von Gierke, Edgar (Etzel) Otto Konrad 

Geburtsdatum/-ort: 09.02.1877; Breslau
Sterbedatum/-ort: 21.10.1945;  Karlsruhe
Beruf/Funktion:
  • Pathologe, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: Vor 1884–1894 Vorschule des Marien-Magdalenen-Gymnasiums Breslau, anschließend Gymnasium Heidelberg; dann 1887 bis 1894 Kgl. Preuß. Wilhelms-Gymnasium Berlin
1894 –1897 Medizinstudium an den Univ. Heidelberg u. 1896 bis 1897 Breslau
1897–1900 Klinische Semester in Berlin u. Heidelberg; Ärztl. Approbation
1900–1903 Promotion zum Dr. med. an d. Univ. Heidelberg: „Über den Eisengehalt verkalkter Gewebe unter normalen u. pathologischen Bedingungen“, dann zuerst Assistent am pathologischen Institut d. Univ. Heidelberg bei Prof. Julius Arnold; schließlich an d. chirurg. Univ.-Klinik bei Prof. Vinzenz von Czerny (vgl. S. 66); 1903 Assistent am pathologischen Institut d. Univ. Freiburg bei Prof. Ernst Ziegler
1904 –1907 Habilitation an d. Univ. Freiburg: „Das Glykogen in d. Morphologie des Zellstoffwechsels“; Privatdozent; 1906 Vertretung des Lehrstuhls für Pathologie
1907–1908 Aufenthalt am Krebsinstitut London; anschließend Leitung d. histologischen Abteilung am Pathologischen Institut d. Univ. Berlin
1908–1937 Prosektor u. Leiter des Pathologisch-bakteriologischen Instituts am Städt. Krankenhaus Karlsruhe
1909 Habilitation an d. TH Karlsruhe; Privatdozent u. Übernahme d. Lehrveranstaltungen für Bakteriologie
1910–1921 ao. Professor für Pathologie an d. Univ. Freiburg
1911–1936 ao. Professor für Bakteriologie an d. TH Karlsruhe, Kriegsdienst beim Feldartillerie Regiment Nr. 14, später Stabsarzt d. Reserve als „Mischling ersten Grades“ Repressionen wegen seiner jüdischen Herkunft mütterlicherseits, freiwilliger Verzicht auf seine Lehrberechtigung u. Ausscheiden aus dem Lehrkörper d. TH Karlsruhe
1937–1944 Entbindung von den Amtspflichten u. Versetzung in den Ruhestand; 1939–1944 erneut zweimalige Leitung d. Karlsruher Prosektur
1968 „von Gierke Straße“ in Karlsruhe-Südwest-Stadt
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1912 (Karlsruhe) Julie, geb. Braun (1893–1964)
Eltern: Vater: Otto Friedrich (1841–1921, 1911: von, preuß. Adel), Rechtsgelehrter
Mutter: Marie Caecilie Elise, geb. Loening (1850–1936)
Geschwister: 5; Anna (Nanna) Ernestine Therese (1874 –1943), Julius Karl Otto (1875–1960), Therese (Desi) Anna Margarete Martha (1878–1966), Hildegard (Hilga) Valeska Magarete (1880–1966) u. Otto Richard (1883–1918)
Kinder: 4; Therese (Thesi), verh. Baum (1913–1990), Rudolf (Rolf) Otto Edgar (1915–2005), Henning Edgar Gotthart (1917–2007) u. Gerhart Otto Julius (1922–2003).
GND-ID: GND/117544035

Biografie: Tobias Seidl (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 137-140

Gierke entstammte väterlicherseits einer pommerschen Bürgerfamilie, die zahlreiche namhafte Juristen hervorgebracht hatte; mütterlicherseits war er mit der Verlegerfamilie Loening verwandt, die jüdische Wurzeln hatte. Sein Wesen und seine Denkart waren auf der einen Seite geprägt durch die liberalen Vorstellungen des deutschen Südwestens, auf der anderen durch die preußische Familientradition, die einer strengen Pflichtauffassung sowie einem nationalkonservativen Staats- und Gesellschaftsbild verpflichtet war. Wie auch seine Geschwister zeigte Gierke zeitlebens großes soziales Engagement und war für seinen persönlichen Einsatz und seine große Tatkraft bekannt. Seine große private Leidenschaft war der Sport; vor allem die Segelfliegerei, das Skilaufen und Bergsteigen. Zusammen mit seinem Karlsruher Freund und Kollegen, dem Geologen Wilhelm Paulcke (1873–1949) konnte er auf mehrere erfolgreiche Erstbesteigungen von Gipfeln in den Alpen verweisen.
