Wiener, Hermann Ludwig Gustav 

Geburtsdatum/-ort: 15.05.1857;  Karlsruhe
Sterbedatum/-ort: 13.06.1939; Darmstadt
Beruf/Funktion:
  • Mathematiker
Kurzbiografie: 1866-1876 Besuch des Gymnasiums in Karlsruhe mit Reifeprüfung
1876-1879 Studium der Mathematik und Naturwissenschaften an der Polytechnischen Schule Karlsruhe
1879-1881 Studium an der Universität und an der Technischen Hochschule München
1881-1882 Studium an der Universität Leipzig
1881 Promotion an der Universität München: Über Involutionen auf ebenen Curven
1882 Staatsexamen für das Höhere Lehramt in Karlsruhe
1882-1883 Lehramtspraktikant am großherzoglichen Gymnasium Karlsruhe
1882-1884 Assistent für Mathematik an der Polytechnischen Schule Karlsruhe
1885 Habilitation für Mathematik in Halle: Rein geometrische Theorie der Darstellung binärer Formen durch Punktgruppen auf der Geraden
1885-1894 Privatdozent an der Universität Halle
1890 Gründungsmitglied der Deutschen Mathematiker-Vereinigung
1894-1927 ordentlicher Prof. für Mathematik an der Technischen Hochschule Darmstadt
1896-1899 und 1907-1908 Dekan
1907 Geheimer Hofrat
1927 Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: Anna, geb. Kühn (1863-1935), an Kindesstatt angenommen von Moritz Reinhard, Obereinnehmer in Pforzheim
Eltern: Vater: Ludwig Christian Wiener (1826-1896), Mathematiker, Physiker, Philosoph, Prof. für Deskriptive Geometrie in Karlsruhe
Mutter: Pauline, geb. Hausrath (1835-1865)
Kinder: 8: 3 Söhne, 5 Töchter
GND-ID: GND/117362654

Biografie: Jürgen Schönbeck (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 319-320

