Conze, Werner 

Geburtsdatum/-ort: 31.12.1910; Neuhaus/Elbe
Sterbedatum/-ort: 28.04.1986;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Historiker
Kurzbiografie: 1929–1934 Abitur in Leipzig, dann Studium in Marburg, Leipzig u. Königsberg
1934 Promotion an d. phil. Fakultät d. Univ. Königsberg bei Hans Rothfels: „Hirschenhof“
1934–1935 freiwilliger Militärdienst beim Artillerie-Regiment 21 in Königsberg u. Preußisch Eylau
1936 Stipendiat am Preußischen Staatsarchiv
1937–1943 Wiss. Assistent am phil. Seminar d. Univ. Königsberg
1939–1945 Kriegsdienst bei d. 291. Infanterie-Division, zuletzt als Hauptmann an d. Ostfront
1940 Habilitation an d. phil. Fakultät d. Univ. Wien: „Agrarverfassung u. Bevölkerung in Litauen u. Weißrussland“
1943–1945 Extraordinariat an d. Reichsuniversität Posen, wg. Kriegsdienst nur nominell
1946 Lehrauftrag an d. Univ. Göttingen
1951 Professur an d. Univ. Münster
1957 o. Professor für Neuere Geschichte an d. Univ. Heidelberg
1969–1970 Rektor d. Univ. Heidelberg
1972–1976 Vorsitzender d. Verbands d. Historiker Deutschlands
1979 Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Korrespond. Mitglied d. Rheinisch-Westfälischen Akademie d. Wissenschaften (1957); ordentl. Mitglied d. Heidelberger Akademie d. Wissenschaften (1962), korrespond. Mitglied d. Bayer. Akademie d. Wissenschaften (1970); Großes Verdienstkreuz d. Bundesrepublik Deutschland (1976)
Verheiratet: 1936 (Hannover) Gisela, geb. Pohlmann (1914–2005)
Eltern: Vater: Hans (1879–1942), Richter
Mutter: Charlotte, geb. Thoemer (1884–1968)
Geschwister: 3; Ilse, verh. Scharnweber (geboren 1912), Margarete, verh. von Soden (geboren 1914), u. Gisela, verh. Leuschner (geboren 1915)
Kinder: 5;
Reingart (geboren 1937),
Jürgen (geboren 1939),
Ortrun (geboren 1944),
Hans (1949–1955),
Albrecht (geboren 1954)
GND-ID: GND/118521993

Biografie: Jan Eike Dunkhase (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 57-59

Conze wuchs in Neuhaus an der Elbe, Halberstadt, Naumburg an der Saale, Berlin und Leipzig als Sohn einer norddeutsch-protestantischen Bildungsbürgerfamilie heran. Sein Großvater Alexander Conze, Professor für klassische Archäologie und Leiter des Kaiserlich-Deutschen Archäologischen Instituts, brachte den berühmten Pergamon-Altar nach Berlin; sein Vater war u.a. Ministerialrat im Preußischen Justizministerium und seit 1924 Richter am Reichsgericht in Leipzig. Kindheit und Jugend waren dementsprechend behütet, wenngleich überschattet von materiellen Engpässen aufgrund von Weltkrieg und Wirtschaftskrisen und der politischen Unruhe der Weimarer Zeit.
Nach dem Abitur an der humanistischen Nikolaischule in Leipzig begann Conze 1929 in Marburg das Studium der Kunstgeschichte, wechselte aber bereits nach einem Semester zur Geschichtswissenschaft. Nach drei Semestern in Leipzig, wo er als Hörer Hans Freyers (1887–1969) frühzeitig an die Soziologie herangeführt wurde, studierte er in Königsberg, wo er zusätzlich Slawistik belegte. Bereits zu Beginn seines Studiums schloss Conze sich der bündischen Jugendbewegung an, wodurch er frühzeitig in Berührung mit völkischer Ideologie kam. Prägende Lehrerfiguren waren der Historiker Hans Rothfels und später der Bevölkerungssoziologe Gunther Ipsen (1899–1984). 1934 wurde Conze von Rothfels in Königsberg mit einer Studie zur deutschen Sprachinsel Hirschenhof in Livland promoviert. Die Hauptstadt Ostpreußens wurde ihm zu einer Wahlheimat; hier lernte er auch seine spätere Ehefrau, eine Lehrertochter, kennen.
