Kuenzer, Richard 

Geburtsdatum/-ort: 06.09.1875;  Freiburg i. Br.
Sterbedatum/-ort: 23.04.1945; Berlin (ermordet durch die SS)
Beruf/Funktion:
  • Wirklicher Legationsrat, Opfer des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1893 Abitur
1894-1898 Studium (Jura) in Fribourg/CH, München, Kiel und Freiburg i. Br.
1898 I. juristisches Staatsexamen in Freiburg i. Br.
1898-1902 Rechtsassessor in badischen Diensten
1902 II. juristisches Staatsexamen in Freiburg i. Br.
1903 Promotion an der Universität Freiburg i. Br. (Doktorvater: Rümelin): § 1 des badischen Gesetzes betreffend die Überleitung der ehelichen Güterstände des älteren Rechts in das Reichsrecht vom 4. 8. 1902. Eintritt in den diplomatischen Dienst des Auswärtigen Amts
1916-1919 Britische Kriegsgefangenschaft
1923 Versetzung in den einstweiligen Ruhestand
Seit 1925 Publizistische Tätigkeit
1925-1927 Direktor des Zentrumsorgans „Germania“
ab 1927 Selbständiger Wirtschaftsberater
1933 18. Jul. Endgültige Versetzung in den Ruhestand
1943 5. Jul. Verhaftung durch die Gestapo, Inhaftierung in Berlin bzw. Ravensbrück
1945 23. Apr. Aberkennung des Beamtenstatus
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: l925 (Freiburg) Gerda Gräfin zu Inn- und Knyphausen
Eltern: Vater: Heinrich (1841-1887), Fabrikant
Mutter: Ida, geb. von Beust
Kinder: Monica
GND-ID: GND/116592184

Biografie: Uwe Schellinger (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 165-167

Auf dem Freiburger Hauptfriedhof, unauffällig auf dem imposanten Familiengrab der verwandten Familien Litschgi und Schwörer, liegt die Steinplatte, auf der Kuenzers Name sowie die seiner Eltern und Geschwister eingraviert sind. Denkbar unspektakulär ist auch die schlichte Inschrift „Richard Kuenzer 1875-1945“. Nichts weist darauf hin, dass mit dieser Erwähnung die Erinnerung an eine bemerkenswerte Persönlichkeit wach gehalten wird, die ihren Widerstand gegen das NS-Regime mit dem Leben bezahlen musste. Bis in jüngste Zeit lag Kuenzers Schicksal im Verborgenen, selbst in seiner Vaterstadt Freiburg.
Nach dem Abitur absolvierte Kuenzer als Einjährig-Freiwilliger seinen Militärdienst. Es folgte ein Jura-Studium in Fribourg/CH, München, Kiel und Freiburg i. Br. Danach trat er als Rechtsassessor in den badischen Staatsdienst. Bereits nach seinem zweiten Staatsexamen bewarb er sich für den Dienst im Auswärtigen Amt der Reichsregierung. Zuvor jedoch promovierte er und absolvierte eine kaufmännische Zusatzausbildung in Frankfurt. Im Jahr 1904 begann seine Laufbahn als Diplomat, die ihn in den folgenden zwei Jahrzehnten in mehrere europäische und außereuropäische Länder führte. Er war Konsul in Paris, Kapstadt, Johannesburg und Sansibar. Dann brachte der Ausbruch des I. Weltkriegs den ersten tiefen Einschnitt in seinem Leben. Im Frühjahr 1916 wurde Kuenzer, der zu diesem Zeitpunkt in diplomatischer Funktion in Bulgarien weilte, während einer Zugreise durch Griechenland von britischem Militär verhaftet. Die nächsten drei Jahre wurde er gefangen gehalten, meist auf der Insel Malta. Sein Protest gegen rechtswidrige Anordnungen brachte ihm zahlreiche Repressalien ein, durch die auch seine Gesundheit schweren Schaden nahm. Erst 1919 kehrte er aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück.
Es bedeutete für den leidenschaftlichen Diplomaten eine überaus enttäuschende Erfahrung, dass das Auswärtige Amt nach dem Krieg nicht dazu bereit war, ihm wieder eine angemessene Stellung anzubieten. Nachdem schließlich auch Pläne, ihn nach Washington zu beordern, im Sande verliefen, versetzte ihn das Außenministerium am 9. September 1923 in den vorläufigen Ruhestand. Kuenzer wohnte nun zeitweilig wieder in seiner Heimatstadt.