Seine Ausbildung genoss Gierke bei Julius Arnold jr. (1835–1915) und Vinzenz von Czerny an der Univ. Heidelberg und Ernst Ziegler (1849–1905) an der Univ. Freiburg. Die Frage, warum äußerlich gesunde Menschen dennoch starben, motivierte ihn, sich der pathologischen Anatomie zu widmen. Besonders interessierte ihn eine spezielle Art von Kohlenhydratmangel, der vor allem bei Kleinkindern vorkommt und eine lebensbedrohende Immunschwäche hervorruft. In seiner Habilitationsschrift legte er erste Forschungsergebnisse zu diesem Thema vor, die in Fachkreisen große Aufmerksamkeit fanden. Nach seiner Habilitation in Freiburg war er an der dortigen Universität als Privatdozent tätig und vertrat nach Ernst Zieglers Tod den Lehrstuhl für Pathologie, auf den 1906 Ludwig Aschoff (➝ II 7) berufen wurde. Anschließend an einen Auslandsaufenthalt am Krebsinstitut London im Sommer 1907 wurde er zum Abteilungsleiter an der Prosektur der Charité in Berlin ernannt. Bereits 1908 übernahm er die Stelle des Prosektors am im Vorjahr neu eröffneten Städt. Krankenhaus Karlsruhe, wo er bakteriologische und serologische Untersuchungen vornahm. Zeitgleich wurde Gierke ein Lehrauftrag für Bakteriologie im Rahmen der pharmazeutischen Ausbildung an der TH Karlsruhe erteilt, ab 1911 als ao. Professor.
Gierke hoffte, „durch Vorlesungen über Bakteriologie für Pharmazeuten und Chemiker seine Lehrtätigkeit fruchtbringend erweitern zu können“ und tatsächlich beflügelte ihn der Austausch mit den an der TH tätigen Chemikern in seiner eigenen Forschung. Zu seinem Arbeitsalltag an seinem Institut im Städt. Krankenhaus gehörten Forschungsarbeiten, die geprägt waren durch gründliches Beobachten, äußerste Sorgfalt und Kritikbereitschaft bei der Abwägung seiner Befunde. Weitere Schwerpunkte seiner Tätigkeit waren Obduktionen, bakteriologische Untersuchungen des Wassers der städtischen Schwimmbäder und auswärtige Aufträge. Daneben bildete Gierke eine Vielzahl von famulierenden Studenten und Assistenten aus und motivierte sie zum wissenschaftlichen Arbeiten. Sie charakterisierten Gierke als im Umgang warmherzigen Menschen, der in der täglichen Arbeit aber zu großer Strenge, ja Bärbeißigkeit neigen konnte. In seiner fast 30-jährigen Tätigkeit als Prosektor am Städt. Krankenhaus etablierte Gierke die pathologische Anatomie und die bakteriologische Forschung in Karlsruhe und sicherte seiner Arbeitsstätte einen weit über Baden hinausreichenden Ruf.
Gierkes Begeisterung für den Sport und sein soziales Engagement zeigten sich in seinem Einsatz für die sportliche Betätigung der Karlsruher Studenten. Er wirkte im Akademischen Ausschuss für Leibesübungen, initiierte die Einführung ärztlicher Untersuchungen für Studenten und war an der Planung des Hochschulstadions beteiligt. Im I. Weltkrieg war er zunächst als Truppenarzt, später als Hygieniker und Armeepathologe eingesetzt. Für seine Verdienste wurde er mit dem EK II und I sowie dem Ritterkreuz II. Klasse mit Eichenlaub und Schwertern ausgezeichnet.
Wie andere sah sich Gierke im Frühjahr 1933 als „Mischling 1. Grades“ Repressionen durch das NS-Regime ausgesetzt. Zunächst konnte er – im Gegensatz etwa zu Hans von Baeyer (vgl. S. 13) in Heidelberg – der Entlassung aus seinen Ämtern jedoch unter Verweis auf seinen Fronteinsatz im I. Weltkrieg entgehen. Der überzeugte Nationalist Gierke war tief erschüttert durch die ihm widerfahrene Diskriminierung. Aus Protest verzichtete er im März 1936 freiwillig auf seine Lehrberechtigung und schied aus dem Lehrkörper der TH Karlsruhe aus. Durch Ministererlass wurde er 1937 von seinen Amtspflichten als Prosektor entbunden und in den Ruhestand versetzt.
