Johannsen, Theodor Christoph Eduard 

Geburtsdatum/-ort: 19.02.1880; Reval/Estland
Sterbedatum/-ort: 24.04.1945;  Hechingen
Beruf/Funktion:
  • NSDAP-Kreisleiter in Hechingen
Kurzbiografie: Bis 1899 Hausunterricht Moskau, Gymnasium Tübingen, Abitur 8.7.1899
1899–1905 Medizinstudium Tübingen, Staatsexamen 19.8.1904, Promotion 20.6.1905
1905–1907 Assistenzarzt Berlin und Hamburg
1907–1918 Frauenarzt Moskau
8/1918 Flucht aus Russland
12/1918 Niederlassung als praktischer Arzt in Hechingen
21.1.1919 Erwerb deutsche Staatsangehörigkeit
1.3.1931 Eintritt in NSDAP, 2.6.1931 Ortsgruppenleiter Hechingen
1932–31.5.1937 NSDAP-Kreisleiter Hechingen
12.3.1933–9.5.1935 Stadtverordneter/Ratsherr Hechingen
12.3.1933 Kreisrat Hechingen
4/1933 Sonderkommissar der NSDAP für Hohenzollern
3/1934–1945 ärztlicher Beisitzer Erbgesundheitsgericht für Hohenzollern
2/1935–1945 Leiter NS-Amt für Volksgesundheit Hechingen
3/1935–1939 Kreisdeputierter Hechingen
6/1936–1945 Leiter Bezirksstelle VII Rottweil Reichsärztekammer
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Auszeichnungen: Verdienstkreuz für zehnjährige Parteizugehörigkeit (1942)
Verheiratet: 9.12.1905 (Tübingen) Myra, geb. Förster (4.1.1884–24.8.1953)
Eltern: Vater: William Philipp Rudolf Johannsen, Ingenieur
Mutter: Anna Luise, geb. Hollandt (10.11.1851–17.3.1939)
Kinder: 6:
Harald (geboren 2.11.1906);
Erich (1.1.1908–23.8.1944);
Rolf (geboren 19.5.1910);
Theodor (geboren 27.6.1916);
Käthe (geboren 12.11.1918);
Sigrid (geboren 3.11.1927)
GND-ID: GND/115297114X

Biografie: Rolf Vogt (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 3 (2017), 119-122

Dr. Theodor Johannsen war führender Nationalsozialist in Hechingen und NSDAP-Kreisleiter von 1932 bis 1937. Er starb 1945 am Tag seiner Festnahme unter ungeklärten Umständen.
Geboren in Reval in einer wohlhabenden deutschbaltischen Familie, wuchs Johannsen in Moskau auf. Er genoss bis zum 16. Lebensjahr Hausunterricht und besuchte danach die Oberstufe des Gymnasiums Tübingen, wo er nach dem Abitur sein Medizinstudium begann, das er mit dem Staatsexamen und der Promotion zum Doktor der Medizin abschloss. In Tübingen trat er der studentischen Verbindung Lichtenstein bei. Nach Tätigkeiten als Assistenzarzt in Berlin und Hamburg kehrte Johannsen 1907 zurück nach Moskau und ließ sich dort als Frauenarzt nieder.
Johannsen war russischer Staatsbürger, wurde wegen eines Herzleidens vom Militärdienst zurückgestellt und fand im Ersten Weltkrieg Verwendung im russischen Sanitätsdienst.
Seine Ehefrau Myra lernte Johannsen in Tübingen kennen. Sie heirateten am 9.12.1905. Vier ihrer sechs Kinder kamen in Moskau zur Welt. Auf der Flucht aus Russland im August 1918 war Myra Johannsen hochschwanger.
Mitte Dezember 1918 ließ sich Johannsen als praktischer Arzt und Spezialist für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe in Hechingen nieder. Mit Einbürgerungsurkunde vom 21.1.1919 erwarb er die deutsche Staatsangehörigkeit. Johannsen machte sich einen Namen durch den Einsatz der Geburtshelferzange bei Problem-Schwangerschaften und beteiligte sich rege an der fachwissenschaftlichen Diskussion seiner Zeit. In den 1920er Jahren veröffentlichte er mehrere Beiträge im Leipziger Zentralblatt für Gynäkologie. Im Januar 1941 verzeichnete er in seiner Hechinger Praxis die 1000. Geburt.
