Böhmer, Gunter 

Geburtsdatum/-ort: 13.04.1911; Dresden
Sterbedatum/-ort: 08.01.1986; Montagnola, Kt. Tessin, CH
Beruf/Funktion:
  • Maler, Zeichner und Illustrator
Kurzbiografie:

19211930 Annen-Gymnasium in Dresden bis Abitur

19301931 Studium d. Malerei und Grafik an der Akademie sowie Studium der Germanistik an der Technischen Hochschule, beide in Dresden; erste Parisreise

19311933 Studium an der Kunstakademie Berlin bei Emil Orlik und Hans Meid; Begegnung mit Max Slevogt

1933 Einladung Hermann Hesses nach Montagnola und Einzug in die Casa Camuzzi, bis zum Tod Böhmers Hauptwohnsitz; Beginn des illustrativen Schaffens

19341936 Studienaufenthalte in Rom, Arezzo, Florenz, Verona und Venedig

1936 Teilnahme an der Biennale Venedig

19391945 Illustrationen zu verschiedenen Romanen, u.a. von Hesse und Georg Büchner (1813–1837)

1949 Studienreise mit Hans Purrmann nach Ospedaletti und Ischia

19501958 Illustrationen u.a. zu Werken von Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann und Nikolai Gogol

1951 Bürgerrecht von Montagnola

1960 Berufung an die Staatl. Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, 1961 Ernennung zum Professor

1976 Ausscheiden aus der Stuttgarter Akademie

1993 Gründung der Gunter-Böhmer-Stiftung Calw

Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Auszeichnungen: Ehrungen: Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (1976); Ehrengast der Dt. Akademie Villa Massimo in Rom, Hermann-Hesse-Medaille der Stadt Calw und Ehrenmitglied der Staatl. Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (1980); Verdienstorden 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland (1981); Semper-Medaille der Staatl. Kunstsammlungen Dresden (1982).
Verheiratet:

1945 (Lugano) Ursula, geb. Bächler (1920–1995)


Eltern:

Vater: Hans (1882–1937), Lehrer

Mutter: Emma, geb. Hecht (1890–1977), Hausfrau


Geschwister:

keine


Kinder:

keine

GND-ID: GND/118512609

Biografie: Timo Heiler (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 53-56

Aufgewachsen in einem behüteten und kulturell aufgeschlossenen Elternhaus, entwickelte Böhmer in seiner Heimat Dresden mit ihren Barockbauten und Kunstschätzen sehr früh ein ausgeprägtes Interesse an Kunst und Literatur. Von den Eltern und besonders seinem Gymnasiallehrer Paul Gross wurde er darin gefördert. Auf Gross Einfluss hin gelangte Böhmer nach dem Abitur prüfungsfrei in die Abteilung Graphik und Malerei der Dresdner Akademie.

Zeitgleich begann Böhmer ein Studium der Germanistik an der TH Dresden. Im WS 1931/32 zog er dann nach Berlin und setzte sein Studium an den „Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst“ beim Grafiker Emil Orlik (1870–1932) und nach dessen Tod 1932 in der Klasse von Hans Meid (1883–1957) fort. Sowohl Orliks Radierungen zu den Portraits von Lovis Corinth (1858–1925), Otto Dix (1891–1969), Alfred Döblin (1878–1957) oder Thomas Mann (1875–1955) sowie Meids Radierzyklen zur Illustration zahlreicher Werke der Weltliteratur, etwa Goethes (1749–1832) „Wahlverwandtschaften“, prägten in der Folgezeit das Kunstverständnis Böhmers nachhaltig. Es lag daher nahe, dass sich Böhmer zunächst auf Künstlerspuren bewegte und Schauspielerinnen wie Claire Waldoff (1884–1957) und Künstler wie Theodor Däubler (1876–1934) mit schnellem, oft karikierendem Strich skizzierte. Innerhalb seiner sukzessiven Hinwendung zum expressionistischen Gestus avancierte dabei die Farbe zum emotionalen Ausdrucksträger.

Daneben sammelte Böhmer ab 1930 erste Erfahrungen in der Radiertechnik und schuf eine Vielzahl von Portraits von Bekannten aus seinem näheren Umfeld, wie etwa das seiner schlafenden Mutter. 1931 intensivierte sich seine Beschäftigung mit der Kaltnadelradierung, da den Studenten an der Berliner Kunstakademie gut ausgestattete Werkstätten zur Verfügung standen, in denen sie experimentieren konnten. In dieser Schaffensphase entstanden verschiedene Portraits in neusachlicher Manier, unter anderem von dem Komponisten Justus Wetzel (1879–1973). Mehr als durch die handwerklich-technischen Aspekte fühlte sich Böhmer jedoch von Meids Bilderwelten, von dessen Interesse an Literatur, Theater und Musik angezogen und seiner Fähigkeit, der Erlebnisgewalt des Sinnlichen Ausdruck zu verleihen.