Hermann Wiener gilt als Begründer oder zumindest als Vorläufer der sogenannten Spiegelungsgeometrie; er hat darüber hinaus wichtige Impulse zu den Grundlagen der Geometrie gegeben. Weiteren Kreisen bekannt wurde er vor allem durch seine Modelle zum geometrischen Anschauungsunterricht.
Wichtige und entscheidende Anregungen verdankt Hermann Wiener vor allem seinem Vater Christian Wiener, seinem Gymnasiallehrer Peter Treutlein und seinem Hochschullehrer Felix Klein; unter ihrem Einfluß wurde er zu jenem „vom geometrischen Geist erfüllten“ Mann, der wegen seines großen Ideenreichtums und seiner geometrischen Phantasie gerühmt wurde. Nach Studien- und Ausbildungsjahren in Karlsruhe, München, Leipzig und wieder Karlsruhe wurde Wiener 1885 Privatdozent für Mathematik an der Universität Halle. Hier erlebte er seine wissenschaftlich erfolgreichste Zeit.
Ausgehend von kinematischen Betrachtungen einerseits, von projektiven Überlegungen andererseits erkannte Wiener als einer der ersten die Bedeutung von „Spiegelungen“ als den „erzeugenden Elementen“ der Geometrie. Unabhängig von Vorläufern wie Halphen (1882), Burnside (1889) und Brodén (1890) – und über sie hinausgehend setzte er sich das Ziel, eine neue „Analysis der geometrischen Gebilde“ zu entwickeln, in deren Mittelpunkt die Spiegelungen stehen sollten. Er begründete so (seit 1889/90) die „Methode der Spiegelgleichungen“, die ein Rechnen mit den geometrischen Objekten selbst ermöglicht – anders als die Koordinatengeometrie von Descartes, die letztlich einen Zahlen- oder Größenbegriff voraussetzt. Wiener realisierte so Forderungen, die Leibniz mit seiner Idee einer „characteristica geometrica“ gegenüber der klassischen, sogenannten analytischen Geometrie erhoben hatte.
Die Entdeckung, daß seine Methode der Spiegelgleichungen nicht auf die klassische euklidische Geometrie beschränkt ist, ließ Wiener die Forderung nach einer ontologisch nicht mehr verankerten Axiomatik in der Geometrie erheben (1892). Damit wurde er zu einem Vorläufer der mit Hilberts „Grundlagen der Geometrie“ (1899) einsetzenden neueren geometrischen Grundlagenforschung. Und Wiener erkannte als erster die Bedeutung der sogenannten Schließungssätze (1892), die zu Beginn unseres Jahrhunderts zur Lösung des Strukturproblems der Geometrie führten.
In anderen, früheren und späteren Arbeiten hat Wiener insbesondere die schon von seinem Vater Christian Wiener begonnene Entwicklung geometrischer Modelle fortgesetzt, teilweise in Zusammenarbeit mit seinem früheren Lehrer Peter Treutlein, und er hat immer wieder den Wert der Anschauung für die mathematische Ausbildung betont. Zahlreiche der von ihm entwickelten Modelle befinden sich heute im Deutschen Museum in München.
Wiener hat nach seiner Berufung nach Darmstadt offenbar den Anschluß an die neue geometrische Grundlagenforschung verloren. Aber er war sich bewußt, mit seinem Prinzip der Spiegelgleichungen eine neue Beweismethode in die Geometrie eingeführt zu haben: Seine frühen Arbeiten, die noch der „vorhilbertschen“ Geometrie angehören, bilden schon den Anfang der heutigen „Geometrie der Spiegelungen“.
Werke: (Auswahl) Über Involutionen auf ebenen Curven, München 1881 (Diss.); Rein geometr. Theorie d. Darstellung binärer Formen durch Punktgruppen auf der Geraden, Darmstadt 1885 (davon 1. Teil = Hab.-Schr.); Die Zusammensetzung zweier endlichen Schraubungen zu einer einzigen. Zur Theorie d. Umwendungen. Über geometr. Analysen. Über geometr. Analysen, Fortsetzung. Über die aus zwei Spiegelungen zusammengesetzten Verwandtschaften. Über Gruppen vertauschbarer zweispiegeliger Verwandtschaften, in: Ber. Verh. kgl. Sächs. Ges. Wiss. Leipzig, math.-phys. Cl. 42, 1890, 13-23, 71-87, 245-267; 43, 1891, 424-447, 644-673; 45, 1893, 555-598; Über Grundlagen u. Aufbau d. Geometrie. Weiteres über Grundlagen u. Aufbau d. Geometrie, in: Jber. DMV 1, 1892, 45-48; 3, 1894, 70-80; Die Eintheilung d. ebenen Curven u. Kegel 3. Ordnung in 13 Gattungen, Halle 1901; Verzeichnis von H. Wieners und P. Treutleins Sammlung mathemat. Modelle f. Hochschulen, höhere Lehranstalten u. techn. Fachschulen, Leipzig u. Berlin 1911, 1912 2. Aufl.; Über den Wert d. Anschauungsmittel f. d. mathemat. Ausbildung. Neue mathemat. Modelle aus B. G. Teubners Sammlung, in: Jber. DMV 22, 1913, 294-297, 297-306.
Bibliographien in: Poggendorf IV, 1904, 1634-1635; VI, 1940. 2879; R. Kukula, Bibliogr. Jb. d. dt. Hochschulen 1892, 1009-1010; 1893, 264.
Nachweis: Bildnachweise: Foto, in: Jb. Überblicke Mathematik 1986, 85.

Literatur: J. Schönbeck, H. Wiener (1857-1939) u. d. Grundlagen d. Geometrie, in: Beitr. z. Mathematikunterricht 1985, 279-282; ders., H. Wiener (1857-1939), d. Begründer d. Spiegelungsgeometrie, in: Jb. Überblicke Mathematik 1986, 81-104; ders., Ein geometr. Rechenverfahren: H. Wieners Methode d. Spiegelgleichungen, in: Der Mathematikunterricht 1, 1989, 30-36; Siegfried Gottwald, Hans-Joachim Ilgands, Karl-Heinz Schlote (Hg.): Lexikon bedeutender Mathematiker, Leipzig 1990.
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