Seine Erlebnisse in der russischen Revolution verfestigten seine tief rechtskonservative Weltanschauung, doch zu eigenem politischen Engagement aufgerufen fühlte sich Johannsen erst in den Krisenjahren am Ende der Weimarer Republik. Zum 1.3.1931 wurde er Mitglied der NSDAP – zuerst in der Ortsgruppe Tübingen und am 1.4.1931 in der mit seiner Hilfe neu entstehenden Ortsgruppe Hechingen, als deren Ortgruppenleiter er am 2.6.1931 eingesetzt wurde. Das Wartezimmer seiner Praxis wurde das erste Parteilokal der NSDAP in Hechingen. In der Öffentlichkeit trat Johannsen 1932 als Partei- und Diskussionsredner auf. Von sich reden machte er insbesondere durch seine Wortmeldung bei der Kundgebung der Hechinger KPD am 1.5.1932 mit dem renommierten Arzt Dr. Friedrich Wolf, der von 1921 bis 1926 selbst als Arzt in Hechingen praktiziert hatte. Beide lieferten sich ein Rededuell über die kommunistische Forderung nach Streichung des Schwangerschaftsparagraphen 218 im Strafgesetzbuch.
Zuerst Unterbezirksleiter, wurde Johannsen 1932 Kreisleiter der NSDAP im Kreis Hechingen. Nach dem Regierungswechsel in Berlin am 30.1.1933 trieb er mit Nachdruck die politische Umwälzung auf lokaler Ebene voran. Er wurde am 12.3.1933 in die Gemeindevertretung und in den Kreistag Hechingen gewählt und trat seit April 1933 als Sonderkommissar der NSDAP für Hohenzollern auf. In dieser Eigenschaft beanspruchte er Mitwirkungsrechte in politischen Angelegenheiten – etwa bei den hauptsächlich gegen KPD-Mitglieder verhängten Schutzhaftstrafen. Der Hechinger Landrat Paul Schraermeyer erinnerte sich nach dem Krieg, Johannsen sei „als Kreisleiter ständig bei mir ein- und ausgegangen“ und habe „Anregungen im Sinne der Weisungen der Partei gegeben“.
Auf Kreisebene war Johannsen seit März 1935 als Kreisdeputierter Vertreter des Landrats und hatte seit Mai 1935 als Beauftragter der NSDAP für den Kreis Hechingen Mitwirkungsrechte in den Gemeinden. Auf Regierungsbezirks ebene wurde er im Januar 1934 in den Beirat für die Landeskommunalverwaltung aufgenommen. In den Berufsorganisationen stieg Johannsen zum Kreisobmann des NS-Ärztebunds auf. Seit Juni 1936 war er in der Reichsärztekammer Leiter der Bezirksstelle VII Rottweil.
Der Parteikreis Hechingen wurde zum 31.5.1937 im Zuge der württembergischen Verwaltungsreform aufgelöst, sein Gebiet auf die neuen NSDAP-Kreise Balingen-Hechingen, Horb und Rottweil verteilt. Johannsen verlor sein Amt, das er ehrenamtlich geführt hatte, und wurde zum Ehren-Kreisleiter ernannt. Das Amt des Kreisdeputierten gab er im Februar 1939 auf.
Ideologisch machte Johannsen die Entwicklung der nationalsozialistischen Rassenpolitik anscheinend bruchlos mit. Latenter Antisemitismus ließ ihn in der evangelischen Kirchengemeinde Hechingen zur treibenden Kraft der Fronde werden, die 1933 die Ablösung von Pfarrer Peter Katz betrieb, dem sie seine jüdische Abstammung vorhielt. Der Pfarrer wurde seines Amtes enthoben. Im September 1933 hielt Johannsen die Ansprache zur Eröffnung der NS-Gesundheitsausstellung, die Eugenik und Rassenforschung erstmals öffentlich in Hechingen vorstellte. Seine Erkenntnisse aus einem Lehrgang über Rassenpflege in Berlin präsentierte er mit mehreren Vorträgen. Johannsen war treibende Kraft der antisemitischen Kundgebung am 20.6.1935 vor der Hechinger Synagoge, die eine kulturpolitische Veranstaltung der israelitischen Gemeinde sprengen sollte. Er habe sich „uneingeschränkt für die Ziele und Bestrebungen und Anschauungen der NSDAP in der Judenfrage […] eingesetzt und sich mit diesen Ideen vorbehaltlos identifiziert“, gab der frühere Landrat Paul Schraermeyer im Entnazifizierungsverfahren nach dem Krieg zu Protokoll.
