunft vom 15.4.2008.
Werke: Über die unsymmetrische Zerlegung d. gelben Quecksilberlinie 5790 im magnetischen Felde, in: Physikalische Zs. 9, 1908, 212-214; (mit R. Gans) Die Präzisionsmessung starker magnetischer Felder, Étalons d. magnetischen Feldstärke, in: Annalen d. Physik 28, 1909, 925-973; Der Zeemaneffekt einiger Quecksilberlinien in schwachen Magnetfeldern. Absolut gemessen, ebd., 1079-1087; Eindeutige Bestimmung von Wellenlängendifferenzen im Michelsonschen Stufenspektroskop, ebd. 33, 1910, 17-32; Über das Verhalten d. Quecksilberlinie 5789,88 im magnetischen Felde, in: Physikalische Zs. 11, 1910, 1193-1195; Über einige Anwendungen von Thermoelementen in d. Messtechnik d. chem. Großindustrie, in: Fs. Paschen, Annalen d. Physik 76, 1925, 198-224; Technische Physik in d. chem. Industrie, in: Zs. für techn. Physik 10, 1929, 241-245; Physikalische Technik in d. anorgan. chem. Technik, in: Die Chemische Fabrik 3, 1930, 433f., 447-449, 457f. u. 469-472; (mit J. Krönert) Kontroll- u. Regulierungseinrichtungen. Allgemeines u. Gemeinsames, Der Chemie-Ingenieur, hgg. von A. Eucken u. M. Jakob, Bd. II, Teil 1, 1932; (mit H. Grüss, H. Sauer, J. Krönert) Physikalisch-chemische Analyse im Betriebe, ebd. Bd. II, Teil 4, 1933; Physikalische Messverfahren in chemischen Betrieben, in: Zs. für techn. Physik 18, 1937, 349-362; (mit R. Riedmiller) Ein neuer Druckmultiplikator zur Messung kleiner Strömungsgeschwindigkeiten, ebd., 375-377; (mit F. Ranke) Versuch einer Vereinheitlichung u. Verdeutschung d. Bezeichnungen im Reglerwesen, ebd., 406-409; Aufgaben, Organisation u. Bedeutung des Betriebskontrolle in d. chemischen Industrie, in: Die chemische Fabrik 13, 1940, 197-204; Methoden, die auf Volumenänderungen durch eine chemische Reaktion beruhen, in: J. Krönert (Hg.), Handb. d. techn. Betriebskontrolle Bd. III: Physikal. Messmethoden, 1959, 576-606.
Nachweis: Bildnachweise: UnternehmensA BASF, 4 Fotos (1925); Familien-Verband Gmelin e.V., Foto ca. 1938 (vgl. Quellen u. Literatur).

Literatur: Poggendorffs Biograph.-literar. Handwörterb. VI, Teil 2, 1937, 909, VIIa, Teil 2, 1958, 218 u. VIII, Teil 3, 2004, 1380; J. Krönert, Paul Gmelin 70 Jahre, in: Zs. für angewandte Physik 7, 1955, 555 (mit Bildnachweis); J. Zenneck, Erinnerungen eines Physikers, 1961, 187-191, 214; E. Swinne, Friedrich Paschen als Hochschullehrer, 1989, 36f. u. 44-47.
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