Trotz dieser Leidenschaft für das Graphische drängte es Böhmer bald zur Malerei. In Berlin hatte er zwar wichtige Anregungen erhalten, doch „diese Lehrlingszeit war nahrhaftes, trockenes Brot gewesen und steigerte das Verlangen nach Wasser oder Wein.“ (Böhmer, Meid, 1987, S. 429).

Einen zentralen Einschnitt für Böhmers weiteren persönlichen und künstlerischen Werdegang bedeutete seine Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller Hermann Hesse. Bereits als 15-jähriger war Böhmer auf dessen Artikel „Ein Malabend“ gestoßen, von dem er angesichts der Empfindungen und Erregungen des Autors im Umgang mit Farben und malerischen Eindrücken fasziniert war. Darauf gründete dann seine intensive Beschäftigung mit dem Dichter. Im Mai 1932 trat Böhmer mit Hesse direkt in Kontakt, übersandte ihm einige seiner Graphiken und bot an, von nun an für ihn illustrierend tätig sein zu wollen. Hermann Hesse antwortete umgehend und lud Böhmer zu einem mehrwöchigen Aufenthalt zu sich in die Casa Camuzzi nach Montagnola ein. Böhmer, der in seinen Briefen an Hesse aus seiner Aversion gegen die von ihm in Berlin erlebten politischen Verhältnisse keinen Hehl machte, brach darauf nach nur drei Semestern sein Studium ab und traf am 4. Mai 1933 im Tessin ein. Die Fahrt nach Montagnola, rückblickend oft als eine Reise ohne Rückkehr bezeichnet, markierte zwar auf der einen Seite Böhmers Abwendung vom Terrorregime des „Dritten Reichs“, war zugleich aber vor allem „eine Reise, um anzukommen! Ich fand meinen barocken Traum, ich fand meinen Käfig, ich fand mich selbst.“ (zit. nach Kinkel, Zehn Fragen, 2001, S. 10)

Bereits in den ersten Tagen des gemeinsamen Zusammenlebens entstand eine lebenslang anhaltende Freundschaft und Hesse unterstützte fortan den jungen Künstler, der nach seiner endgültigen Abkehr von Deutschland vom Verkauf seiner Arbeiten leben musste. Auf Vermittlung Hesses vergab dessen Verleger Samuel Fischer (1859–1934) an Böhmer zunächst den Auftrag, Hesses vergriffenes Jugendwerk „Hinterlassene Schriften und Gedichte des Hermann Lauscher“ zu illustrieren. Noch im Oktober 1933 legte der Verlag dieses Frühwerk Hesses neu auf. Böhmer hatte den Umschlag und Einband neu gestaltet, sowie 25 Federzeichnungen zur inhaltlichen Darstellung beigesteuert, womit er den Grundstein legte zu seiner lebenslangen Tätigkeit als Buchillustrator zahlreicher Verlage. Dabei griff er auf seine Erfahrungen zur Buchgestaltung aus der Zeit an den Vereinigten Staatsschulen in Berlin zurück. Seine Lehrmeister Orlik und Meid waren gefragte Buchkünstler und Illustratoren gewesen.

Hesse verschaffte Böhmer weitere Gestaltungsaufträge. Nur kurze Zeit nach der Bearbeitung des „Hermann Lauscher“ illustrierte Böhmer zwei Bilderzyklen Hesses, welche dieser seiner Frau Ninon (1895–1966) sowie seinem Zürcher Mäzen Hans Bodmer (1891–1956) widmete. Die 14 ganzseitigen oder in den Text eingestreuten Federzeichnungen zeigen die realistischen Schauplätze der von Zauber, Witz und dem Wesen Hesses lebenden Erzählung. Motive wie das „Montagsdorf“ oder das „Rote Haus am Schlangenhügel“ konnten von Böhmer nach den ersten Monaten in Montagnola authentisch wiedergegeben werden und verdeutlichten die Gewichtung seines neuen Umfeldes. Auch die besonderen Lichtverhältnisse des Tessin und die Farbintensität der Natur trieben die Arbeiten des Malers voran, begünstigten eine ausgeprägte Produktionsphase: Die Vielzahl der so entstandenen Ölbilder und Aquarelle von Landschaften bezeugen Böhmers ausgeprägte Faszination für die Farben der Landschaft.