Nach seiner Heirat leitete er seine zweite berufliche Karriere in die Wege, nunmehr im Rahmen der Partei des politischen Katholizismus und wurde in Berlin „Politischer Direktor“ beim maßgeblichen Nachrichtenorgan des Zentrums, der Tageszeitung „Germania“. Der religiös geprägte Kuenzer sah sich in diesen Zeiten einer persönlichen Umorientierung „vollkommen auf dem sittlichen Boden der katholischen Kirche“ stehend. Politisch wollte sich der überzeugte Republikaner dem linken Flügel des Zentrums zurechnen. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit Franz von Papen, der die „Germania“ politisch auf Rechtskurs bringen wollte, beendete Kuenzer jedoch bereits im September 1927 diese Tätigkeit und arbeitete fortan als Wirtschaftsexperte für verschiedene Unternehmen sowie seit 1931 als selbständiger Devisenberater. Hinzu kam von 1925 bis 1930 die Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift „Abendland“.
Innerhalb des Zentrums galt Kuenzer als Experte für außenpolitische Fragen. Er war ein Befürworter einer europäischen Verständigungs- und Einigungspolitik und unterstützte die neue Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“. Eine so ausgerichtete Friedenspolitik versuchte Kuenzer in diesen Jahren durch vielfältige Initiativen in die Tat umzusetzen. Nicht ohne Kritik aus prominenten Zentrumskreisen trat Kuenzer im Rahmen seiner Tätigkeit im „Friedensbund Deutscher Katholiken“ auch engagiert für die deutsch-französische und deutsch-polnische Verständigung ein. Es liegt auf der Hand, dass die vielfältigen Friedensbemühungen Kuenzers den Interessen der NS-Machthaber zuwider liefen und sie den unliebsamen Politiker aus dem Dienst drängten. Seine lang währende Vakanz vom diplomatischen Dienst sowie sein klares Bekenntnis zum Zentrum bewirkten ein Übriges, dass der 57jährige im Juli 1933 endgültig in den Ruhestand geschickt wurde.
Seit Beginn des „Dritten Reichs“ stellte sich der bekennende Katholik dann auch den neuen Machthabern mehr als kritisch gegenüber. 1935 kam er zum ersten Mal in größere Konflikte mit dem NS-Unterdrückungsapparat. Unvorsichtigerweise hatte sich Kuenzer bei einer Abendgesellschaft im Beisein eines NSDAP-Mitglieds in abfälliger Weise über den „Götzendienst“ für Hitler geäußert. Der Denunziation durch den Parteigenossen folgten Ermittlungen, und es war wohl nur der Fürsprache eines ehemaligen Kollegen im Auswärtigen Amt zu verdanken, dass Kuenzer zu diesem Zeitpunkt noch einmal ungestraft davonkam. Weitere Anzeigen, sogar aus den Reihen der eigenen Hausangestellten, folgten und machten Kuenzer bei der Gestapo verdächtig. Spätestens seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre stand Kuenzer in Kontakt mit mehreren Widerstandskreisen. So hatte er Kenntnis über die Umsturzpläne führender Militärs während der Sudetenkrise 1938. Ein Jahr später stellte Kuenzer für die Gruppe um „Beppo“ Römer ein wichtiges Verbindungsglied zu diplomatischen Kreisen dar. Besondere Möglichkeiten eröffneten sich ihm, als er in den Jahren 1940/41 noch einmal beauftragt wurde, verschiedene Kurierreisen für das Auswärtige Amt zu unternehmen. Er nützte seine Auslandsaufenthalte nicht zuletzt dazu, den Kontakt zum ehemaligen Reichskanzler und Regimegegner Joseph Wirth in dessen Schweizer Exil aufrechtzuerhalten. Über den württembergischen Staatspräsidenten Eugen Bolz bestand schließlich spätestens seit 1941 auch eine Verbindung zu den Kreisen um Carl Friedrich Goerdeler.
Die wichtigste Gruppe, der Kuenzer in dieser Zeit angehörte, war der sogenannte „Solf-Kreis“ in Berlin. Im Hause von Johanna Solf, der Witwe des einstigen deutschen Außenministers Wilhelm Solf, trafen sich vor allem ehemalige Staatsbeamte, um über die politischen Verhältnisse und die Chancen für eine Beendigung des NS-Regimes zu diskutieren. Außerdem leisteten die einzelnen Mitglieder tatkräftige Hilfe, Juden die Ausreise aus Deutschland zu ermöglichen. Kuenzer galt als der eigentliche Kopf dieser Zusammenkünfte.