Nach seinem freiwilligen einjährigen Dienstjahr beim Heer und der Vertreibung seines ‚nichtarischen‘ Lehrers Rothfels aus dem Amt begann Conze zuerst als Stipendiat am Preußischen Staatsarchiv, dann als Assistent Ipsens in Königsberg an seiner Habilitationsschrift „Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrussland“ zu arbeiten. Den wissenschaftlichen Kontext seiner damaligen Forschungen bildete die revisionistisch ausgerichtete volksgeschichtliche Ostforschung der 1930er-Jahre.
Bereits im Mai 1933 wurde Conze Mitglied der SA, nach Aufhebung der Mitgliedersperre 1937 dann auch der NSDAP. In kleineren Texten zu agrar- und bevölkerungssoziologischen Fragen Ostmitteleuropas brachte er wiederholt eine affirmative Haltung zum NS-Regime zum Ausdruck und äußerte sich auch antisemitisch. Nach seiner Habilitation 1940 in Wien folgte er 1943 dem Ruf auf eine Professur für Agrar- und Siedlungsgeschichte an der neu gegründeten Reichsuniversität Posen. Von einem dreiwöchigen Lehraufenthalt abgesehen, konnte er dort jedoch nicht tätig werden, da er fast den gesamten Krieg über als Offizier an der Front diente. Nach anfänglichem Einsatz in Frankreich nahm die 291. Infanteriedivision, der Conze als Artillerie-Verbindungsoffizier zugeordnet war, ab 1941 am Vormarsch der Wehrmacht im Baltikum und danach an der Belagerung Leningrads teil. Im August 1944 erlitt Conze bei Rückzugskämpfen gegen die Rote Armee im Weichsel-Bogen eine schwere Beinverletzung. Nach Lazarettaufenthalten, Rückkehr an die Front und kurzer russischer Gefangenschaft gelangte er im Juli 1945 nach Niedersachsen, wo er seine inzwischen aus Königsberg geflüchtete Familie wiedertraf.
Der schwierige Neuanfang im westlichen Nachkriegsdeutschland wurde durch alte kollegiale und freundschaftliche Verbindungen erleichtert. Nach materiell prekären Jahren als Lehrbeauftragter in Göttingen fasste Conze ab 1951 an der Universität Münster Fuß, wo er schrittweise wieder professorale Stellungen erreichte und sich mit seiner sozialgeschichtlichen Neuausrichtung einen Namen machte. Als Historiker, Wissenschaftsorganisator und Hochschullehrer vollends zur Entfaltung gelangte Conze an der Universität Heidelberg, wo er 1957 eine ordentliche Professur für Neuere Geschichte antrat. Hier gründete er noch im selben Jahr das „Institut für Sozialgeschichte der Gegenwart“, 1958 umbenannt in „Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, und den „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“, ein einzigartiges Diskussionsforum für sozialhistorisch interessierte Wissenschaftler in der Bundesrepublik. Conze trieb den Ausbau des Historischen Seminars voran und wirkte an der Einrichtung des Südasien-Instituts mit, dessen Geschäftsführender Direktor er 1962 wurde. Als gefragte Lehrerfigur betreute Conze in Heidelberg mehr als 50 Dissertationen und begleitete elf Historiker auf dem Weg zur Habilitation, darunter so bedeutende Fachvertreter wie Reinhart Koselleck, Dieter Groh, Wolfgang Schieder und Hans Mommsen. Trotz Rufen auf Lehrstühle in Bonn und München blieb er der Heidelberger Universität treu. 1969/70 überführte er die Hochschule als Rektor in ihre neue Verfassung, wodurch er – trotz seiner reformistischen Ausrichtung – zu einer Zielscheibe des studentischen Protests im Rahmen der „68er-Bewegung“ wurde.
In den 1970er-Jahren machte sich Conze, der von 1972 bis 1976 als Vorsitzender des westdeutschen Historikerverbandes fungierte, für die gesellschaftliche Stellung seines Fachs stark und engagierte sich für den internationalen Wissenschaftsaustausch, nicht zuletzt mit den Ostblockstaaten. In der breiteren Öffentlichkeit war er zudem mit geschichtspolitischen Interventionen, vor allem zur „deutschen Frage“ im Ost-West-Konflikt, präsent. Bei seiner Emeritierung im Jahr 1979 gehörte er zu den im In- und Ausland angesehensten Historikern der Bundesrepublik.