Bei der Bildung des Erbgesundheitsgerichts für Hohenzollern wurde Johannsen im März 1934 zum ärztlichen Beisitzer berufen, im Februar 1935 wurde er Leiter des neu gebildeten NS-Amts für Volksgesundheit. In beiden Funktionen war er mit Sterilisationsfällen befasst. Nach der Erinnerung seines ärztlichen Kollegen Dr. Hans Kauffmann drängte Johannsen allerdings „nicht besonders auf Durchführung der Sterilisierung“.
Seine weitläufige Verwandtschaft mit dem renommierten jüdischen Dermatologen Paul Gerson Unna (1850 – 1929, 1919 Lehrstuhlinhaber an der Universität Hamburg) brachte Johannsen in Hechingen ins Gerede. Den geistig zurückgebliebenen Buchbindermeister Hermann Hirschauer, der seine arische Abstammung bezweifelt hatte, überzog Johannsen mit mehreren Beleidigungsklagen. Hirschauer verbrachte bis 1945 insgesamt 51 Monate in Gefängnissen und Konzentrationslagern.
In vorderster Linie stand Johannsen auch bei der Formung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Als Kreisleiter förderte er den Ausbau der Parteiorganisation in der Stadt und im Kreis Hechingen. Am 2.10.1935 hielt er die Festrede in der ersten in Hechingen vollzogenen sogenannten Braunen Hochzeit, einer standesamtlichen Trauung im Gewand einer nationalsozialistischen Weihestunde.
Bemerkenswert erscheint angesichts seiner Parteitreue ein ärztliches Zeugnis, das Johannsen am 14.9.1933 ausstellte. Er bescheinigte Johann Fecker aus Steinhofen, im Schutzhaftlager Heuberg von der SA körperlich misshandelt worden zu sein. Johannsen scheute sich nicht, das von Landratsamt und Staatsanwaltschaft eingeleitete Strafverfahren gegen den SA-Standartenführer Vinzenz Stehle zu unterstützen.
Auf die Niederlage von Stalingrad reagierte er beim zehnten Jubiläum der NS-Frauenschaft in Hechingen am 24.2.1943 mit der Mahnung, „nicht kleingläubig zu werden, immer nur zu denken: wir müssen und wir werden siegen.“ Als in der Endphase des Krieges NSDAP-Kreisleiter Oskar Uhland am 3.4.1945 den Befehl ausgab, Dörfer und Städte zu räumen, soll sich Johannsen für die Evakuierung Hechingens stark gemacht haben. Er floh mit seiner Familie vor den einmarschierenden französischen Truppen in das unweit von Hechingen, aber abseits am Albtrauf gelegene Beuren.
Dort wurde er am 24.4.1945 verhaftet. Seine französischen Bewacher führten ihn nach Hechingen zum Hotel Rad, wo die Militärpolizei residierte. Auf der Eingangstreppe brach er zusammen. In Hechingen verbreitete sich noch am selben Tag das Gerücht, Johannsen habe Zyankali oder ein anderes Gift genommen. Tatsächlich wurde Johannsen nach seinem Kollaps in das Hechinger Krankenhaus eingeliefert, wo er gegen 16.45 Uhr starb. In der Sterbeurkunde werden Erschöpfungszustand und akuter Herztod, begünstigt durch einen Herzmuskelschaden, als Todesursache angegeben.
Das Entnazifizierungsverfahren hatte den Zweck, eine Entscheidung über den Nachlass zu treffen. Die Konten von Johannsen wurden vom Staatskommissariat für die politische Säuberung gesperrt. Der Kreisuntersuchungsausschuss stufte ihn am 15.7.1948 als Belasteten ein, die vierte Spruchkammer in Tübingen bestätigte den Vorschlag am 26.11.1948, die Militärregierung am 25.1.1949. Von der Einziehung der Vermögenswerte wurde abgesehen mit Rücksicht auf die Mittellosigkeit der Witwe Myra Johannsen, die selbst als Mitläuferin eingestuft wurde.