Zum Verhängnis wurde Kuenzer seine Bekanntschaft mit dem katholischen Priester Max Josef Metzger, mit dem er ebenfalls im Hause Solf zusammengetroffen war. Die Gestapo hatte Metzger am 30. Juni 1943 verhaftet, weil dieser sich mit einem Friedensmemorandum an das Ausland wenden wollte, was von einer Agentin verraten worden war. Während der nun folgenden Verhöre kam Metzger auf Kuenzer zu sprechen, der eine Woche nach Metzger, am 5. Juli 1943, festgenommen wurde. Bis zum Februar 1944 war Kuenzer im „Hausgefängnis“ der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße in Haft. Die mehrfachen mündlichen und schriftlichen Auslassungen seines geistlichen Bekannten über dessen Kontakte zum Solf-Kreis und zu seiner Person konnten sich nur negativ auswirken, hatte Metzger doch die Strategie gewählt, sich eindeutig von den „aktivistischen Gedanken“ (Metzger) des Solf-Kreises zu distanzieren. Nachdem im Januar 1944 durch Verrat eines Spitzels auch die übrigen Mitglieder dieser Gruppe verhaftet worden waren, wurde Kuenzer gemeinsam mit diesen im Gefängnisbau des Konzentrationslagers Ravensbrück inhaftiert. Dort und in der nahe gelegenen Sicherheitspolizeischule Drögen bei Fürstenberg wurde er von nun an mehrfach unter Folter verhört. Zwei Ravensbrücker Mithäftlinge und gute Bekannte Kuenzers, Hanna Kiep und Lagi Ballestrem-Solf, aber auch die spätere Ordensschwester Isa Vermehren berichteten später von den grausamen Züchtigungen, unter denen der alte Mann damals zu leiden hatte.
Nach dem Attentat auf Hitler wurde Kuenzer auch mit den Verschwörerkreisen vom 20. Mai 1944 in Verbindung gebracht; man beschuldigte ihn, da er auch gut mit dem nach der Aktion verhafteten Franz Kempner bekannt war, er habe „mit einem gewissen Fanatismus einem christlichen Gemeinschaftsleben das Wort geredet“ und dabei „das NS-Regime als ein großes Hindernis zum Frieden betrachtet“. Durch seine zahlreichen Kontakte war Kuenzer in den Augen der NS-Behörden gleich mehrfach belastet. Seine Frau Gerda wurde im August 1944 in Potsdam in „Sippenhaft“ genommen. Doch solche Repressalien konnten ihn nicht zum Einlenken bewegen. Bemerkenswerte Widerstandskraft bewies Kuenzer nicht zuletzt dadurch, dass er sogar noch während seiner Haftzeit ein für die Zeit nach dem NS-Regime gedachtes Manifest verfasste, in dem er Hitler jegliche Fähigkeit als Staatsmann absprach. Im Oktober 1944 wurde Kuenzer wieder nach Berlin verlegt. Dort sollte er im „Zellengefängnis Moabit“ in der Lehrter Straße auf den Prozess vor dem Volksgerichtshof warten, der gegen ihn und weitere fünf Mitglieder des Solf-Kreises für den 13. Dezember 1944 angesetzt war. Erneut kam es zu brutalen Folterungen, für die u. a. der Gestapo-Kommissar F. X. Sonderegger mit verantwortlich war. Die Aufnahme der Verhandlung war schon wiederholt vertagt worden, als am 3. Februar 1945 Volksgerichtshofspräsident Freisler bei einem Luftangriff umkam. Daraufhin wurde ein neuer Termin für den 27. April 1945 festgesetzt. Doch zu einem Prozess kam es nicht mehr. Während bereits die Kämpfe um Berlin tobten, wurden – wahrscheinlich auf Befehl Himmlers – in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 insgesamt 16 Häftlinge von einem SS-Kommando aus ihren Zellen geholt. Unter der Vorgabe, dass man sie entlassen wolle, wurden die ahnungslosen Männer auf ein nahe gelegenes, zerbombtes Ausstellungsgelände gebracht. Um ein Uhr nachts wurde Kuenzer schließlich zusammen mit den anderen Häftlingen durch Genickschuss umgebracht. Allein der Häftling Herbert Kosney überlebte dieses Massaker und hat die Ereignisse dieser Schreckensnacht überliefert. Kuenzer wurde zusammen mit sieben weiteren Opfern des Massakers sowie anderen Toten erst am 5. oder 6. Mai 1945 heimlich in einem Massengrab auf dem nahe gelegenen Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt. Auf dem Grab erinnert heute eine Gedenktafel an diese Opfer der letzten Kriegstage.