Conzes wissenschaftliches Lebenswerk zeichnet sich durch eine beachtliche thematische Breite aus, die außer in seinen Monographien vor allem in zahlreichen Aufsätzen sichtbar wird. Er setzte Akzente mit Arbeiten zur deutschen Geschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert, zur Geschichte Ostmitteleuropas, zur Problematik der Nation und zur Historiographiegeschichte. Seine wissenschaftshistorische Bedeutung liegt in der Etablierung der Sozialgeschichte innerhalb der Bundesrepublikanischen Historie, die er seit den frühen 1950er-Jahren durch Modifizierung und Weiterentwicklung seiner frühen volksgeschichtlichen Ansätze der 1930er-Jahre vorantrieb. Der thematische Wechsel von der Agrargeschichte zur bis dahin marginalisierten Geschichte der Arbeiterbewegung ging dabei mit einer methodischen Neuorientierung einher. Mit seiner „Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters“ (1956) wies Conze dem traditionell auf Personen, Ideen und Ereignisse konzentrierten und gegenüber soziologischen Perspektiven resistenten Fach einen Horizont, der für die damalige Zeit durchaus innovativ war.
Während Conzes „integrale Sozialgeschichte“ (W. Schieder) ab Ende der 1960er-Jahre gegenüber der im Aufschwung begriffenen Historischen Sozialwissenschaft von Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka u.a. diskursiv zunehmend ins Hintertreffen geriet, eroberte sich die von ihm wesentlich mit in Gang gebrachte Begriffsgeschichte einen bleibenden Rang in den Annalen der deutschen und internationalen Geschichtswissenschaft. Sie stand in unauflösbarem Zusammenhang mit der Vorstellung einer fundamentalen historischen Zeitenwende um 1800, wie Conze sie im Rahmen seines strukturgeschichtlichen Ansatzes entwickelt hatte. Obwohl Reinhart Koselleck als der theoretische Kopf des in diesem Kontext entstandenen Lexikons „Geschichtliche Grundbegriffe“ anzusehen ist, wäre dieses doch ohne das konzeptionelle wie organisatorische Engagement und die zahlreichen Beiträge Conzes wohl nie entstanden. In den 1970er-Jahren gewann er durch Forschungsinitiativen zur Lage der Arbeiter- und Handwerkerschaft, zur neuzeitlichen Familie sowie zum Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert der Sozialgeschichte wiederum neue Dimensionen hinzu, wenngleich er sich inzwischen veranlasst sah, die ‚Zunft‘ vor einem sozialgeschichtlichen Überhang zu warnen.
Postum erfuhr Conze durch die Debatte um die deutschen Historiker im Nationalsozialismus, die auf dem Frankfurter Historikertag 1998 ihren Höhepunkt erreichte, erneut breite Aufmerksamkeit. In der Tat werfen die in diesem Kontext erstmals ausführlich thematisierten regimenahen Aktivitäten Conzes im „Dritten Reich“ einen beträchtlichen Schatten auf sein Lebenswerk. Dieser hat durch die Untersuchung der unzureichenden Auseinandersetzung des Historikers mit seiner eigenen Vergangenheit, seiner tendenziell apologetischen zeitgeschichtlichen Stellungnahmen und seiner Überblendung der NS-Menschheitsverbrechen durch die deutsche Leidensgeschichte nach 1945 noch zugenommen. Seine Biographie ist insofern paradigmatisch für die durch die historischen Hypotheken der NS-Zeit belastete Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik.
Als Conze im April 1986 einer als Spätfolge seiner Kriegsverletzung eingetretenen Lungenembolie erlag, war man von einer derart zwiespältigen Lebensbilanz noch weit entfernt. Der Historiker genoss vor seinem Tod „Würde und Anerkennung jenseits der Streitfronten, im Fach und weit darüber hinaus; eine im Grunde unbestrittene, durch Ehrungen öffentlich dokumentierte Reputation“ (J. Kocka).