In dieser Zeit entstand auch sein Illustrationszyklus zu Hesses Novelle „Klingsors letzter Sommer“. In dem 1920 entstandenen Werk schildert der Dichter in zehn Episoden einen Sommer im Leben des Malers Klingsor, der aus Angst vor dem Tod sich voller Ekstase in das Leben stürzt und in einen wahren Schaffensrausch fällt. Schauplatz ist wieder Montagnola mit vielen Persönlichkeiten aus Hesses Umfeld. Von der Frankfurter Gießerei Bauer beauftragt, ein Illustrationsprojekt nach eigener Wahl zu realisieren, wählte Böhmer jene Novelle, ohne zu ahnen, dass kurz vor der Imprimatur am Beginn des Jahres 1944 bei einem Bombenangriff auf Frankfurt sämtliche Druckplatten zerstört würden. Einige Originalentwürfe und Probedrucke blieben erhalten, so dass im Jahr 2000 eine großformatige Ausgabe mit 34 farbig lavierten Federzeichnungen erscheinen konnte. Darin ist das südliche Ambiente Montagnolas immer wieder Folie für die doppelseitigen szenischen Darstellungen und die darin eingebundenen Figuren. Unaufhörlich umkreiste Böhmer in einem mäandrierenden Weg zwischen Figuration und Abstraktion mit Feder, Pinsel und Farben das motivische Zentrum. Der Umgang mit den Farbtönen korrespondiert mit der Vielfalt der Farben in der Erzählung und setzt das vorherrschende, für Glut und Leidenschaft stehende Rot und leuchtendes Gelb, das an südliches Licht erinnert, immer wieder gezielt ein.

1935 suchte Böhmer den Drucker und Buchkünstler Giovanni Mardersteig (1892–1977) in Verona auf, um seine Kenntnisse in der Schrift- und Buchdruckkunst zu vertiefen. Bei einem Studienaufenthalt in Paris rückten Werke von Paul Cèzanne (1839–1906) und Henri Matisse (1869–1954) in Böhmers künstlerisches Bewusstsein. Nach einem weiteren längeren Aufenthalt in Paris 1938 kehrte er 1939 nach Montagnola zurück. Damals stand Böhmer ganz im Eindruck der politischen Lage in Deutschland und drohender Kriegsgefahr, die sein Weltbild beeinflussten. Sorge verfolgte den Künstler, als deutscher Staatsbürger aus der Schweiz ausgewiesen zu werden, zumal seine finanzielle Situation angespannt war.

Dagegen prägten die Impressionen seiner zahlreichen Studienaufenthalte seit 1935 nachhaltig Böhmers künstlerisches Schaffen, bis über die 1960er Jahre hinaus. Neben Porträts entstanden damals zahlreiche Landschaftsbilder, die selten naturbelassen, oft mit Architekturelementen versetzt sind.

In den 1940er Jahren traten Aquarelle und Gouachen neben die Ölmalerei. Zugleich fanden durch den Kontakt mit dem ebenfalls auf Vermittlung Hesses in der Casa Camuzzi lebenden Maler Hans Purrmann (1880–1966) neue Impulse Eingang in Böhmers. Werk. Die den Kontrast betonende Farbkraft des Fauvismus, für Purrmann das zentrale Erlebnis, bestärkte auch Böhmer, dem einmal eingeschlagenen Weg weiter zu folgen. Anders als Purrmann löste Böhmer aber das Kolorit stärker vom Naturvorbild, verzichtete auf kompakte Farbformen und bevorzugte koloristisch subtil angelegte Flächen. Er schuf seine Werke nicht intuitiv mit leichter Hand: sie waren Ergebnis eines konzentrierten Prozesses intellektueller Durchdringung.

1960 wurde Böhmer an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart berufen, an der er als Nachfolger des Grafikers Karl Rössing (1897–1987) die Leitung der Abteilung für Freie Graphik übernahm. Ein Jahr später wurde er zum Professor ernannt. In dieser Tätigkeit empfand sich Böhmer aber weniger als Lehrer denn als Lernender, den Lernenden als „erstaunter Kollege unter Kollegen“ (Kremer, Erleben, 1987, S. 6). Für seine künstlerischen und kunstpädagogischen Leistungen wurde Böhmer 1976 mit der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg geehrt.