Quellen: Dokumente im Familienbesitz; Politisches A des Auswärtigen Amts: Personalakten R. Kuenzer; Institut für Zeitgesch. München: Anklageschrift gegen R. Kuenzer u. a. (Fa 117/305) sowie MC 5: Urteil Sonderegger vom 12.1.1949.
Werke: §1 des bad. Gesetzes betr. die Überleitung d. ehelichen Güterstände des älteren Rechts in das Reichsrecht vom 4. August 1902, (Diss. jur. Freiburg i. Br.) 1903; Deutschland und Frankreich, in: Das junge Zentrum 2, 1925, 264-267; Graf Anton Prokesch-Osten, in: Hochland 24, 1926/26, 630-652; Die Außenpolitik des Zentrums. Für Einheit u. Freiheit des Reichs u. für Verständigung zwischen den Nationen, in: Nationale Arbeit. Das Zentrum u. sein Wirken in d. dt. Republik, hg. von Karl Anton Schulte, 1929, 75-118.
Nachweis: Bildnachweise: in Schellinger, 1999 (vgl. Lit.).

Literatur: Lagi Countess Ballestrem-Solf, Tea Party, in: Eric H. Boehm (Hg.), We survived. The Stories of Fourteen of the Hidden and the Hunted of Nazi Germany, 1949, 132-149; Herbert Kosney, The Other Front, ebd. 36-52; Isa Vermehren, Reise durch den letzten Akt, 1979 2. Aufl., 32-42; Johanna Solf, Ein Sendbote d. Güte. Ein Bildnis R. Kuenzers, in: Freiburger Kath. Kirchenbl. 34, 1954, 584; Peter Paret, An Aftermath of the Plot against Hitler: The Lehrterstrasse Prison in Berlin 1944-45, in: Bulletin of the Institute of Historical Research 32, 1959, 88-102; Gedenkrede des Bundesministers Heinrich von Brentano bei d. Enthüllung d. Ehrentafel für die Opfer des 20. Juli 1944 im Auswärtigen Amt am 20. Juli 1961, 1961; Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im NS-Staat, 1974, 664-669 u. 811-816; Beate Höfling, Kath. Friedensbewegung zwischen zwei Kriegen. Der „Friedensbund Deutscher Katholiken” 1917-1933, 1979; Peter Hoffmann, Widerstand – Staatsstreich – Attentat. Der Kampf d. Opposition gegen Hitler, 1985 4. Aufl.; Hugo Stehkämper, Protest, Opposition u. Widerstand im Kreis d. (untergegangenen) Zentrumspartei. Ein Überblick, in: J. Schmädeke, P. Steinbach (Hgg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die dt. Gesellschaft u. d. Widerstand gegen Hitler, 2 Teile, 1986 2. Aufl., Teil I: Protest u. Opposition, 113-150, Teil II: Widerstand, 888-916; Hugo Ott, Annemarie Weiß, Martha-Gertrudis Reimann, Dr. Max Josef Metzger (3. 2. 1887-17. 4. 1944). Beiträge zum Gedenken, in: FDA 106, 1986, 187-255; Johannes Tuchel, Die Sicherheitspolizeischule Drögen u. d. 20. Juli 1944 – zur Geschichte d. „Sonderkommission Lange“, in: F. von Butlar, S. Endlich, A. Leo (Hgg.), Fürstenberg-Drögen. Schichten eines verlassenen Ortes, 1994, 120-142; Uwe Schellinger, Dr. R. Kuenzer, in: Zeugen für Christus. Das dt. Martyrologium des 20. Jh.s, hg. von H. Moll im Auftrag der Dt. Kath. Bischofskonferenz, Bd. l, 1999 1. Aufl., 2001 3. Aufl., 233-236; ders., Tod eines „Friedenssüchtigen“. Zur Biografie von Dr. R. Kuenzer (1875-1945), in: FDA 119, 1999, 427-437.
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