Gierke blieb mit seiner Familie in Karlsruhe und setzte seine wissenschaftliche Arbeit privat fort. Zwar litt er psychisch und finanziell unter der Arbeitslosigkeit, doch war er keinen weiteren Repressionen des Regimes ausgesetzt. Trotz seiner „nicht-arischen“ Abstammung und einer Herzerkrankung wurde er zwischen 1939 und 1944 noch zweimal für mehrere Monate zur Leitung der Karlsruher Prosektur herangezogen, da sein Nachfolger zum Kriegsdienst eingezogen worden war. Dies bedurfte einer Sondergenehmigung des Reichsministers des Innern und erfolgte unter der Auflage, dass Gierke nicht zur persönlichen Krankenbehandlung herangezogen werden dürfe. Trotz dieser für einen Arzt demütigenden Bedingungen erfüllte er diese Aufgabe pflichtbewusst. Im Oktober 1945 erlag Gierke seinem Herzleiden.
Seine wissenschaftliche Arbeit galt vor allem der Erforschung von Knochentumoren und der Glykogenspeicherkrankheit, einer Gruppe von ererbten Stoffwechselstörungen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass die Synthese bzw. der Abbau von Glykogen im Organismus beeinträchtigt ist. Nach ihm als Erstbeschreiber ist sie als „von Gierkesche Krankheit“ in die Literatur eingegangen. Darüber hinaus arbeitete er auf dem Gebiet der Physiologie und der Pathologie der inneren Sekretion. Sein Standardwerk zur pathologischen Anatomie ließ ihn über sein Fachgebiet hinaus große Bekanntheit erringen. Seit 1968 trägt eine Karlsruher Straße seinen Namen.
Quellen: GLA Karlsruhe 235/1987; UA Heidelberg, Studentenakte Edgar von Gierke (1880–1899); mündliche Mitteilung von Dr. Heinrich Paul Mühlmann, Dorsten, u. Hildegard von Gierke, Karlsruhe.
Werke: Auswahl: Ueber Knochentumoren mit Schilddrüsenbau, in: Virchows Archiv 170, 1902, 464 –501; Grundriss d. Sektionstechnik, 1912; Über die Strumatumore d. Knochen u. anderer Organe, in: Frankfurter Zs. für Pathologie, 1942, 276–295; Hepato-Nephromegalia glykogenica (Glykogenspeicherkrankheit d. Leber u. Nieren), in: Beiträge zur patholog. Anatomie, 1929, 497 ff.; Über Speicherungen u. Speicherungserkrankungen, in: Medizin. Chronik, 1931, 276 ff; Taschenbuch d. patholog. Anatomie, 15. Aufl., 1943.
Nachweis: Bildnachweise: UA Karlsruhe 27055/37, 69, 101; Stumpf, Städt. Krankenanstalten, 1963, 150 u. 179 (vgl. Literatur).

Literatur: Edgar Gierke, in: Philipp Stauff (Hg.), Semi-Kürschner oder literarisches Lexikon d. Schriftsteller, Dichter, Bankiers, Geldleute, Ärzte, Schauspieler, Künstler, Musiker, Offiziere, Rechtsanwälte, Revolutionäre, Frauenrechtlerinnen, Sozialdemokraten usw. jüdischer Rasse u. Versippung, die von 1813–1913 in Deutschland tätig oder bekannt waren, 1913, 120; Edgar Gierke, in: Isidor Fischer (Hg.), Biograph. Lexikon d. hervorragenden Ärzte d. letzten fünfzig Jahre, 1932–1933, 32; Edgar Gierke in: Herrmann A. L. Degener (Hg.), Wer ist’s, 1935. Zeitgenossenlexikon X, 1935, 491 f.; Richard Böhmig, Edgar Gierke, Sonderdruck aus: Verhandlungen d. Dt. Gesellschaft für Pathologie 34. Tagung in Wiesbaden vom 20. – 23. April 1950, 1950; Edgar Gierke, in: NDB 6, 1964, 373; Ludwig Stumpf, Städt. Krankenanstalten Karlsruhe. Die Geschichte d. Städt. Krankenanstalten Karlsruhe, hgg. aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Krankenhauses Moltkestraße 14, 1963, 149–152 u. 178 ff.; Edgar Gierke, in: Günter Diercksen, Aus d. Chronik d. Ärzteschaft Karlsruhe: 1715–1977, 1978, 123 ff.; Klaus-Peter Hoepke, Hochschullehrer Biographien, in: Heinz Schmitt (Hg.), Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur NS-Machtergreifung, 21990, 439–450; Edgar Gierke, in: Dt. biographische Enzyklopädie online. DBE, 2006, Dok-ID 3–4818.
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