Quellen: UA Heidelberg Rep. 101, Nachlass Conze, Werner.
Werke: Schriftenverzeichnis in: Gesellschaft – Staat – Nation. Gesammelte Aufsätze, hgg. v. U. Engelhardt, R. Koselleck u. W. Schieder, 1992, 487ff. – Auswahl: Hirschenhof, 1934; Agrarverfassung u. Bevölkerung in Litauen u. Weißrußland, 1940; Leibniz als Historiker, 1951; Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtl. Voraussetzungen des Sozialismus in Deutschland, in: VjS für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 41, 1954, 333ff.; Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung u. Unterricht, 1957; Polnische Nation u. deutsche Politik im I. Weltkrieg, 1958; Staat u. Gesellschaft in d. frührevolutionären Epoche Deutschlands, in: HZ 186, 1958, 1ff.; Tag d. dt. Einheit, 1959; Die dt. Parteien in d. Staatsverfassung vor 1933, in: E. Matthias u. R. Morsey (Hgg.), Das Ende d. Parteien, 1960, 3ff.; Das Spannungsfeld von Staat u. Gesellschaft im Vormärz, in: Werner Conze (Hg.), Staat u. Gesellschaft im dt. Vormärz, 1962, 207ff.; Die dt. Nation, 1963; Nation u. Gesellschaft, in: HZ 198, 1ff. u. 39ff.; Brünings Politik unter dem Druck d. großen Krise, in: HZ 199, 1964, 529ff.; (mit D. Groh) Die Arbeiterbewegung in d. nationalen Bewegung, 1966; Jakob Kaiser, 1969; (Mithg.) Geschichtliche Grundbegriffe, 1972ff.; (Mithg.) Sozialgeschichte d. Familie in d. Neuzeit Europas, 1976; Die dt. Geschichtswissenschaft seit 1945, in: HZ 225, 1977, 1ff.; (Mithg.) Arbeiter im Industrialisierungsprozess, 1979; (Mithg.) Bildungsbürgertum im 19. Jh., Bd. I, 1985; Evolution u. Geschichte, in: HZ 242, 1986, 1ff.; Ostmitteleuropa, 1992.
Nachweis: Bildnachweise: UA Heidelberg, Bildersammlung; BildA Preuß. Kulturbesitz Berlin, 2 Fotos von Hanns Hubmann.

Literatur: Festschriften: U. Engelhardt, V. Sellin u. H. Stuke (Hgg.), Soziale Bewegung u. politische Verfassung, 1976; W. Schieder u. V. Sellin (Hgg.), Sozialgeschichte in Deutschland, 1986/87 (4 Bde.). – Auswahl: J. Kocka, Werner Conze u. die Sozialgeschichte in d. Bundesrepublik Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht 37, 1986, 595ff.; W. Zorn, Werner Conze zum Gedächtnis, in: VjS für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 73, 1986, 153ff.; R. Koselleck, Werner Conze. Tradition u. Innovation, in: HZ 245, 1987, 529ff.; W. Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie u. Geschichte. Das wiss. Lebenswerk Werner Conzes, in: Geschichte u. Gesellschaft 13, 1987, 244ff.; U. Engelhardt, Einleitung, in: Werner Conze, Gesellschaft – Staat – Nation, 1992, 11ff.; K. Zernack, Nachwort. Werner Conze als Osteuropaforscher, in: Werner Conze, Ostmitteleuropa, 1992, 238ff.; I. Veit-Brause, Werner Conze (1910–1986): The Measure of History and the Historian’s Measures, in: H. Lehmann/J. Van Horn Melton (Hgg.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, 1994, 299 ff.; G. Aly, T. Schieder, Werner Conze oder die Vorstufen d. physischen Vernichtung, in: W. Schulze/O. G. Oexle (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, 1999, 163ff.; T. Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze u. die Neuorientierung d. westdt. Geschichtswissenschaft, 2001; M. Wauker, ‚Volksgeschichte‘ als moderne Sozialgeschichte? Werner Conze u. die dt. Ostforschung, in: Zs. für Ostforschung 52, 2003, 83ff.; J. E. Dunkhase, Werner Conze. Ein dt. Historiker im 20. Jh., 2010.
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