Quellen: Hohenzollerische Heimatbücherei G 514/IX: Sammelmappe Revolution 1933; Hohenzollerische Heimatbücherei V 127: Sammelmappe Dr. med. Theodor Johannsen; BA Abt. Reich (ehemaliges BDC) Berlin: Mitgliedsausweis NSDAP, Karteikarte Reichsärztekammer, Fragebogen Parteikanzlei für Beauftragte der NSDAP 1936; HStAS E 150 Bü 3339, Ministerium des Innern: Ärztliche Approbationsprüfung 1903/04 Johannsen, Theodor Reval; StAS Wü 13 T 2 Nr. 1285/051a, Spruchkammer Hechingen: Johannsen, Theodor; StAS Wü 13 T 2 Nr. 2652/177, Staatskommissariat für die politische Säuberung, Originalsprüche: Johannsen, Theodor; GStA Berlin I. HA Rep 77 Nr. 5530 Bl. 7 (Schreiben 22.04.1933).
Werke: Über die Reduktionskraft aseptisch entnommener Organe, Diss. Univ. Tübingen 1905; Ein Vulvahämatom als Geburtshindernis, in: Zentralblatt für Gynäkologie 31 (1920); Ein Fall von Vagitus uterinus, in: Zentralblatt für Gynäkologie 25 (1922); Geburt bei Uterus bicornis unicollis, in: Zentralblatt für Gynäkologie 3 (1924), 91-93; Ist die geburtshilfliche Rektaluntersuchung in der Allgemeinpraxis zu befürworten?, in: Zentralblatt für Gynäkologie 10 (1925), 534-537; Über die Behandlung blutender Cervixrisse nach Spontangeburt, in: Zentralblatt für Gynäkologie 22 (1925) 1185-1188; 100 Zangengeburten in der Landpraxis, in: Zentralblatt für Gynäkologie 11 (1926), 654-661; Über die Behandlung atonischer Nachblutungen mit Pituigan forte, in: Zentralblatt für Gynäkologie 5 (1927), 292-296; An den Führer (Gedicht), in: Hohenzollerische Blätter 162 (18.7.1933); Der Aufbau der NSDP im Kreise Hechingen, in: FS zum 2. Kreisparteitag der NSDAP in Hechingen, 1935, 4; Ärzte im Gemeinschaftslager, in: Hohenzollerische Blätter 191 (19.08.1935), 192 (20. 8. 1935); Das Problem (Gedicht), in: Hohenzollerische Blätter 248 (24.10.1935); Die Kreisleitertagung auf Crössinsee, in: Hohenzollerische Blätter 100 (30.4.1936); 1000 Geburten in Kleinstadt-Landpraxis, in: Zentralblatt für Gynäkologie 35 (1941), 1579-1583.
Nachweis: Bildnachweise: BA Abt. Reich (ehemaliges BDC) Berlin: Mitgliedsausweis NSDAP; FS zum 2. Kreisparteitag der NSDAP in Hechingen, 1935, 3; Hohenzollerische Blätter 121 (29.5.1937); Michael Walther, Politische Milieus und Wahlergebnisse in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 47/48 (2011/2012), 137-194, hier 173.

Literatur: Fritz Kallenberg, Die Sonderentwicklung Hohenzollerns, in: Fritz Kallenberg (Hg.), Hohenzollern, 1996, 129-282, hier 205, 213, 214, 267; Otto Werner, Leon Schmalzbach (1882 – 1942), in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 16 (1980), 115-195, hier 141 f., 164 f.; Rolf Vogt, Vor dem Hotel Rad zusammengebrochen, in: Schwarzwälder Bote 103 (5.5.1995); Adolf Vees, Das Hechinger Heimweh, 1997, 27, 83, 88, 161, 167, 172, 177, 186 f.; Blau-weiß-rot: Leben unter der Trikolore, bearb. von Andreas Zekorn, 1999, 313; Michael Walther, Politische Milieus und Wahlergebnisse in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 47/48 (2011/2012), 137-194, hier 171-173; Frank Raberg, Vinzenz Stehle, in: Wolfgang Proske (Hg.), Täter, Helfer, Trittbrettfahrer, 2015, 268-280, hier 268, 278.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)