Während der Lehrtätigkeit verschoben sich Böhmers Kunstakzente noch einmal grundlegend, nicht zuletzt im engen Austausch mit seinen Studenten und deren soziopolitisch-künstlerischer Aufbruchstimmung im Zeichen der „68er“. Die Ölmalerei gab Böhmer damals ganz auf; an ihre Stelle traten Blei-, Farbstift- und die aquarellierte Tuschfederzeichnung. Der Mensch bildete den Mittelpunkt seines Spätwerkes, die Landschaftsmalerei und das Stillleben spielten kaum mehr eine nennenswerte Rolle in seinem Oeuvre.

Nach dem Ausscheiden in Stuttgart verbrachte er die zehn letzten Jahre wieder in der Casa Camuzzi in Montagnola, die inzwischen von seiner Ehefrau betreut wurde. Einen längeren Auslandsaufenthalt unternahm er nur noch 1980 als Ehrengast der Villa Massimo in Rom. Neben der darstellenden Kunst betätigte sich Böhmer nun auch als Essayist. Seine stets aus persönlichem Erleben heraus formulierten Beiträge über ihm nahestehende Personen, seine Beobachtungen zu Land und Leuten der Tessiner Region und Überlegungen zu Fragen der Kunst sind oftmals Entdeckungen auch eines „Wortmalers.“ Sein Hauptinteresse aber galt weiterhin dem bildnerischen Ausdruck; trotz seiner Altersgebrechen prägte die künstlerische Betätigung seinen Alltag weiter.

Zeichnerisch verarbeitete er nun Hesses Werke „Unterm Rad“ und „Der Steppenwolf“, Franz Kafkas „Das Schloss“ sowie Robert Walsers Werk „Der Gehülfe“. Am Ende seines Lebens hatte er nahezu 200 Werke und Bücher illustriert, zu den Genannten auch Arbeiten von Gerhart Hauptmann (1862–1946), Alexandre Dumas (1802–1870), William Shakespeare (1564–1616) und Carl Zuckmayer (1896–1977).

Durch Schenkungen gelangte nach dem Tod Böhmers eine größere Anzahl seiner Werke in öffentliche Einrichtungen: an die Stuttgarter Kunstakademie, das Schiller-Nationalmuseum Marbach, an die Städtische Galerie Albstadt und an das Klingspor-Museum in Offenbach. Der Hauptbestand seiner Arbeiten freilich befindet sich in der 1993 gegründeten Gunter- Böhmer -Stiftung in Calw, die sich die Aufarbeitung und Pflege seines Werkes sowie deren Erschließung und Bereitstellung für wissenschaftliche Zwecke zur Aufgabe gemacht hat. Diese umfangreichste Sammlung umfasst über 20 000 Arbeiten, deren Kernstück 551 Zeichnungs- und Skizzenbücher bilden.

Quellen:

Böhmer-Stiftung Calw, Nachlass, Arbeiten auf Papier, Ölgemälde, Aquarelle, Radierungen, Zeichnungs- und Skizzenbücher, Tagebücher, illustrierte Erstausgaben und Dokumente Böhmers.

Werke: Städt. Galerie Albstadt; Städt. Sammlungen Calw; Staatl. Kunstsammlungen Dresden; Dt. LiteraturA Marbach; Staatl. Akademie der Bildenden Künste Stuttgart; Fondazione Ursula & Gunter Böhmer, Gentilino. – Ein Sommer in Paris, 1959; Schriftliches, 1961; Ursula Böhmer und Heiko Rogge (Hgg.), Gunter Böhmer, Hermann Hesse: Dokumente einer Freundschaft, 1987; Eduard Hindelang (Hg.), Das Tagebuch von Gunter Böhmer – Purrmanniana, 2000.
Nachweis: Bildnachweise: Selbstportrait, Bleistift (ca. 1970) S. 35, StadtA Calw Nr. 1022.

Literatur:

Peter Mieg und Hans A. Halbey, Gunter Böhmer, 1963; Juergen Seuss und Ansgar Walk (Hg): Salute, Gunter Böhmer! Das Wagnis des Unbequemen – Erinnerungen an Gunter Böhmer (1911–1986), 1986; Wolfgang Kermer, Gunter Böhmer an der Stuttgarter Kunstakademie, Stuttgart Cantz, 1987; Helmut Herbst (Hg.), Gunter Böhmer – Ölbilder. Aquarelle. Zeichnungen. Edition Hugo Matthaes, 1990; Galerie Schlichtenmaier (Hg.), Gunter Böhmer – 1911 Dresden –1986 Montagnola. Gedächtnisausstellung zum 80. Geburtstag, 1991; Gunter-Böhmer-Stiftung Calw, Erster Einblick, 2001; Gunter-Böhmer-Stiftung Calw, Fasziniert von Licht u. Farbe. Gunter Böhmer als Maler, 2011.

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